Astrophysik-Rätsel: Gammabeschuss von der Sonne
Längst nicht alle Rätsel der Astrophysik betreffen weit entfernte Gegenden des Weltalls: Wenn Forscher die Sonne in Augenschein nehmen, gibt es vieles, was sie noch nicht verstehen. Beispielsweise feuert unser Zentralgestirn immer wieder Gammastrahlung ins All, darunter auch extrem energiereiche Lichtteilchen mit einer Energie von mehr als 10 Gigaelektronvolt (GeV). Wie diese extreme Strahlung genau entsteht, ist bisher unklar – mit etablierten Modellen lässt sich, wenn überhaupt, nur ein kleiner Teil davon erklären.
Nun wollten Forscher das Rätsel mit dem NASA-Satelliten Fermi lösen und haben dazu Messdaten der vergangenen zehn Jahre analysiert. Aber die Auswertung wirft mehr Fragen auf, als sie beantwortet, berichtet das Team um Tim Linden von der Ohio State University im Fachmagazin »Physical Review Letters«. So scheinen im Inneren der Sonne gleich mehrere physikalische Mechanismen Lichtteilchen auf Trab zu bringen. Einer davon wirkt offenbar in der Nähe der Pole, von wo die meiste Gammastrahlung in der Zeit von 2010 bis 2017 kam. In dieser Phase durchlief die Sonne gerade ihr solares Maximum, in der sie besonders ungestüm ist.
Rätselhafter ist die Strahlenemission im vorausgegangenen Minimum in den Jahren 2008 und 2009. Hier kam die solare Aktivität fast zum Erliegen, wie alle elf Jahre. In dieser Ruhephase lief allerdings völlig überraschend der Sonnenäquator zu Hochtouren auf, zumindest punktuell, wie Linden und Kollegen berichten: Sechsmal feuerte er besonders energiereichere Lichtteilchen mit spektakulären 100 GeV gen Erde. Nach dem solaren Minimum fing Fermi dann aber lange kein einziges solches Teilchen mehr auf. Das lasse sich mit den gängigen Vorstellungen zur Gammastrahlenproduktion nicht in Einklang bringen, schreiben die Forscher.
Bisher gehen Experten davon aus, dass immer mal wieder energiereiche Wasserstoffatomkerne aus den Tiefen des Weltalls mit Atomkernen an der Sonnenoberfläche kollidieren. Dabei entstehen Kaskaden anderer Teilchen, darunter Elektronen und letztlich auch hochenergetische Lichtteilchen. Unter bestimmten Umständen können die komplexen Magnetfelder der Sonne diese Teilchenkaskaden in Richtung Erde lenken, wie Wissenschaftler bereits 1991 vorhersagten.
Allerdings erkläre dieser Prozess allenfalls einen kleinen Teil der Gammastrahlenaktivität des Sonnenäquators im Minimum, argumentiert das Team um Linden. Auch koronale Massenauswürfe, bei denen Magnetfelder große Mengen Sonnenmaterie ins Weltall schleudern, kommen wohl nur teilweise als Quelle in Frage. Zwei der sechs 100-GeV-Lichtteilchen ließen sich der Analyse zufolge auf die gewaltigen Ereignisse zurückführen, der Rest jedoch nicht. Umso gespannter sind die Wissenschaftler, ob sie in den nächsten Monaten und Jahren erneut verdächtige Gammastrahlung aus Richtung Sonne auffangen.
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