Fußball-Europameisterschaft: Das verborgene System der Mannschaftsaufstellung
Bis zur nächsten Empörung ist es nur eine Frage der Zeit. Immer wieder kommt es im Fußball zu rassistischen Anfeindungen: Hassgesänge von Fangruppen, das Werfen von Bananen, Affenlaute von den Rängen. Medien berichten dann regelmäßig von Skandalen. Sportfunktionäre beklagen gesellschaftliche Probleme, die der Fußball ausbaden müsse. Als handle es sich lediglich um eine lose Folge von Einzelfällen.
»Wir sollten intensiver auf Strukturen schauen«, sagt dagegen die Sportsoziologin Tina Nobis, die an der Bergischen Universität Wuppertal forscht. »Wir nehmen bisweilen gar nicht mehr wahr, dass sich Stereotype tief in unserem Denken eingeschrieben haben.« Das gelte auch für den Sport: Die Fußball-Europameisterschaft in Deutschland und die Olympischen Spiele in Paris könnten in diesem Sommer eine differenzierte Debatte darüber anstoßen – so die Hoffnung.
An ihrer früheren Wirkungsstätte, am Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM), haben sich Tina Nobis und ihre Kollegen mit den Folgen von Stereotypen für den deutschen Fußball befasst. 2022 veröffentlichten sie ihre Forschungsergebnisse über »racist stacking«. Der soziologische Begriff, der auch als »racial stacking« geläufig ist, beschreibt rassistische oder diskriminierende Denkmuster – wenn Menschen auf Grund ihres Erscheinungsbilds als bestimmte Typen abgestempelt werden. Mit diesem Ansatz untersuchten die Fachleute, ob Mannschaftsaufstellungen im deutschen Profifußball auf Vorurteilen beruhen. Demnach sind in der ersten und zweiten Bundesliga auf den Spielpositionen im zentralen und defensiven Mittelfeld überproportional häufig weiße Spieler vertreten. Sie stehen also auf Positionen, die mit Führungsqualitäten, Spielintelligenz und Umsicht in Verbindung gebracht werden. Im Sturm und auf den laufintensiven Außenbahnen kommen hingegen überproportional oft schwarze Spieler zum Einsatz. Diese Positionen werden eher mit Kraft, Ausdauer und Temperament assoziiert.
Stereotype bestimmen die Spielaufstellung
Schwarzer Körper, weißer Geist? Der Fußball scheint Vorurteile zu bestärken, die sich seit der Kolonialzeit hartnäckig halten. »Wir würden nie behaupten, dass der Trainer X oder der Manager Y rassistisch sind«, sagt Tina Nobis. »Aber rassistische Zuschreibungen und unbewusste Stereotype spielen offenbar eine Rolle dabei, welche Spieler bereits im Nachwuchsbereich für bestimmte Positionen ausgebildet werden.«
Mitunter verbergen sich diese Stereotype, beispielsweise verpackt in Lob. Im April 2021 bewertete Friedhelm Funkel als Trainer des 1. FC Köln die Leistung von zwei schwarzen Spielern des Gegners Bayer Leverkusen, Leon Bailey und Moussa Diaby. Funkel sagte: »Sie haben eine enorme Schnelligkeit durch ihre, äh, ja, den ein oder anderen Ausdruck darf man ja nicht mehr sagen. Durch ihre Spieler, die halt so schnell sind.« Funkel verknüpfte die äußeren Merkmale von Bailey und Diaby offensichtlich mit athletischen Vorteilen. Nach öffentlicher Kritik entschuldigte sich Funkel für seine Äußerungen.
Seit Jahrzehnten gehören zum Spitzensport auch biologistische Vorstellungen. Lange wurden sie von Verbänden, Medien oder Forschung nicht erkannt. »Dabei sollten wir viel mehr auf soziale und kulturelle Hintergründe schauen«, sagt der südafrikanische Journalist und Politikwissenschaftler Gavin Evans von der University of London, der in seinem Buch »Skin Deep« den wissenschaftlichen Rassismus der vergangenen drei Jahrhunderte auseinandernimmt.
Evans geht auch auf Mythen im Sport ein. Warum etwa dominieren seit den 1990er Jahren Läufer aus Ostafrika die mittleren und langen Distanzen? Der Wissenschaftler stellt klar, dass es nicht vermeintliche Wundergene, die Muskelfasern oder leichte Knochen sind, die diesen Athleten den großen Leistungsvorsprung einbringen, sondern mitunter die Umgebung eine Rolle spielt. Einige kenianische Läufer lebten im Hochland, wo sie mehr oder weniger ständig ein Höhentraining absolvierten: Je höher die Lage, desto geringer der Luftdruck und der Sauerstoffgehalt – und desto mehr muss und kann das Herz-Kreislauf-System leisten. Zudem streben viele Menschen in Kenia eine Karriere als Laufprofi an. Vor allem aus zwei Gründen: Die Ausrüstung ist erschwinglich, und ein erfolgreicher Athlet entkommt eher einem Leben in Armut. Läufer in Kenia oder Äthiopien haben zudem längst eine Tradition begründet und so Jugendliche für ihren Sport motiviert. Mehr Konkurrenten treiben sich gegenseitig zu besseren Leistungen an. So entstand eine »kritische Masse«, wie es Evans formuliert, die den kenianischen Läufern die großen Erfolge bescherte.
Eine solche kritische Masse hatte es in den 1980er Jahren in Großbritannien gegeben, im damals führenden Land der Mittelstreckenläufer. »In England hat aber niemand nach genetischen Vorteilen von weißen Menschen gesucht«, erklärt Evans. Warum im Vereinigten Königreich die Laufkultur erlahmte, hat andere Gründe: Inzwischen ist Fußball sehr viel beliebter, es gibt neue Trendsportarten und der Schulsport hat an Bedeutung verloren.
Schlechtere Schwimmer, weil schwarz?
Mythos Nummer zwei: In den USA können Afroamerikaner aus genetischen Gründen angeblich schlechter schwimmen als ihre weißen Mitbürger. Dafür sollen sie eine bessere Sprungkraft haben – weshalb sie die Basketballliga NBA dominieren. »Über Jahrzehnte wurde Afroamerikanern der Zugang zu Stränden, Schwimmhallen und zu einem angemessenen Sportunterricht verwehrt«, wendet Evans ein. Dieser Negativdrill hat Folgen: Noch heute würden manche schwarze Eltern zögern, ihre Kinder zum Schwimmunterricht zu schicken.
»Wir haben es im Sportjournalismus mit einer homogenen männlich weißen Kultur zu tun«Philipp Awounou, Sportjournalist
In der NBA sind rund 80 Prozent der Spieler schwarz. Basketball gehört für viele Afroamerikaner zu einer urbanen Popkultur, die sie seit ihrer Kindheit erleben und mit der sie sozialisiert werden. Dazu gehören Streetball, Rapmusik, bestimmte Kleidungsstile und schwerreiche Vorbilder wie die Starspieler Magic Johnson, Michael Jordan oder LeBron James. Auch Hollywood-Komödien über Basketballer wie »White Men Can't Jump« (»Weiße Jungs bringen's nicht«) aus dem Jahr 1992 spielen mit dem Stereotyp. Aber Genetik? Die bisherigen Olympiasieger im Hochsprung etwa waren, von wenigen Ausnahmen wie dem Kubaner Javier Sotomayor abgesehen, weiß.
Fernsehen und Zeitungen fördern Stereotype
Im besten Fall sollten Medien über Stereotype aufklären, doch seit Langem tragen sie stattdessen zur deren Verbreitung bei. »Wir haben es im Sportjournalismus mit einer homogenen männlich weißen Kultur zu tun, die womöglich noch einseitiger ist als in anderen journalistischen Genres«, sagt der Sportjournalist Philipp Awounou, der unter anderem für die ARD und den »Spiegel« arbeitet. »Diese Kultur begünstigt die Reproduktion von versteckten rassistischen Bildern.« Derartige Ressentiments sind offenbar auch in Teilen der deutschen Bevölkerung fest verankert. Einer Umfrage der ARD im Juni 2024 zufolge gaben 21 Prozent der Befragten an, dass sie es besser fänden, wenn in der Fußballnationalmannschaft mehr Spieler mit weißer Hautfarbe auflaufen würden. Ungefähr 65 Prozent stimmten diesem Wunsch eher nicht oder gar nicht zu.
Eine weitere Studie aus der Fußballsaison 2019/20 erhärtet das, was Awounou anspricht. Der Journalist und Sportforscher Danny McLoughlin hat mit Kollegen aus Dänemark und Großbritannien die TV-Kommentare bei 80 Profispielen in England, Spanien, Italien und Frankreich analysiert. Das Ergebnis: Wenn Kommentatoren über Arbeitsmoral sprachen, richtete sich mehr als 60 Prozent ihres Lobs an Spieler mit hellerer Hautfarbe. Ging es um die Spielintelligenz, bedachten sie mehr als 62 Prozent derselben Spielergruppe mit positiven Worten. Hagelte es Kritik in Sachen Intelligenz, galt sie in mehr als 63 Prozent der Fälle Spielern mit dunklerer Hautfarbe.
Beim Thema Kraft hingegen betrafen gut 85 Prozent der positiven Kommentare Spieler mit dunklerer Hautfarbe, beim Thema Schnelligkeit waren es fast 87 Prozent. Mit dieser Voreingenommenheit reduzieren die Kommentatoren schwarze Fußballer auf ihre körperlichen Fähigkeiten und befördern das Vorurteil, dass ihre Athletik »gottgegeben« sei; sie sich also gar nicht hätten anstrengen müssen, um erfolgreiche Fußballer zu werden. So »entstehe der Eindruck eines faulen Sportlers«, heißt es in der Studie.
Und auch in einem anderen Bereich verstärken Stereotype strukturellen Rassismus: in der Gaming-Industrie. Die britischen Wissenschaftler Paul Ian Campbell und Marcus Maloney haben sich mit der Videospielserie »Fifa« von Electronic Arts beschäftigt. Seit der ersten Auflage des Computerspiels von 1993 bemühen sich Programmierer, das Aussehen und die Fähigkeiten von realen Spielern auf deren digitale Versionen zu übertragen.
Campbell von der University of Leicester und Maloney von der Coventry University haben Daten der Spielversion aus dem Jahr 2020 analysiert. Jeder Fußballer erhält darin Bewertungen in 29 Kompetenzbereichen, zum Beispiel für Einwürfe, Kraft und Sprungkraft. Diese Werte werden zu einer Punktzahl von 1 bis 99 addiert. Campbell und Maloney schauten sich die 100 besten Spieler an. Es zeigte sich, dass schwarze Spieler bei den körperlichen Kompetenzen meist einen höheren Punkteschnitt erzielten als weiße Spieler. Das galt unter anderen für Sprintgeschwindigkeit (zirka 79 zu 72 Punkte), Sprungkraft (78 zu 71) oder Aggressivität (74 zu 71,5).
Dagegen erzielten die weißen Digitaldoubles realer Profispieler höhere Durchschnittswerte für technische und kognitive Fähigkeiten. Zum Beispiel wenn es darum ging, präzise Pässe zu spielen (74,5 zu 71 Punkte). »Unsere Ergebnisse zeigen subtile Wege, wie Stereotype verstärkt werden«, schreiben Campbell und Maloney im Online-Wissenschaftsmagazin »The Conversation« über ihre Studie. »Es besteht die Gefahr, dass Kindern tatsächlich beigebracht wird, dass schwarze und weiße Athleten … bedeutend anders sind – durch den scheinbar unschuldigen und banalen Akt des Spielens.«
Wie divers sind Trainerteams, Vorstände und Aufsichtsräte der Vereine?
Stereotype wie diese sind weniger offensichtlich als Affenlaute im Stadion und lassen sich schwerer skandalisieren. Verbände und Vereine behaupten auch gern, dass sie offensiv gegen Rassismus vorgehen, etwa mit Kampagnen für »Respekt«, »Vielfalt« und »Diversity«. Zudem verweisen sie auf die Nationalmannschaften aus Deutschland, Frankreich oder England, in denen zunehmend Spieler mit Migrationshintergrund die Regie führen würden. Doch was bewirkt derlei Kommunikation? »Ich habe das Gefühl, dass die Diskussion nur an der Oberfläche kratzt«, sagt der langjährige guineisch-deutsche Profispieler Pablo Thiam, der unter anderem für den VfB Stuttgart, den FC Bayern München und den VfL Wolfsburg spielte. »Wenn es der Profifußball ernst meinen würde, dann würde er mehr nicht weiße Menschen in Führungspositionen bringen.«
»Bei Trainerseminaren oder Fortbildungen war ich fast immer der einzige schwarze Vertreter im Saal«Pablo Thiam, Funktionär und ehemaliger Profifußballer
Die Fußballindustrie verteilt ihre Macht auf mehrere hundert Vorstände, Geschäftsführer und Aufsichtsräte. Die Zahl schwarzer Menschen in diesem Kreis lässt sich an zwei Händen abzählen. In England schafften es in fast 150 Jahren lediglich neun nicht weiße Schiedsrichter in die obersten Spielklassen. Und im Rest von Europa sind weniger als zehn schwarze Trainer in den Spitzenligen aktiv.
Pablo Thiam hat nach seiner aktiven Karriere die Nachwuchsförderung beim VfL Wolfsburg und bei Hertha BSC in Berlin geleitet. Er möchte den Entscheidern im Fußball nicht unterstellen, dass sie Menschen mit Migrationshintergrund bewusst ausschließen. Allerdings fällt ihm auf: »Bei Trainerseminaren oder Fortbildungen war ich fast immer der einzige schwarze Vertreter im Saal. Für mich war das normal, ich konnte damit umgehen. Doch andere würden sich vielleicht beobachtet und kontrolliert fühlen.«
Eine Fußballkultur der Teilhabe schaffen
Selbst wenn eine oder zwei schwarze Personen mit Hilfe einer Quote in einen Vorstand oder ein Schiedsgericht aufrücken würden, bedeutet das nicht, dass sie sich dort auch entfalten und ihre Talente einbringen können. Eher ist es wahrscheinlich, dass sie ihren Posten bald wieder ernüchtert räumen. Pablo Thiam findet, dass man möglichst früh im Breitensport eine Kultur der Teilhabe schaffen sollte.
Vielleicht könnte der deutsche Sport vom American Football lernen. In den Auswahlverfahren für neue Trainer müssen Klubs der US-amerikanischen National Football League (NFL) auch nicht weiße Kandidaten einladen. Die Rede ist von »affirmative action«, von einer bevorzugten Behandlung von marginalisierten Minderheiten. Seit Einführung dieser Regel ist die Zahl schwarzer Trainer in der NFL gestiegen.
Doch im deutschen Sport setzt man auf Freiwilligkeit und hofft, wie häufig geäußert, auf eine natürliche Entwicklung zu mehr Vielfalt, schließlich sei der Fußball ein Spiegelbild der Gesellschaft. Die so genannte Mitte-Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung aus dem Jahr 2023 zu menschenfeindlichen Einstellungen bezeugt hingegen, dass Stereotype verbreitet sind. Der Aussage »schwarze Menschen sind im Sport besonders talentiert« stimmten mehr als 39 Prozent jener Befragten voll und ganz oder eher zu, die nicht Mitglied in einem Sportverein waren. Bei den Teilnehmenden, die einem Fußballverein angehören, lag die Zustimmung noch zehn Prozentpunkte höher.
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