Stammbaum der Fingeralphabete: Wie sich Gebärdensprachen über die Welt verbreiteten
Mit Melchor de Yebras im Jahr 1593 in Madrid veröffentlichtem Werk »Refugium Infirmorum« beginnt die europäische Geschichte der Fingeralphabete. Für jeden Buchstaben des Spanischen verzeichnet es eine Geste. Sie sollte es Gehörlosen ermöglichen, mit ihren Mitmenschen zu kommunizieren und die gesprochene Sprache ihrer Umgebung zu erlernen. Weitere einzelne Veröffentlichungen, etwa in London im Jahr 1698, folgten – und begründeten sukzessive einen ganzen Strauß von miteinander verwandten Fingeralphabeten, die sich über die Welt ausbreiteten.
Bei ihrer Analyse von 40 heute noch verwendeten und 36 historischen Fingeralphabeten stellten Wissenschaftler um Justin Power von der University of Texas in Austin fest, dass sich die untersuchten Fingeralphabete in sechs europäische Abstammungslinien aufteilen lassen, darunter die französische, die englische und die österreichische als produktivste, was ihre Nachkommenschaft angeht.
Insbesondere die Bedeutung des ursprünglich französischen Fingeralphabets war den Wissenschaftlern bereits vorher bewusst. Wie sie in ihrer Veröffentlichung im Fachblatt »Royal Society Open Science« schreiben, geht sie auf das Institut National de Jeunes Sourds de Paris zurück, eine zwischen 1759 und 1771 gegründete Einrichtung zur Erziehung gehörloser Jugendlicher. Die Schule zog Pädagogen aus der ganzen Welt an, die das dort unterrichtete Fingeralphabet mit in ihre Heimat nahmen und in teils abgewandelter Form weiterverbreiteten.
Aus den Daten, die Power und Kollegen erhoben, ergab sich jedoch noch eine weitere einflussreiche Tradition, deren Rolle bislang übersehen worden sei, so die Forscher: Die österreichische Linie habe die Entwicklung der Gebärdensprache in weiten Teilen Westeuropas bis nach Russland beeinflusst.
Sie gehe zurück auf Joseph May und Friedrich Storch, die sich Ende des 18. Jahrhunderts ebenfalls in Paris hatten ausbilden lassen und dann in Wien die erste Gehörlosenschule gründeten. Anders als ihre Verbindung zur Pariser Schule nahelegt, übernahmen sie das dort gelehrte Fingeralphabet aber nicht einfach, sondern wandelten es so weit ab, dass sie eine neue Tradition begründeten.
Um solche Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen den Systemen zu ermittelten, codierten die Wissenschaftler alle 2124 Gesten der 76 Alphabete nach einem einheitlichen System und ließen dann den Computer ein wahrscheinliches Abstammungsnetz berechnen – ein Netz und keinen Stammbaum, denn späterer Kontakt zwischen zwei Buchstabiersystemen konnte immer wieder dazu führen, dass zwei ursprünglich getrennte Linien sich einander wieder annäherten und Elemente der jeweils anderen übernahmen.
Fingeralphabete spielen innerhalb der Gebärdensprache eine Sonderrolle. Sie kommen etwa dann zum Einsatz, wenn sich für einen Eigennamen noch keine Gebärde etabliert hat. Die normale Alltagskommunikation der Gebärdensprachennutzer erfolgt durch ein wesentlich komplexeres System, das nicht die gesprochene Sprache spiegelt, sondern seinen eigenen Regeln folgt.
Gebärden als Alternative zur mündlichen Kommunikation zu nutzen, ist wesentlich älter als die überlieferten Fingeralphabete. Schriftliche Hinweise dafür finden sich schon in der Antike. Und nach Meinung mancher Forscher könnte der Einsatz der Hände beim Sprechen sogar dem von Mund und Stimme vorausgegangen sein.
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