Kernkraft: Fukushima auch in Deutschland?
Der Reaktorunfall von Fukushima war nicht nur eine Katastrophe für die Japaner, er hatte auch einschneidende Auswirkungen auf die deutsche Politik. Unter der Einwirkung der Hiobsbotschaften aus Japan beschloss der Bundestag am 30. Juni den sukzessiven Ausstieg aus der Atomenergie bis 2022. Kein anderes Land der Welt beabsichtigt derartige Maßnahmen. Doch auf welcher wissenschaftlichen Basis beruht der Beschluss? Vier Experten für Reaktorsicherheit analysieren, wie es zur Katastrophe kam und inwiefern sich die Ereignisse von Fukushima in Deutschland wiederholen könnten.
Am Freitag, den 11. März 2011, ereignete sich in Japan eine Naturkatastrophe von bisher dort unbekanntem Ausmaß. Um 14.46 Uhr Ortszeit, 6.46 Uhr unserer Zeit, erschütterte ein gewaltiges Seebeben, dessen Epizentrum im Pazifischen Ozean etwa 150 Kilometer östlich der Stadt Sendai lag, die nahe gelegene Küstenregion. Die Kombination von Beben und Flutwelle forderte eine große Anzahl von Menschenleben und richtete schwerste Verwüstungen in Ortschaften, Infrastruktur und Umwelt an. Mindestens 23 000 Menschen starben oder werden vermisst.
Im unmittelbaren Einwirkungsbereich dieser Naturkatastrophe liegen mit Onagawa, Fukushima-Daiichi, Fukushima-Daini und Tokai die Standorte von vier Kernkraftwerken. Am schwersten betroffen war der Standort Fukushima-Daiichi. Die Anlage liegt etwa 60 Kilometer südlich von Sendai direkt an der pazifischen Küste, 250 Kilometer nördlich der japanischen Hauptstadt Tokio. Dort betrieb die Tokyo Electric Power Company (Tepco) sechs Siedewasserreaktorblöcke der General-Electric-Bauweise mit einer elektrischen Nettoleistung von insgesamt 4547 Megawatt elektrisch (MWe). Zusammen mit dem Nachbarstandort Fukushima-Daini mit nochmals viermal 1100 MWe bildete der Komplex das größte Kernkraftwerk der Welt.
Innerhalb einer Stunde nach dem Erdbeben erreichte die Tsunamiwelle zunächst Onagawa. Dieser Standort liegt aber ausreichend hoch über dem Meeresspiegel. Danach traf die Flutwelle Fukushima-Daiichi mit einer Höhe von hier noch über 14 Metern. Die dortigen Anlagen sind mit einem lediglich 5,7 Meter hohen Betonwall gegen Taifune geschützt. Das Kraftwerksgelände selbst befindet sich auf zehn Meter Höhe über dem Meeresspiegel und wurde innerhalb von drei Minuten um bis zu vier Meter überflutet, was die Kraftwerkseinrichtungen schwer beschädigte. Die Kühlpumpen wurden weggerissen oder zerstört und die Gebäudetüren der Maschinenhäuser eingedrückt.
In der Folge liefen zunächst die Notkühlpumpen, die durch Nachwärmedampf angetrieben wurden. Die Pumpen saugten ihr Wasser aus den für solche Zwecke vorgesehenen Wasservorräten aus den ringförmigen »Kondensationskammern« an und förderten es in die Reaktoren. Nach einigen Stunden versagten sie ihren Dienst, da die Batterien zum Ansteuern der Hilfseinrichtungen der Antriebsturbinen erschöpft waren beziehungsweise das Temperatur- und Druckgefälle für diese Antriebsturbinen nicht mehr ausreichte. Die Füllstände in den Reaktoren begannen zu sinken, die Brennelemente wurden freigelegt.
Der Ablauf des Desasters war grundsätzlich bekannt und im Detail beschrieben
Der weitere Ablauf des Unfalls ließ sich nicht direkt beobachten, vor allem da mangels Strom auch fast alle Messgeräte ausgefallen waren. Der Verlauf ist jedoch aus Risikostudien grundsätzlich bekannt und für den Zeitraum bis Mitte April von einigen von uns (Kuczera, Mohrbach) detailliert beschrieben: Nach diesen Szenarien heizt sich zuerst der Reaktorkern auf, danach platzen oberhalb von rund 900 Grad Celsius die Hüllrohre der Brennstäbe. Dabei gelangen gasförmige – vor allem Xenon und Krypton – sowie leichtflüchtige Anteile der Spaltprodukte wie Jod, Strontium oder Zäsium ins Kühlwasser. Oberhalb von rund 1300 Grad Celsius reagiert das Hüllrohrmaterial Zirkalloy der Brennstäbe – eine Zirkoniumlegierung – in einer exothermen, also Wärme freisetzenden Reaktion mit dem Wasserdampf zu Zirkonoxid. Dabei entsteht Wasserstoff. Ab 2850 Grad Celsius beginnt das Urandioxid der Brennstoffpellets zu schmelzen. Im Bereich von Stunden verlagerten sich die Schmelzen zunächst auf die Böden der Reaktordruckbehälter, wo sie wahrscheinlich zumindest teilweise die dortigen Steuerstabstutzen-Schweißnähte aufgeschmolzen haben und damit einen Weg in die Reaktorgruben fanden. Über die Gasräume der Kondensationskammern gelangten die gasförmigen und kleinen Teile der leichtflüchtigen Spaltprodukte in die Sicherheitsbehälter.
In der Folge kam es zu den spektakulären Wasserstoffexplosionen mit Zerstörung der Reaktorgebäudestrukturen der Blöcke 1, 3 und 4. Zugleich wurden unkontrolliert radioaktive Stoffe in die Umgebung abgegeben. Auf Grund der kumulierten Freisetzungsmenge hat die japanische Sicherheitsbehörde auf der International Nuclear Event Scale INES der International Atomic Energy Agency (IAEA) den Vorfall in die höchste Kategorie 7 ("katastrophaler Unfall") eingestuft. Insgesamt wurden einige 10 000 Terabequerel Jod-Äquivalent an Radioaktivität freigesetzt, rund ein Zehntel der Menge der Tschernobyl-Katastrophe von 1986.
Bezüglich der Strahlenbelastung bedeutet dies, dass beim Unfall in Fukushima hauptsächlich Jod und Zäsium in der Größenordnung von einigen Prozent des Gesamtinventars der Anlage in die Umgebung gelangten. Hierbei wurden diese Radionuklide vom Wind vor allem zunächst nach Osten und später kurzzeitig auch nach Nordwesten weggetragen. Simulationsmodelle, die durch Messungen bestätigt wurden, zeigen über Land die höchsten Kontaminationen im Nordwesten bis in eine Entfernung von etwa 30 Kilometern.
Dekontaminierung des radioaktiv verseuchten Wassers
Nachdem anfänglich Jod-131 (mit einer Halbwertszeit von acht Tagen) die Bevölkerung am stärksten belastet hat, sind dies seit Mai die Zäsiumisotope 134 und 137, die mit Halbwertszeiten von etwa 2 und 30 Jahren deutlich langlebiger und damit weniger aktiv sind als Jod-131. Der Betreiber hat einen ausführlichen Plan für die Sicherung des Kraftwerks und aller Anlagen vorgelegt. Mit Stand Mai 2011 sind als vordringliche Maßnahmen die Sicherstellung der langfristigen Kern- beziehungsweise Schmelzekühlung definiert, auch durch die teilweise Flutung der Sicherheitsbehälter mit Wasser oder durch Einleitung von weiterem Stickstoff. Mittelfristig sollen die bestehenden Kühlsysteme zur langfristigen Abfuhr der Nachwärme wieder aktiviert oder durch neue ersetzt werden, um zur Kreislaufkühlung übergehen zu können. Diese verhindert weitere Freisetzungen und ermöglicht, den Salzgehalt in den Reaktoren (sie wurden zeitweise über externe Mobilpumpen mit Meerwasser gekühlt) und damit die Korrosionsgefahr zu verringern.
Grundsätzlich versuchen die Ingenieure der Betreiberfirmen die Messinstrumente der Anlagen wieder in Gang zu setzen oder zu ersetzen. Ein wichtiger Punkt ist die Absicherung der zerstörten Reaktorgebäude gegen weitere Erdstöße. Dies gilt vor allem für das Brennelement-Abklingbecken von Block 4, das zeitweise – wie auch die Lagerbecken von Block 1 und 3 – über Betonpumpen mit Auslegern von 55 bis 70 Meter Höhe wieder aufgefüllt wurde.
Unklare Ursache
Weiterhin unklar ist die Ursache für die Explosion in Block 4. Zunächst befürchteten die Experten, die Brennelemente seien zumindest im Lagerbecken von Block 4 durch Wasserverlust zerstört worden. Das erscheint inzwischen wieder unwahrscheinlich, denn Fotos zeigen die intakten Lagergestelle mit sichtbaren Brennelementköpfen.
Mittel- bis langfristig plant Tepco jetzt, die Trümmer am Standort zu beseitigen. Außerdem sollen der Boden sowie das kontaminierte Wasser in den Gebäudekellern und den Leitungsschächten dekontaminiert werden. Schließlich gilt es, die Reaktor- und Maschinengebäude wieder zugänglich zu machen.
Wie gut seine Kernkraftwerke etwa gegen Erdbeben und Überflutungen durch Tsunamis gesichert sein müssen, legte Japan in den 1960er Jahren fest. In dieser Zeit begann auch der Bau des Kernkraftwerks Fukushima. Während der Schutz der Anlage vor Erdbeben stets großzügig ausgelegt und im Lauf der Jahre neuen Erkenntnissen angepasst wurde, hatte man in Bezug auf Tsunamis die Standorte nur gegen die jeweils bekannte historische maximale Wellenhöhe mit einer geringen, nicht systematisch festgesetzten Reserve geschützt. Abschätzungen, welche Wellenhöhen realistischerweise auftreten könnten ("probabilistischer Ansatz"), haben bis zum Fukushima-Ereignis keinen Eingang in die behördliche Aufsichtspraxis und damit die Sicherheitsgestaltung der Anlagen gefunden.
Die Kernkraftwerke in Fukushima weichen auch im Detail von der sicherheitstechnischen Auslegung deutscher Kernkraftwerke ab: zum Beispiel bei der Anzahl der redundant (mehrfach) und diversitär (mit unterschiedlicher Technik) gestalteten Systeme zur Nachwärmeabfuhr und Notkühlung sowie der Notstromsysteme. So waren in Fukushima-Daiichi jeweils nur zwei Notstromdieselaggregate pro Block und ein 13. als Reserve für den gesamten Standort vorhanden. In Deutschland gibt es dagegen pro Block in der Regel vier Notstromdiesel plus mindestens zwei (bis zu vier) weitere diversitäre Systeme. In Deutschland werden die benötigten Treibstoffvorräte zudem zusammen mit den Notstromsystemen in verbunkerten Gebäuden untergebracht. Die Dieselmotoren können somit autark betrieben werden.
Für den Fall von – auch erdbebenbedingten – Störungen der Stromversorgung, bei denen keine Grenzwerte für das Auslösen der Reaktor-Schnellabschaltung erreicht werden, verfügen alle deutschen Anlagen als Besonderheit über Einrichtungen zum automatischen "Abfahren auf Eigenbedarf". Das heißt, sie können sich über einen extrem langen Zeitraum (theoretisch solange der Kernbrennstoff reicht) selbst mit Strom versorgen.
In Fukushima wurden die Notfallmaßnahmen zu spät eingeleitet
In Kernkraftwerken sind zusätzliche Maßnahmen für Notfälle vorgesehen, wenn der so genannte Auslegungsfall überschritten wird. Um in so einem Fall die Kernschmelze zu vermeiden, soll etwa über mobile Pumpen Notkühlwasser in den Reaktor eingespeist werden. Generell sind aber Kriterien für einen rechtzeitigen Beginn solcher Maßnahmen definiert. Diese sind in Notfallplänen beschrieben und von der Mannschaft geübt. In Fukushima erfolgte die Einleitung der Notfallmaßnahmen jedoch zu spät.
Nochmals die Frage: Warum gab es eine Explosion in Block 4, obwohl doch dessen Reaktor zum Unfallzeitpunkt entladen war? Nach neueren Angaben des Betreibers ist offenbar über gemeinsam genutzte Leitungen aus Block 3 ungeplant Wasserstoff in Block 4 gelangt. Eine solche blockübergreifende Verbindung von Sicherheitssystemen gibt es in vergleichbarer Form in deutschen Anlagen nicht.
Eine der ersten Maßnahmen der japanischen Aufsichtsbehörde nach dem Reaktorunfall bestand darin, für alle japanischen Kernkraftwerke zusätzliche Nachweise zur Beherrschung von Überflutungen zu fordern. Tatsächlich werden derzeit Wasserschutztüren an den sicherheitstechnisch wichtigen Gebäuden nachgerüstet, insbesondere bei Gebäuden, in denen die Notstromdiesel untergebracht sind. Solche Türen hätten in Fukushima-Daiichi die Katastrophe verhindert. Ministerpräsident Naoto Kan hat Ende Mai eingeräumt, dass die Aufsichtsbehörde NISA nicht unabhängig von den Betreibern war, und umfassende organisatorische Gegenmaßnahmen angekündigt.
Gesundheitsschäden durch den Reaktorunfall in Fukushima halten sich zum Glück in Grenzen: So gab es am Kraftwerksstandort Fukushima bisher keine nuklear bedingten Todesfälle, jedoch einen beim Erdbeben ums Leben gekommenen Mitarbeiter (in Daini).
Zwei Menschen ertranken, einer starb an Erschöpfung, etwa 30 wurden verletzt, jedoch traten keine sofortigen und bisher auch praktisch keine Langzeitstrahlenschäden auf. 30 Personen waren maximalen Strahlendosen zwischen 100 und 180 Millisievert ausgesetzt, zwei weitere Arbeiter erhielten bei Aufräumarbeiten Strahlendosen zwischen 180 und 250 Millisievert (Juni 2011). Bei 200 Millisievert erhöht sich das individuelle Langzeitrisiko für Krebs um ein Prozent, das heißt, von 100 Personen mit dieser Dosis wird eine Person zusätzlich langfristig an Krebs erkranken.
Ein großer Tsunami durchschnittlich alle 30 Jahre
Alle betroffenen Kernkraftwerksblöcke an den oben genannten vier japanischen Standorten haben die direkten Bebeneinwirkungen dank deutlicher Sicherheitsreserven in der Konstruktion relativ unbeschadet überstanden. Die Bodenbeschleunigungen übertrafen die angenommenen Höchstwerte maximal um 25 Prozent, und die Schnellabschaltungen und der Notstrombetrieb haben wie vorgesehen funktioniert. Das war jedoch nur der Fall, bis der Tsunami mit einer Überflutungshöhe von rund vier Metern auf dem Kraftwerksgelände eintraf.
Kernkraftwerke in Deutschland sind gegen weit seltenere interne und externe Ereignisse wie das 10 000-jährige Hochwasser (langsam auflaufend) oder das 100 000-jährige Erdbeben für den jeweiligen Standort ausgelegt. Die Anforderungen an die Anlagenauslegungen (etwa die Deichhöhen) sind – im Gegensatz zu Japan – unter Berücksichtigung aller denkbaren Ursachen quantifiziert: Ihre Überschreitung durch extreme Einwirkungen von außen (Naturkatastrophen) oder innen (Komponentenversagen) ist so selten, dass sie dem Restrisikobereich (seltener als einmal in mindestens 100 000 Jahren) zuzuordnen ist. Es gibt somit keinen sicherheitstechnischen Grund, deutsche Kernkraftwerke vorzeitig abzuschalten. Ein Problem stellen jedoch denkbare terroristische Anschläge dar. Die Sicherheitsanalysen hierzu fallen in den Bereich staatlicher Vorsorge.
Im unmittelbaren Einwirkungsbereich dieser Naturkatastrophe liegen mit Onagawa, Fukushima-Daiichi, Fukushima-Daini und Tokai die Standorte von vier Kernkraftwerken. Am schwersten betroffen war der Standort Fukushima-Daiichi. Die Anlage liegt etwa 60 Kilometer südlich von Sendai direkt an der pazifischen Küste, 250 Kilometer nördlich der japanischen Hauptstadt Tokio. Dort betrieb die Tokyo Electric Power Company (Tepco) sechs Siedewasserreaktorblöcke der General-Electric-Bauweise mit einer elektrischen Nettoleistung von insgesamt 4547 Megawatt elektrisch (MWe). Zusammen mit dem Nachbarstandort Fukushima-Daini mit nochmals viermal 1100 MWe bildete der Komplex das größte Kernkraftwerk der Welt.
Zum Zeitpunkt des Erdbebens waren die Blöcke 1 bis 3 in Betrieb, die Blöcke 4 bis 6 dagegen zu Revisionsarbeiten abgeschaltet. Die Brennelemente aus Block 4 waren in das zugehörige Abklingbecken im Reaktorgebäude ausgelagert. Als die Seismometer auf den Kraftwerksgeländen die heftigen Bodenerschütterungen registrierten, wurden in allen insgesamt elf am Netz befindlichen Blöcken dieser vier Standorte automatisch die Schnellabschaltungen ausgelöst. Kurz danach brach, zum Teil auch durch umgestürzte Strommasten, die allgemeine Stromversorgung in vielen Regionen zusammen, darunter auch am Standort Fukushima-Daiichi. In diesem Moment übernahmen planmäßig die Notstromdieselgeneratoren die Stromversorgung der Kühlsysteme zur Nachwärmeabfuhr aus den Reaktoren und den Abklingbecken aller vom Netz getrennten Blöcke. Damit waren alle betroffenen Reaktoren nach dem Erdbeben zunächst in einen stabilen Zustand überführt worden. In Onagawa, nur 90 Kilometer vom Epizentrum entfernt, brach in einem der drei Turbinenräume ein Feuer aus, das allerdings nach einigen Stunden gelöscht werden konnte.
Innerhalb einer Stunde nach dem Erdbeben erreichte die Tsunamiwelle zunächst Onagawa. Dieser Standort liegt aber ausreichend hoch über dem Meeresspiegel. Danach traf die Flutwelle Fukushima-Daiichi mit einer Höhe von hier noch über 14 Metern. Die dortigen Anlagen sind mit einem lediglich 5,7 Meter hohen Betonwall gegen Taifune geschützt. Das Kraftwerksgelände selbst befindet sich auf zehn Meter Höhe über dem Meeresspiegel und wurde innerhalb von drei Minuten um bis zu vier Meter überflutet, was die Kraftwerkseinrichtungen schwer beschädigte. Die Kühlpumpen wurden weggerissen oder zerstört und die Gebäudetüren der Maschinenhäuser eingedrückt.
In Fukushima-Daiichi sind genau dort, also in den Kellern der Maschinenhäuser, die Notstromdiesel eingebaut. 12 der insgesamt 13 Dieselmotoren fielen durch Kurzschluss aus. Dadurch stand für die Blöcke 1 bis 4 auch die Stromversorgung der Notkühlsysteme nicht mehr zur Verfügung – zur Abfuhr der Nachwärme insbesondere aus den Reaktoren 1 bis 3 sowie aus den Lagerbecken 1 bis 4. Eine Stunde nach Abschaltung erreichte die Nachzerfallswärme aus den Brennstäben zwar nur wenige Prozent der betrieblichen Leistung, diese entsprach jedoch noch immer zweistelligen Megawattbeträgen.
In der Folge liefen zunächst die Notkühlpumpen, die durch Nachwärmedampf angetrieben wurden. Die Pumpen saugten ihr Wasser aus den für solche Zwecke vorgesehenen Wasservorräten aus den ringförmigen »Kondensationskammern« an und förderten es in die Reaktoren. Nach einigen Stunden versagten sie ihren Dienst, da die Batterien zum Ansteuern der Hilfseinrichtungen der Antriebsturbinen erschöpft waren beziehungsweise das Temperatur- und Druckgefälle für diese Antriebsturbinen nicht mehr ausreichte. Die Füllstände in den Reaktoren begannen zu sinken, die Brennelemente wurden freigelegt.
Der Ablauf des Desasters war grundsätzlich bekannt und im Detail beschrieben
Der weitere Ablauf des Unfalls ließ sich nicht direkt beobachten, vor allem da mangels Strom auch fast alle Messgeräte ausgefallen waren. Der Verlauf ist jedoch aus Risikostudien grundsätzlich bekannt und für den Zeitraum bis Mitte April von einigen von uns (Kuczera, Mohrbach) detailliert beschrieben: Nach diesen Szenarien heizt sich zuerst der Reaktorkern auf, danach platzen oberhalb von rund 900 Grad Celsius die Hüllrohre der Brennstäbe. Dabei gelangen gasförmige – vor allem Xenon und Krypton – sowie leichtflüchtige Anteile der Spaltprodukte wie Jod, Strontium oder Zäsium ins Kühlwasser. Oberhalb von rund 1300 Grad Celsius reagiert das Hüllrohrmaterial Zirkalloy der Brennstäbe – eine Zirkoniumlegierung – in einer exothermen, also Wärme freisetzenden Reaktion mit dem Wasserdampf zu Zirkonoxid. Dabei entsteht Wasserstoff. Ab 2850 Grad Celsius beginnt das Urandioxid der Brennstoffpellets zu schmelzen. Im Bereich von Stunden verlagerten sich die Schmelzen zunächst auf die Böden der Reaktordruckbehälter, wo sie wahrscheinlich zumindest teilweise die dortigen Steuerstabstutzen-Schweißnähte aufgeschmolzen haben und damit einen Weg in die Reaktorgruben fanden. Über die Gasräume der Kondensationskammern gelangten die gasförmigen und kleinen Teile der leichtflüchtigen Spaltprodukte in die Sicherheitsbehälter.
Die im Normalbetrieb mit reaktionsträgem Stickstoff gefüllten Behälter waren zu diesem Zeitpunkt mit einem Gemisch aus Stickstoff, Dampf und Wasserstoff gefüllt. Um jetzt ein Versagen durch Überdruck zu verhindern, leitete das Betriebspersonal nach Autorisierung durch die Regierung bei fast doppeltem Auslegungsdruck (etwa acht Bar) mehrfach die Druckentlastung der Sicherheitsbehälter ein, das so genannte Containment Venting. Hierzu wurden die Ventile zunächst von Hand und später mit Hilfe von mobilen Kompressoren bewegt. Unklar ist, wie der Wasserstoff sich in den Gebäuden mindestens der Blöcke 1, 3 und 4 ansammeln konnte, anstatt planmäßig gefiltert über die Kamine abgegeben zu werden. Vom Block 2 war eine interne Explosion zu hören. Von der wird angenommen, dass sie den Sicherheitsbehälter beschädigte, so dass radioaktive Stoffe bis in den Maschinenhauskeller gelangen konnten.
In der Folge kam es zu den spektakulären Wasserstoffexplosionen mit Zerstörung der Reaktorgebäudestrukturen der Blöcke 1, 3 und 4. Zugleich wurden unkontrolliert radioaktive Stoffe in die Umgebung abgegeben. Auf Grund der kumulierten Freisetzungsmenge hat die japanische Sicherheitsbehörde auf der International Nuclear Event Scale INES der International Atomic Energy Agency (IAEA) den Vorfall in die höchste Kategorie 7 ("katastrophaler Unfall") eingestuft. Insgesamt wurden einige 10 000 Terabequerel Jod-Äquivalent an Radioaktivität freigesetzt, rund ein Zehntel der Menge der Tschernobyl-Katastrophe von 1986.
Bezüglich der Strahlenbelastung bedeutet dies, dass beim Unfall in Fukushima hauptsächlich Jod und Zäsium in der Größenordnung von einigen Prozent des Gesamtinventars der Anlage in die Umgebung gelangten. Hierbei wurden diese Radionuklide vom Wind vor allem zunächst nach Osten und später kurzzeitig auch nach Nordwesten weggetragen. Simulationsmodelle, die durch Messungen bestätigt wurden, zeigen über Land die höchsten Kontaminationen im Nordwesten bis in eine Entfernung von etwa 30 Kilometern.
Dekontaminierung des radioaktiv verseuchten Wassers
Nachdem anfänglich Jod-131 (mit einer Halbwertszeit von acht Tagen) die Bevölkerung am stärksten belastet hat, sind dies seit Mai die Zäsiumisotope 134 und 137, die mit Halbwertszeiten von etwa 2 und 30 Jahren deutlich langlebiger und damit weniger aktiv sind als Jod-131. Der Betreiber hat einen ausführlichen Plan für die Sicherung des Kraftwerks und aller Anlagen vorgelegt. Mit Stand Mai 2011 sind als vordringliche Maßnahmen die Sicherstellung der langfristigen Kern- beziehungsweise Schmelzekühlung definiert, auch durch die teilweise Flutung der Sicherheitsbehälter mit Wasser oder durch Einleitung von weiterem Stickstoff. Mittelfristig sollen die bestehenden Kühlsysteme zur langfristigen Abfuhr der Nachwärme wieder aktiviert oder durch neue ersetzt werden, um zur Kreislaufkühlung übergehen zu können. Diese verhindert weitere Freisetzungen und ermöglicht, den Salzgehalt in den Reaktoren (sie wurden zeitweise über externe Mobilpumpen mit Meerwasser gekühlt) und damit die Korrosionsgefahr zu verringern.
Voraussetzung für weitere Maßnahmen an den Reaktoren ist die Dekontaminierung der über 100 000 Tonnen Wasser besonders in den Maschinenhäusern, die mit radioaktiven Stoffen belastet sind. Dafür werden hauptsächlich die am Standort befindliche Wasseraufbereitungsanlage und externe, zum Teil schwimmende Tanks eingesetzt. Das gereinigte Wasser wird auch zur Kühlung der Reaktoren verwendet.
Grundsätzlich versuchen die Ingenieure der Betreiberfirmen die Messinstrumente der Anlagen wieder in Gang zu setzen oder zu ersetzen. Ein wichtiger Punkt ist die Absicherung der zerstörten Reaktorgebäude gegen weitere Erdstöße. Dies gilt vor allem für das Brennelement-Abklingbecken von Block 4, das zeitweise – wie auch die Lagerbecken von Block 1 und 3 – über Betonpumpen mit Auslegern von 55 bis 70 Meter Höhe wieder aufgefüllt wurde.
Unklare Ursache
Weiterhin unklar ist die Ursache für die Explosion in Block 4. Zunächst befürchteten die Experten, die Brennelemente seien zumindest im Lagerbecken von Block 4 durch Wasserverlust zerstört worden. Das erscheint inzwischen wieder unwahrscheinlich, denn Fotos zeigen die intakten Lagergestelle mit sichtbaren Brennelementköpfen.
Im Lagerbecken von Block 3 waren zum Unfallzeitpunkt insgesamt 32 bestrahlte Plutoniumbrennelemente vorhanden. Diese unterscheiden sich in radiologischer Hinsicht jedoch nicht wesentlich von Uranbrennelementen.
Mittel- bis langfristig plant Tepco jetzt, die Trümmer am Standort zu beseitigen. Außerdem sollen der Boden sowie das kontaminierte Wasser in den Gebäudekellern und den Leitungsschächten dekontaminiert werden. Schließlich gilt es, die Reaktor- und Maschinengebäude wieder zugänglich zu machen.
Wie gut seine Kernkraftwerke etwa gegen Erdbeben und Überflutungen durch Tsunamis gesichert sein müssen, legte Japan in den 1960er Jahren fest. In dieser Zeit begann auch der Bau des Kernkraftwerks Fukushima. Während der Schutz der Anlage vor Erdbeben stets großzügig ausgelegt und im Lauf der Jahre neuen Erkenntnissen angepasst wurde, hatte man in Bezug auf Tsunamis die Standorte nur gegen die jeweils bekannte historische maximale Wellenhöhe mit einer geringen, nicht systematisch festgesetzten Reserve geschützt. Abschätzungen, welche Wellenhöhen realistischerweise auftreten könnten ("probabilistischer Ansatz"), haben bis zum Fukushima-Ereignis keinen Eingang in die behördliche Aufsichtspraxis und damit die Sicherheitsgestaltung der Anlagen gefunden.
Deutsche Kernkraftwerke sind so ausgelegt, dass sie einem Hochwasser standhalten, wie es statistisch nur alle 10 000 Jahre auftritt, sowie einem Erdbeben einer Stärke, wie es im Mittel lediglich alle 100 000 Jahre vorkommt. Zu den Absicherungen gehören verbunkerte, das heißt gegen alle Einwirkungen von außen wie etwa Überflutungen geschützte Notstromeinrichtungen.
Die Kernkraftwerke in Fukushima weichen auch im Detail von der sicherheitstechnischen Auslegung deutscher Kernkraftwerke ab: zum Beispiel bei der Anzahl der redundant (mehrfach) und diversitär (mit unterschiedlicher Technik) gestalteten Systeme zur Nachwärmeabfuhr und Notkühlung sowie der Notstromsysteme. So waren in Fukushima-Daiichi jeweils nur zwei Notstromdieselaggregate pro Block und ein 13. als Reserve für den gesamten Standort vorhanden. In Deutschland gibt es dagegen pro Block in der Regel vier Notstromdiesel plus mindestens zwei (bis zu vier) weitere diversitäre Systeme. In Deutschland werden die benötigten Treibstoffvorräte zudem zusammen mit den Notstromsystemen in verbunkerten Gebäuden untergebracht. Die Dieselmotoren können somit autark betrieben werden.
Für den Fall von – auch erdbebenbedingten – Störungen der Stromversorgung, bei denen keine Grenzwerte für das Auslösen der Reaktor-Schnellabschaltung erreicht werden, verfügen alle deutschen Anlagen als Besonderheit über Einrichtungen zum automatischen "Abfahren auf Eigenbedarf". Das heißt, sie können sich über einen extrem langen Zeitraum (theoretisch solange der Kernbrennstoff reicht) selbst mit Strom versorgen.
In Fukushima wurden die Notfallmaßnahmen zu spät eingeleitet
In Kernkraftwerken sind zusätzliche Maßnahmen für Notfälle vorgesehen, wenn der so genannte Auslegungsfall überschritten wird. Um in so einem Fall die Kernschmelze zu vermeiden, soll etwa über mobile Pumpen Notkühlwasser in den Reaktor eingespeist werden. Generell sind aber Kriterien für einen rechtzeitigen Beginn solcher Maßnahmen definiert. Diese sind in Notfallplänen beschrieben und von der Mannschaft geübt. In Fukushima erfolgte die Einleitung der Notfallmaßnahmen jedoch zu spät.
Doch was geschieht, falls es dennoch zu einer Kernschmelze kommt? In Fukushima gelangte aus den Sicherheitsbehältern mindestens der Blöcke 1 bis 3 Wasserstoff in die Reaktorgebäude und führte dort zu den starken Explosionen. Möglicherweise haben die Silikongummi-Flanschdichtungen der Sicherheitsbehälterdeckel den Druckanstieg bis fast zum doppelten Wert, für den sie ausgelegt waren, nicht ausgehalten. In diesem Fall hätte nur die rechtzeitige Druckentlastung den Austritt des Wasserstoffs verhindern können. In den deutschen Kernkraftwerken sind im Gegensatz zu Fukushima zuverlässige Systeme für eine gezielte, gefilterte Druckentlastung der Sicherheitsbehälter installiert. Die Filter sind so konstruiert, dass sie über 99,9 Prozent der radioaktiven Aerosole und Partikel zurückhalten. Die gefilterte Abluft wird danach über den Kamin weiträumig verdünnt, so dass Auswirkungen auf die Umgebung minimiert werden. Vergleichbare Einrichtungen in Fukushima haben ihre vorgesehene Funktion aus noch nicht vollständig bekannten Gründen nicht erfüllt.
Nochmals die Frage: Warum gab es eine Explosion in Block 4, obwohl doch dessen Reaktor zum Unfallzeitpunkt entladen war? Nach neueren Angaben des Betreibers ist offenbar über gemeinsam genutzte Leitungen aus Block 3 ungeplant Wasserstoff in Block 4 gelangt. Eine solche blockübergreifende Verbindung von Sicherheitssystemen gibt es in vergleichbarer Form in deutschen Anlagen nicht.
Eine der ersten Maßnahmen der japanischen Aufsichtsbehörde nach dem Reaktorunfall bestand darin, für alle japanischen Kernkraftwerke zusätzliche Nachweise zur Beherrschung von Überflutungen zu fordern. Tatsächlich werden derzeit Wasserschutztüren an den sicherheitstechnisch wichtigen Gebäuden nachgerüstet, insbesondere bei Gebäuden, in denen die Notstromdiesel untergebracht sind. Solche Türen hätten in Fukushima-Daiichi die Katastrophe verhindert. Ministerpräsident Naoto Kan hat Ende Mai eingeräumt, dass die Aufsichtsbehörde NISA nicht unabhängig von den Betreibern war, und umfassende organisatorische Gegenmaßnahmen angekündigt.
Gesundheitsschäden durch den Reaktorunfall in Fukushima halten sich zum Glück in Grenzen: So gab es am Kraftwerksstandort Fukushima bisher keine nuklear bedingten Todesfälle, jedoch einen beim Erdbeben ums Leben gekommenen Mitarbeiter (in Daini).
Zwei Menschen ertranken, einer starb an Erschöpfung, etwa 30 wurden verletzt, jedoch traten keine sofortigen und bisher auch praktisch keine Langzeitstrahlenschäden auf. 30 Personen waren maximalen Strahlendosen zwischen 100 und 180 Millisievert ausgesetzt, zwei weitere Arbeiter erhielten bei Aufräumarbeiten Strahlendosen zwischen 180 und 250 Millisievert (Juni 2011). Bei 200 Millisievert erhöht sich das individuelle Langzeitrisiko für Krebs um ein Prozent, das heißt, von 100 Personen mit dieser Dosis wird eine Person zusätzlich langfristig an Krebs erkranken.
Inzwischen liegen hinreichende Informationen für eine Zwischenbilanz vor. Als der entscheidende Faktor für den Unfall in Fukushima-Daiichi kristallisiert sich heraus, dass die Anlagen schlicht nicht gegen große, aber in Japan immer wieder vorkommende Tsunamis ausgelegt waren. Damit fällt die Katastrophe nicht in den Bereich des anlagentechnischen Restrisikos, sondern betrifft die Gestaltung der Basisauslegung. Diese bot gegenüber durchaus absehbaren Einwirkungen von außen kaum Schutz.
Ein großer Tsunami durchschnittlich alle 30 Jahre
Alle betroffenen Kernkraftwerksblöcke an den oben genannten vier japanischen Standorten haben die direkten Bebeneinwirkungen dank deutlicher Sicherheitsreserven in der Konstruktion relativ unbeschadet überstanden. Die Bodenbeschleunigungen übertrafen die angenommenen Höchstwerte maximal um 25 Prozent, und die Schnellabschaltungen und der Notstrombetrieb haben wie vorgesehen funktioniert. Das war jedoch nur der Fall, bis der Tsunami mit einer Überflutungshöhe von rund vier Metern auf dem Kraftwerksgelände eintraf.
Die Hochwasserauslegung für Fukushima-Daiichi betrug zehn Meter. Im Schnitt trifft alle 30 Jahre ein Tsunami von mindestens zehn Meter Wellenhöhe einen japanischen Küstenabschnitt. Vorsichtige Abschätzungen setzen diesen Wert für Fukushima standortspezifisch bei 100 bis 1000 Jahren an. Tsunamis dieser Art können auch durch wesentlich kleinere Erdbeben als das Seebeben vom 11. März 2011 mit einer Magnitude 9,0 ausgelöst werden, und zwar hinunter bis zu einer Magnitude von 7,4.
Kernkraftwerke in Deutschland sind gegen weit seltenere interne und externe Ereignisse wie das 10 000-jährige Hochwasser (langsam auflaufend) oder das 100 000-jährige Erdbeben für den jeweiligen Standort ausgelegt. Die Anforderungen an die Anlagenauslegungen (etwa die Deichhöhen) sind – im Gegensatz zu Japan – unter Berücksichtigung aller denkbaren Ursachen quantifiziert: Ihre Überschreitung durch extreme Einwirkungen von außen (Naturkatastrophen) oder innen (Komponentenversagen) ist so selten, dass sie dem Restrisikobereich (seltener als einmal in mindestens 100 000 Jahren) zuzuordnen ist. Es gibt somit keinen sicherheitstechnischen Grund, deutsche Kernkraftwerke vorzeitig abzuschalten. Ein Problem stellen jedoch denkbare terroristische Anschläge dar. Die Sicherheitsanalysen hierzu fallen in den Bereich staatlicher Vorsorge.
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