Krebsmedizin bei Kindern: Was Krebs bei Kindern so gefährlich macht
Gleich als Ariella Ritvo von der Krebsdiagnose ihres Sohnes Max erfuhr, stürmte sie ins Krankenhaus, um im Pathologielabor die Ergebnisse mit eigenen Augen zu sehen. "Ich werde hier nicht weggehen“, sagte sie einem überraschten Pathologen. "Mein 16-jähriger Sohn liegt dort drüben. Ich möchte eine Bestätigung seiner Diagnose."
Ein ganzes Meer blau gefärbter Zellen unter dem Mikroskop gab Ariella eine Ahnung von der Zahl und Stärke des Feindes, den Max und sie in den folgenden neun Jahren gemeinsam bekämpfen würden: dem Ewing-Sarkom, einer seltenen Form der Krebserkrankung bei Kindern. Unzählige Runden Chemotherapie, mehrere Operationen, Mäuse, in denen nach der Injektion von Max' Krebszellen Tumoren heranwuchsen, sowie diverse experimentelle Medikamente, darunter zwei Krebsimpfstoffe und ein Präparat, das noch nie zuvor einem Menschen verabreicht wurde – all das würde sie in den kommenden Jahren begleiten. Bis sich letzten Endes der Krebs doch als der Stärkere erweisen sollte – einzig und allein wegen eines falsch zusammengesetzten Proteins.
Wie meist beim Ewing-Sarkom hatten sich auch in Max' Tumorzellen zwei Gene fälschlich zu einem einzigen zusammengefügt, dem Fusionsprotein EWS-FLI1: einer Amok laufende Chimäre, welche die Expression tausender Gene in falsche Bahnen lenkt.
Fusions- oder Hybridproteine tauchen bei Kinderkrebserkrankungen immer wieder auf und ziehen sich wie ein roter Faden durch die verschiedenen Krankheitsausprägungen – von Hirntumoren bis Leukämien. Und Max' zähes Ringen mit diesem einen Hybridprotein zeigt sehr deutlich, wie schwierig es ist, diese bei jungen Patienten erfolgreich zu bekämpfen. Durch Fusionsproteine hervorgerufene Krankheiten neigen zu aggressiven Verläufen, und die intensiven Chemotherapien, die zu ihrer Behandlung eingesetzt werden, können furchtbare Auswirkungen haben. Überhaupt sind Krebserkrankungen in der Pädiatrie ein schwieriges Forschungsgebiet – zum einen wegen des seltenen Auftretens dieser Krankheiten, zum anderen auf Grund der ethischen Bedenken, die mit der experimentellen Erprobung von Wirkstoffen an Kindern verbunden sind. Als besonders frustrierend entpuppten sich allerdings die Fusionsproteine – denn sie wären zwar geradezu prädestinierte Angriffsziele für neue Therapieformen, sind aber gleichzeitig nur extrem schwer zu attackieren. "Es gibt nicht besonders viele Krebsarten, die einfach sagen: 'Schaut her, hier ist meine Achillesferse'", erklärt Damon Reed, Kinderonkologe am Moffitt Cancer Center in Tampa, Florida. "Diese hier allerdings tun es."
Die Wissenschaftler geben sich dennoch zuversichtlich: Wie Untersuchungen der letzten Jahre gezeigt haben, interagieren viele Fusionsproteine, unter ihnen auch EWS-FLI1, mit den für die Kontrolle der Genexpression zuständigen Mechanismen der zellulären Maschinerie. Auf diesem Bereich, den epigenetischen Kontrollmechanismen, entwickelten sich bei Krebs im Erwachsenenalter längst ein boomendes Forschungsfeld und Therapien, die die dort auftauchenden Angriffsziele nutzen und bereits in klinischen Studien an Erwachsenen erprobt werden. Durch diese Fortschritte beflügelt hat sich auch eine Initiative gebildet, die Finanzmittel für eine systematische Untersuchung von Fusionsproteinen auch im Zusammenhang mit Krebserkrankungen bei Kindern bereitstellen.
"Es gibt nicht besonders viele Krebsarten die sagen: 'Schaut her, hier ist meine Achillesferse'"Damon Reed
Die Zukunftsaussichten stellten sich für den Forschungsbereich also gerade sehr viel positiver dar als über lange Zeit zuvor, meint Stephen Lessnick, Kinderonkologe am Nationwide Children’s Hospital in Columbus, Ohio, der sich seit einem Vierteljahrhundert mit der Erforschung des Ewing-Sarkoms beschäftigt. "Dies ist aber auch dringend erforderlich."
Wenig erforschte tödliche Gefahren
Die ersten Symptome des Ewing-Sarkoms sind typischerweise unauffällig. Bei Max zeichneten sie sich im Jahr 2007 durch immer wieder auftretende Rückenschmerzen aus. Sie ließen sich nicht von den üblichen Blessuren eines 16-jährigen unterscheiden, der aktiver Ringer ist und auch einen schwarzen Gürtel in Karate trägt. Als Max Fieber bekam, dachte seine Familiean eine Grippe. Als er dann auch noch Schwierigkeiten beim Atmen hatte, entschied Ariella aber, es sei an der Zeit für medizinische Hilfe. Im Krankenhaus saugten die Ärzte dann erst zwei Liter Flüssigkeit aus Max' Lunge – und stellten nach einer anschließenden Biopsie schließlich die vernichtende Diagnose.
Weltweit wird jedes Jahr bei 14 Millionen Menschen Krebs diagnostiziert; nur etwa 300 000 von ihnen sind Kinder oder Jugendliche unter 19 Jahren. Weil Krebs im Kindesalter selten ist, räumen Regierungen und industrielle Geldgeber dem Studium dieser Erkrankungen im Allgemeinen eher geringe Priorität ein. Die Entwicklung von Krebstherapien für Kinder und Jugendliche sei daher in der Vergangenheit immer weit hinter der Erforschung von Behandlungsmöglichkeiten für erwachsene Krebspatienten zurückgeblieben, meint Matthew Meyerson, Genetiker und Krebsforscher am Dana-Farber Cancer Institute in Boston, Massachusetts. "Dies sollte eigentlich nicht so sein."
Einige Formen der Krebserkrankungen bei Kindern können glücklicherweise trotzdem mit beachtlichen Heilungsraten aufwarten: Mehr als acht von zehn behandelten Patienten leben nach ihrer Diagnose noch mindestens fünf weitere Jahre; die meisten werden sogar geheilt. Die Fortschritte in der Behandlung akuter Leukämien im Kindesalter werden exemplarisch als eine der größten Errungenschaften in der Krebsforschung gepriesen.
Doch die Therapien von Kinderkrebs sind in der Regel äußerst aggressiv. Da die Körper junger Patienten auf Grund ihres stärkeren Regenerationsvermögens besser in der Lage sind, sich von schweren Behandlungen wieder zu erholen, verabreichen ihnen Onkologen die toxischen Arzneimittel in äußerst hohen Dosierungen, die auf Erwachsene sogar tödlich wirken könnten.
Dazu kommt die ganz spezielle Verzweiflung, die sich bei Eltern mit auf den Tod erkrankten Kindern einstellt – zusammengenommen garantiert das allen Beteiligten ein extrem belastendes Behandlungsprogramm. Tatsächlich sterben rund drei Prozent der an Krebs erkrankten Kinder allein durch die Therapie. Denn: "Um diese Patienten zu heilen, muss man buchstäblich aus allen Rohren feuern", erläutert Lessnick, der auch Max behandelte. "Es ist eine unglaublich brutale Krankheit."
Bei Max hatte das Alter einen zusätzlichen Risikofaktor dargestellt. Heranwachsende befinden sich nämlich, was Krebs betrifft, in einer Art Vakuum: Die jugendliche Resilienz schwindet allmählich, was möglicherweise ihre im Allgemeinen geringeren Heilungsraten erklärt. Andererseits sind diese Patienten noch nicht alt genug, um den Anforderungen klinischer Erwachsenenstudien zu genügen, die allerdings weitaus häufiger durchgeführt werden als entsprechende Erprobungen an Kindern.
Große Hoffnungen
Max war noch ein kleiner Junge, als 1992 das Proteinprodukt des EWS-FLI1-Gens in einem Pariser Labor erstmals sequenziert wurde. Im darauf folgenden Jahr machte ein Forscherteam an der University of California in Los Angeles die Entdeckung, das Protein könnte eine starke Krebs auslösende Wirkung haben. In ihrer Studie zeigten die Wissenschaftler damals, wie FLI1 – ein für die Kontrolle der Genexpression verantwortliches Protein – durch Anfügen eines Fragments des Proteins EWS neue Eigenschaften gewinnt und sich in einen noch wirkungsvolleren Aktivator der Genexpression verwandelt. In jenem Jahr 1993, als der damalige Doktorand Lessnick seine Forschungsarbeiten auf dem Gebiet des Ewing-Sarkoms begann, herrschte in seinem Labor eine geradezu euphorische Stimmung, denn eine Therapie schien kurz vor dem Durchbruch zu stehen. Und da EWS-FLI1 eine molekulare Besonderheit darstellt, die ausschließlich in Krebszellen zu finden ist, hätte ein gegen dieses Target gerichteter Wirkstoff höchstwahrscheinlich nicht denselben toxischen Effekt wie eine konventionelle Chemotherapie.
"Die Idee war klar: Wir hatten das Treiber-Onkogen identifiziert und dachten, es dürfte nicht allzu schwierig sein, dieses abzuschalten", erinnert sich Lessnick. "Heute, 25 Jahre später, arbeiten wir allerdings noch immer daran."
In dieser Zeit versuchte eine kleine Gruppe engagierter Wissenschaftler alles in ihrer Macht stehende, um potenzielle Angriffspunkte von EWS-FLI1 ausfindig zu machen. Sie suchten nach Verbindungen, die seine Aktivität beeinträchtigten, aber das quecksilbrige Protein erwies sich als zu instabil, um ohne Weiteres an einen niedermolekularen Wirkstoff zu binden. Mit Hilfe von Techniken wie der RNA-Interferenz versuchten die Forscher, die EWS-FLI1-Expression abzuschalten; sie konnten allerdings nicht sicherstellen, dass die zur Ausschaltung des Fusionsgens nötige RNA auch wirklich alle Krebszellen erreichte. Denn, so erklärt Lessnick, bereits eine einzige übrig gebliebene aktive Zelle genüge, um den Tumor erneut wachsen zu lassen.
Nachdem die Versuche eines direkten Angriffs auf EWS-FLI1 gescheitert waren, begannen Forscher die vielen hundert Gene ins Visier zu nehmen, die das Protein reguliert. Sie hofften, auf ein für die Krebs fördernde Wirkung verantwortliches Kandidatengen zu stoßen, das zudem durch einen medikamentösen Angriff unschädlich gemacht werden könnte. Ein potenzielles Target löste in diesem Zusammenhang einen vagen Hoffnungsschimmer aus – das Protein IGF-1R. In klinischen Studien wurden gegen das Protein gerichtete Antikörper getestet, doch ihre Wirkung stellte sich letzten Endes als enttäuschend heraus, denn sie führten nur bei rund zehn Prozent der Patienten zu einem Rückgang der Tumoren. Die Entwicklung eines Medikaments, das lediglich einer kleinen Gruppe von Patienten hilft, die ohnehin an einer eher seltenen Krankheit leiden, ist für die Pharmaindustrie nur von geringem wirtschaftlichen Interesse, und die beteiligten Firmen beendeten daraufhin das Programm.
Was die Forscher auch ausprobierten – sie stießen immer wieder an Grenzen. "Wenn mir jemand sagt, dass etwas weiter unten in der Kaskade eines von EWS-FLI1 beeinflussten Signalwegs wirksam sein soll, schalte ich sofort ab ",sagt Reed. "Das haben wir bereits Millionen Mal versucht."
Um das Jahr 2010 begannen Wissenschaftler, die Charakterisierung von Tumoren zu verbessern, indem sie einen genaueren Blick auf die DNA-Sequenzen des vollständigen Genoms von Tumoren warfen. Einige Forscher hegten daraufhin die Hoffnung, die Durchmusterung der Ewing-Sarkom-Genomen würde vielleicht weitere Mutationen ans Tageslicht bringen, die potenzielle Wirkstofftargets darstellen könnten. Drei Forscherteams kamen allerdings zu demselben, enttäuschenden Ergebnis: Die Ewing-Sarkome enthielten stets ein Fusionsprotein – meistens, doch nicht immer, handelte es sich um EWS-FLI1 – und nur wenig mehr. Es gab einfach keine weiteren möglichen Angriffsziele für Medikamente, um die Mehrheit der Patienten behandeln zu können.
Doch die negativen Ergebnisse hatten auch einen positiven Aspekt. Zahlreiche Krebsarten Erwachsener weisen nämlich unzählige Mutationen auf – ein Umstand, der die Unterscheidung zwischen jenen Mutationen, die den Krebs fördern, und anderen, die keinen Einfluss auf das Tumorwachstum haben, stark erschwert. Auch die Tumoren selbst können durch vielfältige Faktoren ausgelöst werden, was wiederum die Entwicklung von Behandlungsstrategien verkompliziert. Einfache Krebsgenome wie im Fall des Ewing-Sarkoms würden vielleicht nicht besonders viele Angriffsziele bieten, doch mit nur wenigen onkogenen Treibern sollten sie gegenüber einer wirksamen Therapie nicht so häufig Resistenzen entwickeln, betont Kimberly Stegmaier, Kinderonkologin am Dana-Farber Cancer Institute. "Das ist zumindest unsere Hoffnung."
Stumpfe Instrumente
Jedoch ist Hoffnung nicht gleichbedeutend mit Fortschritt. Seit 1993 hat sich an der Behandlung des Ewing-Sarkoms nur wenig geändert. Sie umfasst im Allgemeinen mehrere Runden einer rigorosen Chemotherapie, eine Operation sowie Bestrahlungen. Im Jahr 2007 durchlitt Max seine Chemotherapie in dreiwöchigen Zyklen. Die erste Woche brachte Erbrechen, Durchfall und zuweilen eine Darminfektion mit sich. Ein Medikamentenwechsel in der zweiten Woche hatte häufig zur Folge, dass Max wegen einer schweren Anämie stationär behandelt werden musste. Die dritte Woche diente der Erholung, bevor der Zyklus von Neuem begann. Nach insgesamt vier Runden dieser Prozedur folgten eine Operation, Bestrahlungen und weitere Medikamente.
Max ließ alles tapfer und mit dem ihm eigenen Humor über sich ergehen – bis auf den Wirkstoff Ifosfamid, der ihm Halluzinationen verursachte und dazu führte, dass er seine Gedanken nicht mehr artikulieren konnte. Lediglich zwei Sätze sagte er immer wieder: "Mein Gehirn platzt", und: "Gib mir das Blau!" Letzteres bezog sich auf die Chemikalie Methylenblau, einem Gegenmittel für Ifosfamid. Nach diesem Erlebnis schwor sich Max in Gegenwart seiner Mutter, das Medikament nie wieder einzunehmen.
Tatsächlich zeigte sich bei Max eine Remission. Frei, sein normales Leben als Teenager wieder aufzunehmen, verbrachte er die folgenden Jahre damit, sich zu verlieben und wieder zu trennen, eine Computerspielsucht zu entwickeln und schließlich zu überwinden sowie in Poesie und Philosophie nach Wahrheiten zu suchen.
Doch die Jahre als Krebspatient hatten ihre Spuren hinterlassen. In Max' erstem Jahr als Student an der Yale University in New Haven, Connecticut, ließ ihn der Gedanke nicht los, Ifosfamid habe sein Gedächtnis in Mitleidenschaft gezogen. Diese Angst brachte ihn dazu, eigene Gedichte zu verfassen. Das Schreiben sei ein Mittel zum Bewahren der Erinnerungen gewesen, von denen er fürchtete, sie würden ihm für immer abhandenkommen, erzählte Max später rückblickend über diese Zeit. Bis zum letzten Jahr seines Studiums hatte sich seine Stimmungslage jedoch wieder stabilisiert, er wurde Mitbegründer einer Comedy-Truppe und seine Poesie hatte sich zu mehr als einem bloßen Schutzraum seiner Erinnerungen entwickelt. Aber die eine Sache, die er unbedingt vergessen wollte, sollte ihn nicht loslassen – im Jahr 2012 kehrte seine Krebserkrankung zurück. Damit er trotz allem die Universität planmäßig abschließen konnte, mietete sich seine Mutter in einem Hotel in der Nähe des Yale-Campus ein und fuhr Max zwischen Therapien und Vorlesungen hin und her.
Zu jener Zeit erlebte die Forschung im Bereich Krebs verursachender Fusionsproteine gerade eine Renaissance. Während Max seinem Studium in Yale nachging, untersuchte die Biochemikerin Cigall Kadoch, damals an der Stanford University in Kalifornien, mit ihren Kollegen eine Gruppe von Proteinen, die gemeinsam die Struktur des Chromatins – jenem Verbund aus DNA und einer Vielzahl von Proteinen, der an der Verpackung und Organisation des genetischen Materials innerhalb der Zelle beteiligt ist – modifizieren. Das Chromatin kann sich "öffnen" oder "auflockern" und dadurch die Expression der in diesem Abschnitt liegenden Gene ermöglichen, oder es kann eng gewickelt sein und somit die Genexpression verhindern.
2013 berichtete Kadochs Forscherteam von einem Protein namens SS18, das zu einem Komplex gehört, der an der Verpackung und Auflockerung von Chromatin beteiligt ist. Vereinigt sich SS18 mit einem von diversen SSX-Proteinen, verdrängt die entstehende Chimäre das normale SS18 aus dem genannten Komplex. Dies führt zu einer Fehlsteuerung der Chromatinregulierung, was laut Kadoch und Mitarbeitern wiederum die gesteigerte Expression eines Krebs erzeugenden Gens zur Folge hat. Mit dieser Arbeit gelang es den Wissenschaftlern, den Entstehungsmechanismus des synovialen Sarkoms, einer weiteren Krebserkrankung bei Kindern, zu entschlüsseln.
Die Ergebnisse fügten sich nahtlos in eine zunehmende Fülle an Beweismaterial ein, das einen Zusammenhang zwischen Fusionsproteinen und Epigenetik ans Licht brachte. Wissenschaftler, die an Leukämien oder dem Ewing-Sarkom forschten, stießen auf ähnliche Beziehungen. Kadoch leitet inzwischen ihr eigenes Labor am Dana-Farber Cancer Institute und erhält regelmäßig Anfragen von Forschern, die an anderen Fusionsproteinen arbeiten und sie bezüglich der von ihr angewandten biochemischen Methoden um Rat bitten. Die Verknüpfung, die die Forscherin entdeckt hatte, stellte eine der ersten unter vielen dar, die zwischen Krebs verursachenden Fusionsproteinen und Chromatin existieren. "Viele Fusionsproteine interagieren mit chromatinmodifizierenden Komplexen und verändern dabei das Chromatin in einer Art und Weise, dass eine Genexpression ermöglicht wird, die eigentlich gar nicht stattfinden dürfte", sagt der Kinderonkologe Scott Armstrong, der ebenfalls am Dana-Farber Institute tätig ist und sich mit der Untersuchung epigenetischer Zusammenhänge bei Leukämien im Kindesalter beschäftigt.
All diese Verflechtungen, die gerade ein ganz heißes Thema in der Epigenetikforschung darstellen, ließen Hoffnungen wieder aufleben, den widerspenstigen Fusionsproteinen doch in irgendeiner Weise beizukommen. Die Sequenzierung der Tumorgenome erwachsener Patienten hatte die Bedeutung epigenetischer Prozesse für das Auslösen von Krebs noch einmal unterstrichen, und in wissenschaftlichen und industriellen Labors arbeiteten die Forscher bereits mit Hochdruck daran, epigenetisch wirkende Proteine bei Krebserkrankungen Erwachsener mit Hilfe von Medikamenten unschädlich zu machen. Jetzt hoffen Kinderonkologen, dass auch ihre Patienten von diesen Wirkstoffen profitieren werden.
Bereits in der Entwicklung befindliche Arzneimittel, die ein epigenetisch wirksames Protein namens BRD4 inhibieren, könnten in der Behandlung einer ganzen Reihe fusionsproteinvermittelter Krebsarten Anwendung finden, etwa des Rhabdomyosarkoms – einer Form des Muskelkrebses – oder verschiedener Arten von Leukämie. Dieser Ansatz könnte auch bei EWS-FLI1, das mit einem epigenetischen Regulatorprotein namens LSD1 interagiert, Wirkung zeigen. Der Kinderonkologe Lessnick hat neben seiner Tätigkeit am Nationwide Children’s Hospital in Columbus auch die Position des Chief Medical Officer bei Salarius Pharmaceuticals, einem Biotechnologieunternehmen mit Sitz in Houston, Texas, inne. Die Firma arbeitet zurzeit an der Herstellung eines LSD1-Inhibitors, der im Anschluss auch an Patienten mit Ewing-Sarkom getestet werden soll.
Zeiten der Verzweiflung
Max und seine Mutter wurden schon bald recht versiert, was die verschiedenen Forschungs- und Entwicklungsprojekte betraf. Ariella ist Leiterin der Alan B. Slifka Foundation, einer philanthropischen Organisation in New York City, die ihr verstorbener Mann gegründet hatte und deren wichtigstes Anliegen die Unterstützung der jüdischen Gemeinde ist. Als Max an Krebs erkrankte, erweiterte Ariella den Aufgabenbereich der Stiftung um die Sarkomforschung.
"Diese Kinder haben keine Zeit zu warten bis sie 18 sind – sie sterben vorher"Ariella Ritvo
Mutter und Sohn hatten sich zudem einem Netzwerk von Familien angeschlossen, deren Kinder ebenfalls am Ewing-Sarkom erkrankt waren. Mit diesen Eltern, die ebenso verzweifelt eine Therapie herbeisehnten wie sie, tauschte Ariella Tipps, Gerüchte und wissenschaftliche Neuigkeiten aus; einige der engsten Freunde Max' waren Jugendliche, die an derselben Krankheit litten wie er. In einer Hinsicht geschah das Wiederauftreten des Krebses zu einem günstigen Zeitpunkt, denn Max war inzwischen 22 Jahre alt und hatte demzufolge Zugang zu klinischen Studien, die Kindern verwehrt waren. Ariella war angesichts dieses Umstands dankbar, doch die Ungerechtigkeit der Regelung machte ihr zu schaffen. "Diese Kinder haben einfach keine Zeit zu warten, bis sie 18 sind. Sie sterben vorher."
2012 begann Max einen neuen, zwölf Runden umfassenden Chemotherapiezyklus. Wieder empfahlen ihm seine Ärzte die Einnahme von Ifosfamid, doch Max weigerte sich. Im Verlauf der nächsten vier Jahre probierte er eine experimentelle Behandlung nach der anderen aus. Seine Mutter beantragte eine spezielle Genehmigung der US Food and Drug Administration (FDA), der amerikanischen Lebens- und Arzneimittelbehörde, um ein in der Immuntherapie eingesetztes Medikament testen zu dürfen, das bislang noch nicht an Kindern erprobt worden war. Da mutierte Proteine nach allgemeiner Auffassung die Immunantwort stimulieren, gab es Bedenken hinsichtlich der Wirksamkeit des Arzneimittels bei Krebsarten mit nur wenigen Mutationen, wie dem Ewing-Sarkom. Dies sollte sich auch bewahrheiten: Bei Max schien die Behandlung die Ausbreitung seiner Krankheit nur noch stärker zu beschleunigen.
Im Jahr 2015 sandten Mutter und Sohn Max' Krebszellen an ein Unternehmen, dessen Mitarbeiter diese in Mäuse injizierten. Die Tiere entwickelten daraufhin Tumoren, an denen eine Vielzahl verschiedenster Wirkstoffe getestet wurde. Die Wissenschaftler hofften, die Nager würden als Max' Stellvertreter fungieren – so genannte Avatare. Ein Medikament, das sich bei der Bekämpfung der Tumoren in einem seiner Avatare als erfolgreich erwies, könnte diesen positiven Effekt vielleicht auch bei Max bewirken. Dem Vegetarier Max erschien das alles faszinierend und gleichzeitig ein wenig seltsam – Mäuse, die einen Teil seiner selbst in sich trugen, starben, damit er vielleicht weiterleben konnte. Als ein experimentelles Medikament bei einem Avatar für viel versprechende Anzeichen sorgte, setzte Ariella sogleich alles in Bewegung, um die Genehmigung der FDA für ihren Sohn zu erwirken. Doch bei ihm zeigte das Präparat keinerlei Wirkung.
Max beendete sein Studium mit dem Masterabschluss, heiratete und nahm die Arbeit an seinem ersten Gedichtband auf, während er eine experimentelle Therapie nach der anderen durchmachte. Er verlor zunehmend an Gewicht, denn sein Gesundheitszustand verschlechterte sich immer mehr und wog im Juli 2016 bei einer Größe von 1,80 Metern nur noch knapp 51 Kilogramm.
Zu späte Hoffnung
Als kleiner Junge kletterte Max jeden Montag ins Bett seiner Mutter, um gemeinsam mit ihr Zeichentrickfilme anzuschauen. Dieses Ritual war ihm so heilig, dass er sogar den Hund der Familie auf den Namen "Montag" taufte. Mitte August 2016 war es jedoch Ariella, die am Bett ihres Sohnes saß. Zusammen mit seiner Ehefrau Victoria wachte sie über Max' Zustand und richtete von Zeit zu Zeit seinen Oberkörper auf, um ihm die Atmung durch leichtes Klopfen auf den Rücken zu erleichtern. Max' rasselnde Atemzüge bereiteten Ariella Albträume. Obwohl er nicht bei Bewusstsein war, machte ihr der Gedanke Angst, Max könnte ein Gefühl des Ertrinkens verspüren, da sich seine Lungen zunehmend mit Flüssigkeit füllten. Am 23. August hielt Ariella die Hand ihres Sohnes, als seine mühsamen Atemzüge schließlich aussetzten. Sie wusch ihn und blieb an seiner Seite, bis man ihn fortbrachte.
Nur zwei Wochen später gaben wissenschaftliche Berater der US-Cancer-Moonshot-Initiative, eines ambitionierten Plans zur Beschleunigung der Fortschritte in der Krebsforschung, die Empfehlung heraus, in Zukunft Fusionsproteine nachdrücklicher in Angriff zu nehmen. Kinderonkologen hegen jetzt die Hoffnung, dass dadurch nicht nur diesem speziellen Forschungsbereich neue Möglichkeiten eröffnet werden, sondern auch ein Zeichen gesetzt wird, damit Krebserkrankungen im Kindesalter insgesamt mehr Aufmerksamkeit erhalten. "Wir wollten uns schwerpunktmäßig auf ein Gebiet konzentrieren, in dem wirklich dringender Forschungsbedarf besteht", verdeutlicht James Downing, Direktor des St. Jude Children’s Research Hospital in Memphis, Tennessee, der zusammen mit anderen Wissenschaftlern die Empfehlungen an die Moonshot-Initiative ausarbeitete. Ihr Vorschlag, der im vergangenen September kurz skizziert wurde, sieht den Aufbau einer Forschungspipeline zur systematischen Untersuchung krebsassoziierter, chimärer Proteine vor, ausgehend von dem biochemischen Ansatz, mit dessen Hilfe Kadoch und Mitarbeiter die Verbindung zwischen synovialem Sarkom und Epigenetik aufgedeckt hatten. Zudem werden verbesserte Zellkulturtechniken und neue Tiermodelle gefordert, die sich auf diesem Forschungsgebiet bisher als besonders große Hindernisse erwiesen hatten.
Jeden Monat hält Stephen Lessnick Telefonkonferenzen mit anderen Wissenschaftlern ab, die ebenfalls am Ewing-Sarkom forschen. Sie tauschten Daten und Ergebnisse offen miteinander aus, ohne Angst vor Konkurrenz, führt der Kinderonkologe aus. "Wir sind so wenige – und es gibt so viel zu tun." Auch nach 25 Jahren der Frustration ist der Forscher nach wie vor optimistisch. Er hofft, die öffentliche Aufmerksamkeit sowie die bereitgestellten Finanzmittel im Zusammenhang mit dem Moonshot-Programm könnten eine Anziehungskraft auf Wissenschaftler anderer Disziplinen – etwa der Epigenetik – ausüben, die dem Forschungszweig frischen Wind und neue Sichtweisen bringen. "In der Vergangenheit hatten wir nicht oft die Gelegenheit, derartige Brücken zu bauen", berichtet Lessnick. Während der letzten, von Hektik und Verzweiflung geprägten Lebensjahre ihres Sohnes hatte Ariella die familieneigene Stiftung angewiesen, die Forschung im Bereich der fortgeschrittenen klinischen Entwicklung stärker zu unterstützen: Therapien, die kurz vor der klinischen Anwendung standen – einfach alles, das rechtzeitig genug käme, um das Leben ihres Sohnes zu retten. Nun allerdings soll sich die Stiftung wieder stärker auf die Förderung der Grundlagenforschung konzentrieren. Das sei in diesem Bereich nämlich am dringendsten nötig, betont Ariella. "Und ich habe jetzt den schrecklichen Luxus, dass mir dafür genügend Zeit bleibt."
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