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Gasotransmitter: Flüchtig, giftig, überlebenswichtig

Eingeatmet sind die Gase Stickstoffmonoxid, Kohlenmonoxid und Schwefelwasserstoff hochtoxisch. Dennoch stellt der Körper sie als Botenstoffe selbst her. Womöglich schützen sie unser Gehirn sogar vor neurodegenerativen Erkrankungen.
Composing mit Stickstoffmonoxid (oben), Wasserstoff (Mitte) und Kohlenmonoxid (unten).
Künstlerische Darstellung von Schwefelwasserstoff: Das Molekül besteht aus einem Schwefel- (gelb) und zwei Wasserstoffatomen (grün).

Alfred Nobel (1833-1896), der Erfinder des Dynamits, bekam von seinem Arzt einst Nitroglyzerin verordnet; die explosive Verbindung sollte seine Angina pectoris lindern. Nobel selbst bezeichnete es in einem Brief als eine »Ironie des Schicksals«, dass man ihm gegen das schmerzhafte Engegefühl in der Herzgegend ausgerechnet die Grundlage von Dynamit verschreibe. Man nenne den Stoff »Trinitrin«, um die Apotheker und die Öffentlichkeit nicht zu verunsichern, mutmaßte er.

Erst vor zirka 40 Jahren stellte sich allerdings heraus, dass nicht etwa der Sprengstoff selbst für die Erweiterung der Blutgefäße und eine bessere Durchblutung des Herzens verantwortlich ist, sondern Stickstoffmonoxid (NO), welches der Körper aus dem Nitroglyzerin bildet. NO ist unter normalen Umweltbedingungen gasförmig und das erste wissenschaftlich beschriebene derartige Molekül mit Botenstofffunktion – ein Gasotransmitter, wie Fachleute seither sagen. Für diese Entdeckung erhielten die drei amerikanischen Forscher Robert Furchgott, Ferid Murad und Louis Ignarro 1998 den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin und somit jene höchste Auszeichnung der Wissenschaft, die Alfred Nobel rund 100 Jahre zuvor gestiftet hatte.

Heute kennt man neben Stickstoffmonoxid zwei weitere Gasotransmitter: Kohlenmonoxid (CO) und Schwefelwasserstoff (H2S). Alle drei Stoffe sind in hoher Konzentration extrem giftig, als Bestandteil von Auto- und Industrieabgasen verschmutzen sie die Umwelt (siehe »Schädliche Umweltgase«). Für Mediziner war daher lange Zeit nur schwer vorstellbar, dass sie nützliche Aufgaben in unserem Organismus übernehmen – und dann auch noch derart vielfältige. Letzteres liegt unter anderem daran, dass ihre Funktion nicht von einem bestimmten Rezeptor abhängt; sie können im gesamten Körper wirken. Über die Erweiterung der Blutgefäße helfen die Moleküle etwa, den Blutdruck und den Herzschlag zu kontrollieren sowie die Atmungs- und Verdauungsmuskulatur zu entspannen.

Schädliche Umweltgase

Stickstoffmonoxid

NO ist ein farb- und geruchloses Gas, das an der Luft instabil ist. Letzteres liegt daran, dass es ein ungepaartes Elektron besitzt – man spricht bei solchen Molekülen auch von einem Radikal. Daher ist es sehr darauf bedacht, ein Partnerelektron zu finden und eine Bindung einzugehen. Es verhindert so die Oxidation anderer Substanzen und hat damit antioxidative Eigenschaften. Nach seiner meist unerwünschten Entstehung – etwa bei Verbrennungsvorgängen in der Industrie – existiert es daher in der Regel nur wenige Sekunden. Ist viel Sauerstoff vorhanden, bindet es diesen rasch und wird zu Nitrit oder Nitrat oxidiert. Befindet sich NO in der Atemluft, können die kleinen Gasmoleküle bis tief in die Lungenbläschen eindringen und die Schleimhäute angreifen. Langfristig führt das zu Atemwegserkrankungen. Zudem erhöht eine hohe Stickstoffmonoxidbelastung das Risiko, Herz-Kreislauf-Krankheiten zu entwickeln. Das Gas kann außerdem Pflanzen schädigen und zur Überdüngung und Versauerung von Böden beitragen.

Kohlenstoffmonoxid

CO ist ein farb- und geruchloses und stark brennbares Gas. Es entsteht bei der unvollständigen Oxidation von kohlenstoffhaltigem Material – etwa Holz und Kohle. Dies passiert zum Beispiel, wenn die Stoffe unter Sauerstoffmangel oder sehr hohen Temperaturen verbrennen. So können die Abgase von Autos einige Prozent an Kohlenmonoxid enthalten; Abgaskatalysatoren reduzieren den Anteil aber stark, indem sie CO mit zusätzlichem Sauerstoff zu CO2 oxidieren. Gleiches passiert in der Atmosphäre, jedoch viel langsamer. Auch in der Glut, beispielsweise in einem Holzkohlegrill, ist die Konzentration bisweilen sehr hoch. Hier ist also Vorsicht geboten, denn bereits ein Prozent CO in der Atemluft ist in wenigen Minuten tödlich. Grund hierfür ist, dass das Molekül den Sauerstoff im Blut und in der Muskulatur verdrängt, da es 200-mal stärker an das Transportprotein Hämoglobin bindet. Auf diese Weise blockiert es die lebenswichtige Versorgung der Organe und des Gehirns mit Sauerstoff.

Schwefelwasserstoff

H2S ist ein farbloses, extrem giftiges und auch übel riechendes Gas. Schon in sehr geringen Mengen verströmt es den Geruch fauler Eier, der bei der Zersetzung von Eiweißmolekülen aus schwefelhaltigen Aminosäuren durch Fäulnis- und Schwefelbakterien entsteht. H2S ist daher ein Begleiter vieler Zersetzungsprozesse, die etwa auf Mülldeponien, im Abwasser oder in unserem Darm stattfinden. Das Gas reizt die Schleimhäute, die Lunge und die Augen. Bei längerer Einwirkung von hohen Konzentrationen können dauerhafte Schäden zum Beispiel an der Hornhaut oder in der Lunge entstehen. Die toxische Wirkung beruht auf der Zerstörung des roten Blutfarbstoffs Hämoglobin, wodurch die Zellatmung gelähmt werden kann. Zusätzlich sind Schäden im zentralen Nervensystem möglich. In geringen Mengen wird dem Stoff aber auch eine heilende Wirkung nachgesagt. Quellwasser mit einem natürlich hohen Gehalt an Schwefelwasserstoff soll etwa gegen verschiedene Hautkrankheiten helfen.

Eine der wichtigsten Aufgaben der Gasotransmitter ist der Schutz der Zellen gegenüber oxidativem Stress. Dieser wird von reaktionsfreudigen Sauerstoffverbindungen verursacht, die mit Zellmolekülen wie Lipiden, Proteinen und Nukleinsäuren reagieren und so Schaden anrichten können. Studien deuten sogar darauf hin, dass die Botenstoffe das Gehirn vor Alzheimer und Parkinson schützen.

Allerdings kann es bei chronischen Entzündungen auch zu überschießenden Gasotransmitter-Ausschüttungen kommen. Solche hohen Konzentrationen sind dann gesundheitsschädlich, wie inzwischen etliche Befunde nahelegen. Insbesondere bei neurodegenerativen Krankheiten könnte dieser Mechanismus eine Rolle spielen. »Die Gasotransmitter haben zwei Seiten«, bestätigt der Pharmakologe und Toxikologe Josef Pfeilschifter von der Goethe-Universität und dem Universitätsklinikum Frankfurt, der bereits jahrzehntelang über die Wirkung der Stoffe im menschlichen Organismus forscht. »In niedrigen Dosen entfalten sie einen Schutzmechanismus. Wenn dieser aber exzessiv in Anspruch genommen wird, dann schlägt er um und wird pathologisch.« Auf Grund der vielfältigen Wirkweisen – sowohl positiven als auch negativen – hegen Wissenschaftler darum seit geraumer Zeit die Hoffnung, dass sich aus der Forschung über die drei Moleküle neue Ansatzpunkte für medikamentöse Therapien ergeben könnten.

Der bislang am besten untersuchte Gasotransmitter ist Stickstoffmonoxid. Die Zellen produzieren das Molekül aus der Aminosäure Arginin mit Hilfe eines Enzyms, der NO-Synthase. Es ist elektrisch neutral und löst sich daher im wasserhaltigen Milieu im Inneren der Zelle genauso wie in ihrer fetthaltigen Hülle. NO kann die Zellmembran deshalb ohne Weiteres passieren. Einmal draußen, kommt es auf Grund der vergleichsweise geringen Größe ziemlich weit: Schätzungen zufolge kann sich das Molekül im Gehirn vom Ort seiner Entstehung bis zu einem Radius von zirka 300 Mikrometern entfernen. Das entspricht einem neuronalen Einzugsbereich von rund zwei Millionen Synapsen.

Die Signalübertragung läuft auch rückwärts

Gewöhnliche Neurotransmitter wie Adrenalin, Dopamin oder Serotonin werden von den Nervenzellen in einer Membran verpackt und an der Synapse freigesetzt, wo sie Informationen an das direkt nachgeschaltete Neuron weiterleiten. NO hingegen kann seine Wirkung weit entfernt von der Ursprungszelle entfalten und auf das nachgeschaltete (postsynaptische) sowie im vorgeschalteten (präsynaptischen) Neuron wirken. Der Gasotransmitter fungiert somit auch als retrograder Botenstoff, bei dem die Signalübertragung sozusagen rückwärts abläuft.

Stickstoffmonoxid an der Synapse | NO wird mit Hilfe des Enzyms NO-Synthase hergestellt. Das Molekül diffundiert durch die Membran des vorgeschalteten Neurons. Hier reagiert es mit der Guanylatzyklase (GC), wodurch mit Glutamat gefüllte Vesikel mit der Membran verschmelzen und den Botenstoff freisetzen. Dieser bindet an einen Rezeptor in der Postsynapse; es kommt hier zum Einstrom von Ionen.

Dank dieser Fähigkeit kann Stickstoffmonoxid in die so genannte Langzeitpotenzierung eingreifen – die neurobiologische Grundlage synaptischer Plastizität und somit des Lernens: Werden zwei Nervenzellen immer wieder gemeinsam erregt, erhöht sich die Menge an Botenstoffen sowie die Anzahl der Rezeptoren in der Synapse. Fortan reagiert sie empfindlicher auf eintreffende Signale. Von der postsynaptischen Zelle freigesetztes NO trägt zu der Anpassung bei, indem es am präsynaptischen Neuron die Guanylatzyklase aktiviert. Dieses Enzym führt zu vermehrtem Ausstrom des Botenstoffs Glutamat, der die Signalübertragung verstärkt (siehe »Stickstoffmonoxid an der Synapse«). Entsprechend kann eine Blockade der NO-Synthase die Langzeitpotenzierung verhindern, wie ein Team um De-Lai Qui von der Universität Yanbian in China 2019 im Hypothalamus von Laborratten nachwies.

Zudem erweitert das Gasmolekül die Blutgefäße. Im Gehirn setzen Nervenzellen den Transmitter bei erhöhter Aktivität frei, was die Durchblutung steigert. Diesen Effekt nutzt das Denkorgan offenbar auch bei krankhaften Durchblutungsstörungen – beispielsweise einem Schlaganfall, bei dem wichtige Arterien blockiert sind. Die Ausschüttung von NO bewirkt in solchen Fällen, dass mehr Blut durch andere Gefäße fließen kann und so die Sauerstoff- und Nährstoffversorgung bestimmter Hirnregionen erhalten bleibt.

Vor oxidativem Stress schützt NO die Zellen, indem es sein freies Elektron an reaktionsfreudige Radikale abgibt und sie dadurch unschädlich macht. Vor allem Nervenzellen profitieren davon, da sie nur über relativ primitive antioxidative Abwehrsysteme verfügen. Bei Entzündungsreaktionen im Gehirn, die dazu dienen, Krankheitserreger oder Zelltrümmer zu beseitigen, sondern die wichtigsten Immunzellen des Gehirns, die Mikroglia, daher NO ab.

Bei permanent hohen Spiegeln droht Schaden

Die Schutzwirkung von Stickstoffmonoxid kann sich bei chronischen Entzündungen aber auch ins Gegenteil umkehren. Die NO-Spiegel sind dann permanent hoch, und die Verbindung reagiert unter anderem mit Zellmembranfragmenten oder der DNA, was zu dauerhaften und irreversiblen Schäden führen kann. Im Gehirn passiert das etwa bei einem Schädel-Hirn-Trauma, bei dem es zu anhaltenden Entzündungsreaktionen und einer erhöhten Produktion des Gasotransmitters kommt. Das Absterben zahlreicher Hirnzellen durch Stickstoffmonoxid könnte hier neben Schlaganfällen Erkrankungen wie Migräne oder Epilepsie fördern.

Enzymatische Herstellung von Stickstoffmonoxid | Stickstoffmonoxid (NO) entsteht aus der Aminosäure Arginin. Die Zellen wandeln es unter Zuhilfenahme von Sauerstoff, des Enzyms NO-Synthase und weiterer unterstützender Kofaktoren zu Citrullin und NO um.

Um den Entzündungsschäden nach einer Kopfverletzung entgegenzuwirken, hat die deutsche Firma Vasopharm einen Wirkstoff entwickelt, der die Produktion von NO blockiert. Erste klinische Daten deuten darauf hin, dass das Medikament helfen kann, die Schädigungen von Nervengewebe zu mindern. Ähnliche Ansätze verfolgten auch andere Unternehmen und Forschergruppen. »Im Prinzip sind das alles gute Ideen«, sagt Pfeilschifter. Er bleibt aber skeptisch. »Bislang hat keine zu therapeutisch einsetzbaren Produkten geführt.«

Stickstoffmonoxid kann Alzheimer begünstigen

Dauerhaft erhöhte NO-Spiegel könnten zudem neurodegenerative Krankheiten wie Alzheimer begünstigen. Bereits viele Jahre vor den ersten Symptomen wie Vergesslichkeit und Verwirrtheit entstehen im Gehirn der Patienten und Patientinnen Knäuel und Fasern aus fehlerhaft gefalteten Eiweißmolekülen – die Beta-Amyloid-Plaques beziehungsweise Tau-Fibrillen. Vermutlich tragen diese Proteinansammlungen zum Absterben der Neurone bei. Untersuchungen zufolge fördert NO solche Proteinfehlfaltungen. Nicht nur das: Im Gehirn Betroffener finden sich Ansammlungen von Amyloid-Plaques, die eine Verbindung mit Stickstoff eingegangen sind. Eine Arbeitsgruppe um Michael Heneka von der Universitätsklinik Bonn belegte 2011, dass Verfüttern einer NO-hemmenden Substanz die Menge des stickstoffmodifizierten Beta-Amyloids bei Labormäusen reduziert und Lern- und Gedächtnisstörungen verhindert.

Andererseits schützt Stickstoffmonoxid anscheinend auch gegen Demenzerkrankungen. So bildeten sich im Gehirn genetisch veränderter Labormäuse, denen die NO-Synthase für die Herstellung von NO fehlte, vermehrt Alzheimer-Plaques, wie Susan Austin und ihre Kollegen vom Mayo Clinic College of Medicine in Rochester 2010 zeigen konnten. Eine weitere Untersuchung fand Hinweise auf einen möglichen Mechanismus: NO reduzierte die Konzentration eines Enzyms, das Eiweiße spaltet, die dann zu Beta-Amyloid-Plaques akkumulieren.

Ein Team von der New York University demonstrierte 2005 außerdem, dass Beta-Amyloid einen Signalweg blockiert, an dem NO beteiligt ist. Das beeinträchtigt womöglich die Langzeitpotenzierung und somit die Fähigkeit, Neues zu lernen – ein Symptom, das nicht nur bei Alzheimer, sondern auch bei anderen neurodegenerativen Krankheiten auftritt. Zudem gehen kardiovaskuläre Risikofaktoren wie Alter, Bluthochdruck und Diabetes mit einem vermehrten Auftreten von Alzheimer einher. Und ein gemeinsames Merkmal dieser Krankheiten ist ein Mangel an NO.

Anders als Stickstoffmonoxid ist Schwefelwasserstoff als Gasotransmitter weniger erforscht. Wie NO ist H2S in der Lage, Blutgefäße zu erweitern, und kann vor oxidativem Stress schützen, indem es die Produktion von Antioxidanzien anregt. Zusätzlich hilft H2S, alte und kaputte Zellen und deren Bestandteile abzubauen und zu recyceln. Hier besteht eventuell ein Zusammenhang zu Parkinson: Bei der »Schüttellähmung«, die mit zunehmenden Bewegungsstörungen einhergeht, sind H2S-Signalwege gestört, weshalb die zelluläre Müllabfuhr womöglich nicht mehr richtig funktioniert.

Rolle bei Parkinson

Der Neurowissenschaftler Solomon Snyder von der Johns Hopkins University School of Medicine in Baltimore zeigte 2013, dass das Gasmolekül die Aktivität des Enzyms Parkin steigert, welches schadhafte Proteine für die Abfallentsorgung markiert. Im Gehirn von verstorbenen Parkinsonpatienten fand sich deutlich weniger von der chemisch aktiveren Variante des Enzyms als bei Gesunden. Das könnte erklären, weshalb eine mit H2S angereicherte Atemluft die Bewegungsstörungen und den Niedergang von Neuronen bei parkinsonkranken Mäusen verminderte, wie 2011 ein Team um Kotaro Kida von der Jikei University School of Medicine in Tokio demonstrierte.

Enzymatische Herstellung von Schwefelwasserstoff |

Schwefelwasserstoff kann der Körper auf mehreren Wegen synthetisieren:

• Das Enzym Cystathionin-beta-Synthase (Cbs) verknüpft die beiden schwefelhaltigen Aminosäuren Cystein und Homocystein zu Cystathionin. Dabei wird Schwefelwasserstoff (H2S) frei.

• Cystathionin-gamma-Lyase (CSE) spaltet ein aus zwei Cysteinresten bestehendes Cystinmolekül zu Thiocystein, Pyruvat und Ammoniumionen (NH4+). Thiocystein wiederum zerfällt zu Cystein und H2S.

• Die Enzyme CysteinAminotransferase (CAT) und 3-Mercaptopyruvat-Sulfur-Transferase (3MST) wandeln Cystein über das Zwischenprodukt 3-Mercaptopyruvat zu Pyruvat und Schwefelwasserstoff um.

Wie NO könnte auch H2S bei der Entwicklung einer Demenzerkrankung eine Rolle spielen: Im Lauf des Lebens sinkt der Spiegel dieses Moleküls im Gehirn, vor allem aber bei Menschen mit Alzheimer. Darüber hinaus ist die Schwere der Erkrankung umso ausgeprägter, je geringer die Konzentration des Gasotransmitters ist. Bindu Paul von der Johns Hopkins University School of Medicine in Baltimore und ihr Team konnten 2021 im Tierversuch nachweisen, dass sich durch die Gabe von H2S einige Symptome der neurodegenerativen Erkrankung deutlich lindern lassen. Sie injizierten Mäusen eine schwefelhaltige Substanz und testeten deren kognitive sowie motorische Fähigkeiten über einen Zeitraum von zwölf Wochen. Tatsächlich verbesserten sich sowohl Gedächtnis und Motorik um 50 Prozent im Vergleich zu jenen Tieren, die das Mittel nicht erhalten hatten. Die Forschergruppe fand außerdem heraus, dass sich das Tau-Protein bei Abwesenheit von Schwefelwasserstoff vermehrt ablagert und die für Alzheimer typischen Fasern im Gehirn bildet.

Einen vielseitigen Charakter hat auch der dritte Gasotransmitter Kohlenmonoxid. Seine hochgradig toxische Wirkung beruht auf einer starken Bindung zu Hämoglobin, dem Sauerstofftransporter im Blut. Wird dieses durch CO blockiert, kann es keinen Sauerstoff mehr aufnehmen und zu den Körperzellen transportieren. Außerdem kann CO die Funktion der Energie liefernden Mitochondrien stören und reaktive Stickstoff- und Sauerstoffverbindungen hervorbringen, die wiederum Zellen schädigen.

Enzymatische Herstellung von Kohlenmonoxid | Das Enzym Hämoxygenase baut den roten Blutfarbstoff Häm mit Sauerstoff (O2) und weiteren Kofaktoren zu Biliverdin ab. Dabei spaltet sich Kohlenmonoxid (CO) ab.

Ursprünglich dachte man, CO entstünde im Körper nur als Nebenprodukt und habe keinerlei sinnvolle physiologische Wirkung. Inzwischen ist jedoch klar, dass fast jede Zelle im Körper das Molekül herstellt, sobald sie verletzt oder oxidativem Stress ausgesetzt ist. Denn CO aktiviert indirekt einen Signalweg, der entzündungshemmend und schützend wirkt. Im Nervensystem agiert es als Botenstoff und ist etwa an Gedächtnisprozessen sowie der Regulierung der biologischen Uhr und des Schlaf-wach-Rhythmus beteiligt.

Kohlenmonoxid fördert Heilungsprozesse

Dass CO bei Heilungsprozessen im Gehirn hilft, zeigen folgende Beobachtungen: Bei Kindern und Säuglingen mit schweren traumatischen Hirnverletzungen fanden Forschende vom Children’s Hospital of Pittsburgh 2006 im Nervenwasser einen erhöhten Spiegel von HO-1, dem CO produzierenden Enzym. Ähnliches sieht man bei Ratten nach einem Hirnschlag. Darüber hinaus beeinflusst der Gasotransmitter die Kommunikation zwischen Astrozyten, die unter anderem die Nervenzellen mit Energie versorgen. Dass sich CO im Gehirn womöglich auch therapeutisch einsetzen lässt, legen Versuche an Schweinen nahe: Jakob Wollborn und seine Kollegen von der Universität Freiburg verabreichten den Tieren Kohlenmonoxid, was deren Hirnschäden während eines Herzstillstands reduzierte, wie sie 2020 berichteten.

Menschen mit Alzheimer haben ebenfalls erhöhte Spiegel des HO-1-Proteins im Gehirn. Allerdings ist nicht klar, aus welchem Grund: Schützt CO die Zellen vor den Folgen der Entzündungsreaktionen? Oder trägt CO am Ende selbst zu den Schädigungen der Nervenzellen bei? Ungeachtet dieser offenen Fragen dient HO-1 inzwischen als Serum-Biomarker für die anfängliche Bewertung von Alzheimer. In einer Übersichtsarbeit zu Kohlenmonoxid von 2021 schreiben die Autoren um Rosalba Siracusa von der Universität Messina, es sei nur eine Frage der Zeit, bis klinische Tests den medizinischen Nutzen des Stoffs zeigen würden. Bei welchen Krankheiten CO seine größte Wirkung entfalten könnte, sei jedoch noch unklar. Nichtsdestoweniger plädieren sie dafür, CO künftig eher als »evolutionär konserviertes Schutzgas« zu betrachten anstatt lediglich als giftiges Molekül.

Ob sich pharmakologische Therapien gegen Neurodegeneration, die an den Signalwegen der Gasotransmitter ansetzen, realisieren lassen, ist umstritten: »Zwar gibt es hochinteressante Ansätze, ich kenne aber bislang keine Substanz, die überzeugend wirkt«, sagt Pfeilschifter. Das gilt nicht nur für den Einsatz bei Krankheiten des zentralen Nervensystems, sondern betrifft den gesamten menschlichen Organismus. Vor allem bei entzündlichen Erkrankungen sieht er aber therapeutisches Potenzial bei einer Reihe von Verbindungen, die Gasotransmitter freisetzen. »Die große Herausforderung dabei ist die korrekte und kontrollierte räumliche und zeitliche Dosierung der Stoffe«, sagt der Toxikologe. Denn die Verbindungen wirken eben sehr vielfältig, und das überall im Körper.

Erschwerend kommt hinzu, dass die Moleküle miteinander und mit reaktiven Sauerstoffverbindungen wechselwirken, was zu schädlichen Produkten führen kann. Das macht es schwierig, sie zielgerichtet einzusetzen. Daher betont Pfeilschifter: »Für die Entwicklung von Medikamenten müssen wir zunächst die molekularen Mechanismen der Wirkung und Synthese von Gasotransmittern noch besser verstehen.« Zumindest bis auf Weiteres bleibt deshalb Nitroglyzerin der einzige zugelassene Arzneistoff, der auf einem Gasotransmitter basiert – und wie schon zu Zeiten Alfred Nobels auch heute bei Angina pectoris verabreicht wird.

  • Quellen

Austin, S. A. et al.: Endothelial nitric oxide modulates expression and processing of amyloid precursor protein. Circulation Research 107, 2010

Cao, X. et al.: A new hope for a devastating disease: Hydrogen sulfide in Parkinson's disease. Molecular Neurobiology 55, 2018

Džoljić, E. et al.: Why is nitric oxide important for our brain? Functional Neurology 30, 2015

Giovinazzo, D. et al.: Hydrogen sulfide is neuroprotective in Alzheimer's disease by sulfhydrating GSK3β and inhibiting tau hyperphosphorylation. PNAS 118, 2021

Siracusa, R. et al.: Carbon monoxide: From poison to clinical trials. Trends in Pharmacological Sciences 42, 2021

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