Atmosphärische Physik: Gammablitze lösen jahrhundertealtes Rätsel um Gewitter
Kernreaktoren, Sonneneruptionen, explodierende Sterne und Schwarze Löcher: Wenn man an mögliche Quellen von Gammastrahlen denkt, sind das sind die typischen Objekte, die einem einfallen. Tatsächlich aber haben Flugzeuge, Wetterballons und Geräte am Boden gezeigt, dass die extrem energiereiche Strahlung auch bei Gewittern auf der Erde erzeugt wird.
Die Gammastrahlung tritt in der Regel in zwei verschiedenen Formen auf: entweder durch ein sekunden- bis minutenlanges Glühen oder als starker Ausbruch, der als terrestrischer Gammablitz (englisch: terrestrial gamma ray flash, kurz: TGF) bezeichnet wird und meist weniger als eine Millisekunde dauert. Fachleute um die Physiker Nikolai Østgaard und Martino Marisaldi von der Universität Bergen haben nun in zwei bei der Fachzeitschrift »Nature« veröffentlichten Artikeln über Beobachtungen berichtet, welche die Grenze zwischen diesen beiden Emissionsarten verwischen. Offenbar geht das Glühen oft in intensive Gammapulse über, die TGFs ähneln. Das liefert eine Erklärung für eines der größten Rätsel der Atmosphärenforschung.
Obwohl es rund um den Globus täglich bis zu 40 000 Gewitter gibt, ist das Wetterphänomen nach wie vor unzureichend erforscht; ebenso wie die dabei entstehenden Blitze. Insbesondere ist unklar, wie Unwetter die Blitze auslösen. Dieses lückenhafte Verständnis hat praktische Konsequenzen. Es hindert beispielsweise Raumfahrtbehörden wie die NASA daran, Raketen bei Bewölkung zu starten.
Jahrzehntelange Messungen innerhalb von Unwettern konnten keine elektrischen Felder nachweisen, die nach heutigem Kenntnisstand stark genug wären, um einen Funken für einen Blitz auszulösen. Dennoch schaffen es Gewitter irgendwie, täglich etwa 8,6 Millionen Blitze hervorzurufen. Da Gammastrahlen in Bereichen mit starken elektrischen Feldern entstehen – denselben Feldern, die auch Blitze erzeugen könnten –, hoffen Fachleute durch die Untersuchung dieser energiereichen Strahlung zu verstehen, wie Wolken Blitze erzeugen.
Gammablitze bei Unwettern
Wenn stark beschleunigte Elektronen mit Luftmolekülen zusammenstoßen, strahlen Erstere energiereiche Photonen aus und erzeugen damit sowohl ein Glühen als auch TGFs. Intensive elektrische Felder innerhalb von Unwettern können die so genannten Elektronenlawinen auf nahezu Lichtgeschwindigkeit beschleunigen. Woher all diese energiereichen Elektronen kommen, ist jedoch rätselhaft. Einige Fachleute vermuten, dass sie durch kosmische Strahlung entstehen; andere meinen, die starken elektrischen Felder in der Nähe von Blitzkanälen emittieren sie. Eine weitere Erklärung lautet, dass energiereiche Photonen, etwa von Gammastrahlen, in Elektronen und Positronen zerfallen, die Antiteilchen der Elektronen. Diese könnten wiederum weitere Elektronen aus den Luftmolekülen herausschlagen und so die Lawine auslösen.
Die Forschungsgruppen um Østgaard und Marisaldi haben in ihren neuesten Arbeiten im Rahmen des Projekts »ALOFT« (Airborne Lightning Observatory for FEGS and TGFs) Messdaten von Gammastrahlen vorgestellt, die sie mit einem ER-2-Flugzeug der NASA über Unwettern im Golf von Mexiko, in Mittelamerika und in der Karibik gesammelt haben. Die Beobachtungen stellen die bisherige Unterscheidung zwischen dem Glühen und TGFs in Frage.
Wie die Fachleute um Marisaldi feststellten, erzeugten die Unwetter über tausende Quadratkilometer stundenlang fast ununterbrochen die glühenden Gamma-Phänomene. Jedes einzelne Glühen dauerte in der Regel mehrere Sekunden und schien den Sturm brodeln zu lassen wie einen Kochtopf. Das widerspricht der zuvor verbreiteten Annahme, wonach sich das Glühen nur langsam verändere und keine besonderen Merkmale aufweise.
Das Team um Østgaard konnte zudem zeigen, dass das Glühen mit zunehmender Intensität oft zwischen hell und dunkel schwankt und dann fließend in flackernde Gammastrahlen übergeht, die aus einem Dutzend oder mehr einzelnen Pulsen bestehen können. Sie folgen innerhalb weniger Millisekunden aufeinander. Solche flackernden Gammastrahlen ähneln den mehrfach gepulsten TGFs, die Satelliten im Weltraum in der Vergangenheit beobachtet haben. Das deutet darauf hin, dass es einen gemeinsamen Mechanismus gibt, der das breite Spektrum dieser Phänomene verursacht.
Erstaunlicherweise hält die Erdatmosphäre im 21. Jahrhundert genug Überraschungen bereit, um einen völlig neuen Forschungszweig zu motivieren
Die optischen und elektrischen Feldmessungen von Østgaards Forschungsgruppe belegen, dass das veränderliche Glühen auch ohne Blitz auftreten kann. Demnach kann allein die Elektrifizierung eines Gewitters intensive Gammastrahlen erzeugen. Die Fachleute fanden außerdem heraus, dass Blitze – wenn sie auftreten – oft auf das Glühen folgen. Deshalb liegt die Vermutung nahe, dass das Glühen bei der Entstehung von Blitzen eine Rolle spielt. Ausbleibende Blitze und die hohen Intensitäten von Gammastrahlen schließen Erklärungen aus, wonach kosmische Strahlung und Blitzkanäle die Elektronenlawinen erzeugen. Damit bleiben nur noch die Positronen übrig. Zwar sind weitere theoretische Arbeiten und Beobachtungen nötig. Dennoch ist die Möglichkeit faszinierend, dass Positronen eine Schlüsselrolle bei der Elektrifizierung von Gewittern spielen könnten.
Die von Østgaard und Marisaldi vorgestellten Arbeiten sind Teil eines neuen, wachsenden Forschungsgebiets, der Hochenergie-Atmosphärenphysik. Erstaunlicherweise hält die Erdatmosphäre noch im 21. Jahrhundert genug Überraschungen bereit, um einen völlig neuen Forschungszweig zu motivieren. Die Messungen von ALOFT sind nicht nur aufregend, sie legen auch den Grundstein für künftige Kampagnen, die unser Verständnis von Gewittern und Blitzen revolutionieren könnten.
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