Gammablitze: Tödliches Licht explodierender Sterne
Am 9. Oktober 2022 rumpelte es in der Hochatmosphäre. Kurz nach 14 Uhr flutete sieben Minuten lang intensive Gammastrahlung die Erde und fegte über Asien, Afrika und Europa hinweg. Auf den Boden schaffte es die energiereiche Strahlung nicht, doch in 300 bis 500 Kilometer Höhe löste sie ein elektromagnetisches Beben aus, das mehrere Stunden messbar blieb. Schuld war eine Explosion in einer fernen Galaxie in rund zwei Milliarden Lichtjahren Entfernung: Der Gammastrahlenausbruch mit dem Namen GRB221009 war das hellste je gemessene derartige Ereignis. Für einen GRB (kurz für gamma ray burst) war das allerdings ausgesprochen nah; theoretisch sollte nur alle 10 000 Jahre ein derart energiereicher Ausbruch in so kurzer Distanz zur Erde auftauchen. Doch was geschähe, wenn ein solcher Gammablitz sogar in einer Nachbargalaxie der Milchstraße aufleuchtete? Oder anders gefragt: Wie nah darf eine kosmische Explosion der Erde kommen, ohne dass es ungemütlich wird?
»Die Vorstellung, dass ein außerirdisches Ereignis katastrophale Auswirkungen auf unsere irdischen Ökosysteme haben könnte, ist nicht neu«, sagt Ralph Becker vom Institut für Geologie und Paläontologie der Universität Münster. »Es gab diese provokante Idee schon in den 1980er Jahren; sie wurde aber erst einmal mehr oder weniger abgelehnt, weil wir keinerlei Hinweise darauf hatten.« Becker ist Experte für Evolutionsökologie und beschäftigt sich in erster Linie mit dem Devon, einem Erdzeitalter, das vor etwa 419 Millionen Jahren begann und vor rund 359 Millionen Jahren endete.
Astrophysiker halten es für möglich, dass Gammablitze sowie deren »kleine« Verwandte, die Supernovae, für einige der dramatischsten Massenaussterben der Erdgeschichte verantwortlich sind. Ein besonders markantes Vorkommnis ist das »Doppelereignis« im späten Devon. Vor etwa 372 bis 359 Millionen Jahren versetzte irgendetwas der sich entwickelnden Biosphäre unseres Planeten einen doppelten Knock-out – mit dramatischen Folgen. Getrennt durch ein relativ kurzes Zeitintervall von nur 13 bis 14 Millionen Jahren starben zweimal hintereinander bis zu zwei Drittel aller Land- und Marinelebewesen aus. Mehrere globale Warm- und Kaltzeiten wechselten sich innerhalb von wenigen hunderttausend Jahren ab. Benannt sind die beiden Ereignisse nach den Orten, an denen Paläontologen die ersten Hinweise darauf fanden: Die »Kellwasser-Krise« hat ihren Namen von den Kellwasserkalken im Oberharz, die »Hangenberg-Krise« ist nach den Schwarzschiefersedimenten des Rheinischen Schiefergebirges benannt. »Zwei Aussterbeereignisse erster Ordnung in einem so kurzen Zeitintervall sind ungewöhnlich in der Erdgeschichte«, sagt Becker. »Da kann man schnell auf die Idee kommen, dass kosmische Strahlung etwas damit zu tun haben könnte.«
Die Aussterbekrise im späten Devon ist eines von mindestens fünf großen Extinktionsereignissen in den zurückliegenden 500 Millionen Jahren. Das bekannteste von ihnen ist das Kreide-Tertiär-Ereignis, welches das Ende der Dinosaurier einläutete: Höchstwahrscheinlich ausgelöst durch einen verheerenden Asteroideneinschlag vor 66 Millionen Jahren im heutigen Golf von Mexiko, ist es bislang das einzige derartige Ereignis, dessen Ursache man zu kennen glaubt.
»Betrachtet man den Zeitraum seit der Entstehung des Sonnensystems, der sich über Milliarden Jahre erstreckt, können sehr nahe kosmische Explosionen nicht ausgeschlossen werden«Anton Wallner, Physiker
Einflüsse aus dem Weltall können also sehr wohl die Erdgeschichte in eine andere Richtung lenken – warum also nicht auch Sternexplosionen? »Betrachtet man den Zeitraum seit der Entstehung des Sonnensystems, der sich über Milliarden Jahre erstreckt, können sehr nahe kosmische Explosionen nicht ausgeschlossen werden«, sagt Anton Wallner, Physiker am Helmholtz-Zentrum Dresden-Rossendorf (HZDR). Im Jahr 2023 hat Wallner zusammen mit seinem Kollegen Brian Fields von der University of Illinois in den USA in einem Übersichtsartikel zusammengefasst, was die Wissenschaft bislang über das Thema weiß.
So haben Forscherinnen und Forscher in den vergangenen zwei Jahrzehnten überzeugende Beweise dafür gefunden, dass die Erde mindestens zweimal relativ nahen Supernova-Explosionen ausgesetzt war – vor 2,5 beziehungsweise 7 Millionen Jahren, und damit lange nach dem Devon. »Zum Glück waren diese Ereignisse noch weit genug entfernt, so dass sie wohl keinen signifikanten Einfluss auf das Erdklima oder größere Auswirkungen auf die Biosphäre hatten«, erklärt Wallner. »Richtig ungemütlich wird es bei kosmischen Explosionen in einer Entfernung von bis zu 30 Lichtjahren.« Momentan liegt der nächste Supernova-Kandidat rund 500 Lichtjahre von der Erde entfernt. Doch das Sonnensystem ändert seine Nachbarschaft ständig: In 230 Millionen Jahren umrundet es einmal das gesamte galaktische Zentrum der Milchstraße.
Supernova-Strahlung als Ozonkiller
Supernovae markieren das Ende von massereichen Sternen, deren Brennstoff zur Neige gegangen ist. In der bekanntesten Form kollabiert der Kern des Sterns zu einem kompakten Neutronenstern oder zu einem Schwarzen Loch, während das restliche Gas in einer gigantischen Explosion weggeschleudert wird. In einem anderen Szenario strömt in einem Doppelsternsystem zunächst Materie von einem Stern auf seinen Partner, der schließlich explodiert, sobald er eine kritische Masse erreicht hat. Gammablitze entstehen vermutlich ähnlich – doch streben bei ihnen Materie und Explosionsenergie nicht gleichmäßig nach außen, sondern konzentrieren sich entlang zweier Strahlen, die von Magnetfeldern zusammengehalten werden. Sie sind seltener, können aber noch aus weit größerer Entfernung verheerend wirken als Supernovae, falls die Erde genau im Strahlungskegel liegt. Fachleute haben berechnet, dass die kritische »Todesdistanz« eines GRB bei mehreren tausend bis zehntausenden Lichtjahren liegt – damit wären sie womöglich auch gefährlich, wenn sie in einer sehr nahen Nachbargalaxie der Milchstraße aufleuchten.
Ideen, wie kosmische Explosionen das Leben auf der Erde beeinflussen könnten, gibt es schon seit den 1950er Jahren. Unter den ersten waren die des deutschen Paläontologen Otto Schindewolf und des sowjetischen Astrophysikers Iossif Schklowski. Je mehr Wissen über Supernovae und GRB Astrophysiker und -physikerinnen über die Jahrzehnte sammelten, desto detaillierter wurden die Szenarien. So zeigen seit Anfang der 2000er Jahre Modellrechnungen, darunter die einer Gruppe um den Astrophysiker Brian Thomas von der University of Kansas, wie die intensive Gamma-, Röntgen- und Teilchenstrahlung einer solchen Explosion die Ozonschicht der Erde schwächen und damit die Tore öffnen kann für schädliche UV-B-Strahlung der Sonne – mit fatalen Folgen für Organismen auf dem Land oder der Oberfläche der Meere. Eine Supernova innerhalb der »Todesdistanz« von etwa 30 Lichtjahren, so schlossen Thomas und seine Kollegen, würde die globale Ozonschicht um mindestens 30 Prozent reduzieren. Das ist zehnmal mehr als der menschengemachte Ozonverlust im vergangenen Jahrhundert.
Fossile Pflanzensporen aus der Zeit des späten Devon erhärten den Verdacht. Im Mai 2020 fanden John Marshall, Jon Lakin und Ian Troth von der School of Ocean and Earth Science der University of Southampton in England einen direkten Beleg für eine geschwächte globale Ozonschicht während der Hangenberg-Krise: Sporen aus grönländischen Bodenproben zeigen Deformationen, die auf eine erhebliche Einstrahlung von UV-B-Licht hindeuten. Offenbar erreichte auf einmal deutlich mehr Sonnenlicht den Erdboden, ohne dass sich die Pflanzen darauf einstellen konnten. Das energiereiche Licht schädigte ihr Erbgut. In der Folge starben zahlreiche Arten aus. Die UV-B-Strahlung war also mit hoher Wahrscheinlichkeit der Grund für das Massenaussterben im späten Devon, zumindest für Landorganismen, schlossen Marshall und sein Team.
»Von Supernovae und anderen kosmischen Einflüssen als Erklärung für große Aussterbeereignisse halte ich sehr wenig«Sandra Kaiser, Paläontologin
Die statistische Wahrscheinlichkeit für nahe Supernovae, ein überzeugender Mechanismus zur Zerstörung der Ozonschicht und Opfer energiereicher Strahlung – es scheint, als wäre der Fall klar. Doch Fachleute wie die Paläontologin Sandra Kaiser vom Naturgeschichtlichen Museum in Stuttgart überzeugt das nicht: »Von Supernovae und anderen kosmischen Einflüssen als Erklärung für große Aussterbeereignisse halte ich sehr wenig. Es gab außerdem keinen singulären Vorfall im späten Devon, sondern vielmehr eine Folge mehrerer Ereignisse; und die auch noch zu unterschiedlichen Zeiten und für unterschiedliche Spezies.« Wie solle, fragt Kaiser, eine Supernova all dies erklären?
Sie hält es für plausibler, dass das Erdklima selbst für die Umwälzungen verantwortlich war – und stimmt darin mit John Marshall und dessen Team überein. Das Massenextinktionsereignis an der Devon-Karbon-Grenze fand schließlich während einer bedeutenden Erwärmung des Erdklimas am Ende einer intensiven Vergletscherung statt. Diese Temperaturerhöhung habe die Ozonschicht geschwächt. In einer Übersichtsarbeit zur Devon-Krise, die Kaiser zusammen mit ihren Kollegen Ralph Becker und Markus Aretz veröffentlicht hat, kommen Supernovae und GRB nicht vor. Die Publikation erschien jedoch bereits 2015 – und damit vor Marschalls Pflanzensporen. Würde er sie heute erneut verfassen, meint Ralph Becker, würde er die Möglichkeit kosmischer Ereignisse zumindest diskutieren.
Es regnet Supernova-Asche
Das liegt auch an den Fortschritten, die Physiker wie Anton Wallner in den vergangenen Jahren in Sachen »Supernova-Archäologie« gemacht haben. Strahlung ist nicht das Einzige, was kosmische Explosionen zur Erde senden. Kurz vor und während einer Supernova (und wohl auch eines Gammastrahlenausbruchs) werden viele neue Atomkerne gebildet – unter ihnen eine Reihe radioaktiver Nuklide. Einige davon finden sich mit anderen Molekülen und Atomen im Lauf der Zeit zu Staubkörnern zusammen. Diese Partikel werden anschließend von der sich ausbreitenden Explosionswolke der Supernova mitgerissen. Nach tausenden Jahren gelangen sie schließlich in unser Sonnensystem, wo sie als feiner Regen auf die Erde, den Mond und alle anderen Planeten herunterrieseln.
Es ist diese radioaktive Supernova-Asche, die einen eindeutigen Beweis dafür liefern kann, ob ein kosmischer Täter an einem Massensterben beteiligt war: Würde man in Erdschichten, die aus der Zeit etwa des Hangenberg- oder des Kellwasser-Ereignisses stammen, radioaktive Isotope aufspüren, die nur in einer Supernova oder einem GRB entstehen können, dann wäre die »smoking gun« gefunden. Diesen richtungsweisenden Vorschlag haben bereits im Jahr 1996 die Astrophysiker John Ellis, David Schramm und Brian Fields gemacht – seither arbeiten ihre Kollegen an dem experimentellen Nachweis.
Unter ihnen ist Anton Wallner. »Eines der besten Nuklide für die Suche nach Supernovae ist das radioaktive Eisenisotop mit der Atommasse 60, kurz Eisen-60«, erklärt der Physiker. »Es entsteht zusammen mit gewöhnlichem Eisen in riesigen Mengen in schweren Sternen – das wissen wir. Bei einer Supernova wird es ins interstellare Medium herausgeschleudert, auch das ist gesichert.« Auf der Erde ist Eisen-60 hingegen extrem selten. Kein natürlicher Prozess auf unserem Planeten bringt es hervor. Eventuelle Reste aus der Entstehungszeit des Sonnensystems sind längst in stabile Nickelisotope zerfallen, denn die Halbwertzeit von Eisen-60 beträgt 2,6 Millionen Jahre.
Doch selbst von einer sehr nahen Supernova landen pro Quadratzentimeter höchstens einige zehntausend Eisen-60-Atome pro Jahr auf der Erde. Diese verstecken sich unter gleich schweren, aber milliardenfach häufigeren Nickel-60-Atomen. Entdecken kann man sie daher lediglich mit der technisch sehr aufwändigen Beschleuniger-Massenspektrometrie, kurz AMS (nach: accelerator mass spectrometry). Bei der AMS werden Bodenproben, die aus tiefen Erdschichten stammen und eindeutig einer Erdepoche zugeordnet werden können, zunächst gereinigt und zerstäubt. Anschließend werden die darin enthaltenen geladenen Ionen in einem Teilchenbeschleuniger auf hohe Energie gebracht. Magnete separieren anschließend die Ionen nach ihrer Masse und trennen so die seltenen Eisen-60-Kerne von allen anderen.
Zwölf Millionen Jahre Erdgeschichte
Auf diesem Weg fand ein Team um Klaus Knie und Gunther Korschinek am Maier-Leibnitz-Laboratorium (MLL) in Garching Ende der 1990er Jahre die ersten Spuren von außerirdischem Eisen-60. Inzwischen haben Wissenschaftler in Garching und an einem weiteren AMS-Beschleuniger im australischen Canberra, darunter Wallner, die Messungen mit zahlreichen Proben wiederholt und verfeinert. Ihr Ergebnis: Radioaktives Eisen-60 ist weltweit verbreitet – es verbirgt sich in Eisbohrkernen, Sedimentschichten und Tiefsee-Manganknollen. Etwa zwölf Millionen Jahre Erdgeschichte können die Forscherteams so zurückverfolgen. Dabei entdeckten sie auch Überbleibsel von den beiden erwähnten Supernovae vor 2,5 und 7 Millionen Jahren – sie zeigen sich als Häufungen in der Eisen-60-Konzentration zu diesen Zeiten.
Für eine der beiden Sternexplosionen gibt es auch astronomische Unterstützung. Im Jahr 2019 fanden Ralph Neuhäuser von der Universitäts-Sternwarte Jena und zwei Kollegen ihre wahrscheinlichen Überreste: den Stern Zeta Ophiuchi und den Radiopulsar PSR B1706-16. Die Astronomen analysierten die Bewegungen der beiden und fanden heraus, dass sie einst sehr wahrscheinlich ein Doppelsternsystem bildeten – auseinandergerissen durch die Supernova-Explosion des Vorgängersterns vor knapp zwei Millionen Jahren. Das Eisen-60, das vor zwei bis drei Millionen Jahren auf die Erde herunterregnete, stammt demnach möglicherweise von PSR B1706-16, oder besser gesagt von dem Riesenstern, der er einmal war. Die Explosion fand Neuhäuser und seinem Team zufolge in 350 Lichtjahren Entfernung statt – außerhalb der kritischen Todesdistanz.
Das Plutonium-Problem
Die Halbwertzeit von Eisen-60 ist allerdings zu kurz, als dass man weiter als etwa 15 Millionen Jahre in die Vergangenheit schauen könnte – die radioaktiven Hinterlassenschaften einer hypothetischen Devon-Supernova wären längst zerfallen. Man benötigt also langlebigere Radionuklide. Uran-235 böte sich an, doch seine Halbwertzeit von gut 700 Millionen Jahren ist zu lang. Selbst aus der Zeit, als sich das Sonnensystem bildete, ist noch Uran-235 übrig, ununterscheidbar von eventuell später durch Supernovae eingetragenem. Bleibt Plutonium-244: Mit einer Halbwertszeit von 81 Millionen Jahren lebt dieses Nuklid lange genug, um die Zeit vom Devon bis heute zu überdauern, nicht aber die Zeit seit der Geburt der Erde vor 4,5 Milliarden Jahren.
Wenn Eisen-60 auf der Erde selten ist, dann ist es Plutonium-244 erst recht. Gerade einmal rund 1500 Eisen-60-Atome haben Physiker in den zurückliegenden 20 Jahren bei allen AMS-Messungen weltweit gefunden. Plutonium-244 ging ihnen bislang nur 190-mal ins Netz. Und erst 2021 gelang Wallner und seinem Team ein Durchbruch. Sie fanden erstmals Plutonium-244, das nachweislich nicht aus Kernwaffentests, Atomunfällen oder abgestürzten Satelliten-Radionuklidbatterien stammte. Die Messungen des Plutoniums reichen ähnlich weit in die Vergangenheit zurück wie die des Eisens. Die geringe Zahl der gefundenen Plutoniumkerne limitiert zwar ihre Aussagekraft, doch eines ist sicher: Auch Plutonium-244 wird in kosmischen Explosionen erzeugt und zur Erde gebracht.
Damit scheint der Weg klar: Es müssen Proben aus dem späten Devon auf Plutonium-244 untersucht werden. Findet man es in entsprechend großer Menge, hat man den Beleg für den außerirdischen Einfluss bei den Massenextinktionen. Zwei Hindernisse machen die Sache allerdings kompliziert. Eines ist technisch bedingt; ein zweites, deutlich gravierenderes ist grundsätzlicher Natur.
Zunächst zum technischen Problem: Von den zwei Beschleunigeranlagen, die eine ausreichende Empfindlichkeit erreichen, ist bloß noch eine in Betrieb. Die AMS-Anlage am Forschungszentrum Garching wurde 2020 stillgelegt, die einzig verbliebene steht in Australien. Dort gelangen 2021 auch die wegweisenden Plutonium-244-Messungen. Das Verfahren ist enorm zeitaufwendig, deshalb hofft Anton Wallner auf die neue Anlage HAMSTER (Helmholtz Accelerator Mass Spectrometer Tracing Environmental Radionuclides), die am HZDR in Betrieb genommen wird: »Wir haben Proben vom Hangenberg-Ereignis, und wir wollen sie auch untersuchen«, betont der Physiker.
»Bis in die 2000er Jahre hat man gedacht, dass Supernovae den r-Prozess durchlaufen, doch es gibt bis heute keine Supernova-Simulation, die das zweifelsfrei belegen würde«Anton Wallner, Physiker
Die grundsätzlichere Schwierigkeit ist: »Plutonium wird durch einen anderen Prozess erzeugt als Eisen«, erklärt Wallner. Damit derart schwere Kerne entstehen, braucht es ein schnelles, explosives Szenario, das innerhalb kürzester Zeit sehr viele Neutronen zur Verfügung stellt, den so genannten r-Prozess. »Bis in die 2000er Jahre hat man gedacht, dass Supernovae den r-Prozess durchlaufen, doch es gibt bis heute keine Supernova-Simulation, die das zweifelsfrei belegen würde.«
Der r-Prozess funktioniert nur unter extremen Bedingungen. Damit die schweren Kerne entstehen können, müssen sie in sehr kurzer Zeit sehr viele Neutronen einfangen. Das erfordert Energien, die in einer durchschnittlichen Supernova nicht erreicht werden. Am 17. August 2017 aber registrierten Gravitationswellendetektoren eine Erschütterung aus der 1,3 Milliarden Lichtjahre entfernten Galaxie NGC 4993, ausgelöst durch die Verschmelzung zweier Neutronensterne. Die dabei entstandene Kilonova, wie man besonders energiereiche Sternexplosionen nennt, erzeugte nicht nur Gravitationswellen, sondern auch den Gammastrahlenausbruch namens GRB170817A. Dabei wurden bis zu 0,05 Sonnenmassen Material ausgestoßen, darunter Nuklide aus der Elementgruppe der Lanthanoide, die lediglich im r-Prozess entstehen sollten. GRB170817A lieferte den ersten empirischen Beleg, dass bei der Verschmelzung von Neutronensternen der r-Prozess in Gang kommt. Bei einem weiteren Gammastrahlenausbruch am 7. März 2023, ebenfalls eine Kilonova, fanden Forscher mit dem James-Webb-Weltraumteleskop eine Emissionslinie, die sie als Tellur interpretierten – ein schweres Element mit Atommasse 130, das ebenfalls nur im r-Prozess gebildet werden kann. Kilonovae müssten also auch Plutonium-244 produzieren.
Sollten Wallner und seine Kollegen in ihren Hangenberg-Proben kein Plutonium finden, bedeutet das zunächst bloß, dass es zur fraglichen Zeit keine Kilonova-Explosion gab, die den r-Prozess in Gang bringen konnte. Es könnte jedoch sehr wohl eine »normale« Supernova gegeben haben. Finden die Wissenschaftler hingegen Plutonium, dann bleibt die Frage, was genau da explodiert ist. War es eine klassische, plutoniumarme, aber sehr nahe Supernova? War es eine plutoniumreiche, exotische Supernova? Oder sogar eine Kilonova? Die Antwort hat entscheidenden Einfluss darauf, wie und ob sich das damit verbundene, entscheidende Rätsel lösen lässt: War das, was das Plutonium erzeugt hat, auch verantwortlich für die Schwächung der irdischen Ozonschicht und das anschließende Massensterben?
Gammablitze – das perfekte Verbrechen?
Die Spuren von Gammastrahlenausbrüchen zu identifizieren, ist wegen ihrer um ein Vielfaches erhöhten Todesdistanz ein noch größeres Problem. Ein GRB mit tödlichen Auswirkungen ist meist immer noch zu weit weg, als dass er Asche-Nuklide auf die Erde regnen lassen würde. Anton Wallner sieht derzeit zwei Möglichkeiten. Keine davon überzeugt: »Eine bestünde darin, dass der GRB Eisen-60 oder Plutonium-244 auf hohe Energien beschleunigt und diese dann als kosmische Teilchenstrahlung direkt ins Sonnensystem eindringen. Dann aber wäre die Menge extrem gering, weil sich das Material durch die enorme Distanz über eine viel größere Fläche verteilt.« Die Alternative sei, dass Radionuklide indirekt in der Erdatmosphäre entstehen, ausgelöst durch die Teilchenstrahlung des GRB: »Dabei würde die kosmische Strahlung des GRB, etwa die dominant darin vorhandenen Protonen, Kernreaktionen in der Atmosphäre in Gang setzen – so wie wir das vom Kohlenstoff-14 oder Beryllium-10 kennen.« Bislang ist allerdings kein Isotop bekannt, das auf diese Weise erzeugt werden und zugleich lang genug leben kann, so dass es über mehrere hundert Millionen Jahre nachweisbar bliebe. Gammablitze ähneln damit einem perfekten Verbrechen: Massenmord auf globaler Skala ohne verräterische Spuren.
Wann die ersten Messergebnisse von den Proben aus der Hangenberg- und Kellwasser-Zeit kommen, kann Wallner noch nicht sagen. Gespannt sein darf man, doch eine endgültige Antwort ist selbst bei einem positiven Fund nicht zwangsläufig zu erwarten. Zu viele Fragen kern-, astrophysikalischer und erdgeschichtlicher Natur sind noch offen. Dass es ein einziges kosmisches Ereignis war, könne man aber ziemlich sicher ausschließen, meint Paläontologe Ralph Becker. Und auch wenn er – wie wohl viele seiner Kollegen – sein Geld nicht darauf setzen würde, dass Supernovae und Gammastrahlenausbrüche die Verursacher katastrophaler Massensterben sind, ist er auf die Resultate der Physiker gespannt. »Ich bin sehr dankbar dafür, dass man da mal nachschaut«, sagt er. Denn sollte ein Blitz aus dem Kosmos das Leben auf unserem Planeten bereits einmal an den Rand des Kollapses gebracht haben, könnte das jederzeit wieder passieren. Unerwartet, schnell und beinahe spurlos.
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