Direkt zum Inhalt

Gedächtnis: Meisen bilden Erinnerungen als neuronalen Barcode

Schwarzkopfmeisen können sich Tausende von Futterverstecken merken. Jedes Versteck erhält dabei einen einzigartigen »Barcode« im Gehirn, der beim Wiederfinden reaktiviert wird. Lässt dies Rückschlüsse auf das menschliche Gedächtnis zu?
Schwarzkopfmeise sitzt in Schneelandschaft auf Ast mit roten Beeren
Schwarzkopfmeisen leben in Wäldern im südlichen Kanada und im Norden der USA. Sie sind Meister des episodischen Gedächtnisses.

Dank des episodischen Gedächtnisses können wir uns an die großen und kleinen Dinge erinnern, die unser Leben füllen: zum Beispiel an die Geburt eines Kindes oder einfach daran, wo wir am Tag zuvor unser Auto geparkt haben. Episodische Erinnerungen kombinieren das Was, Wo und Wann eines Ereignisses. Auch Tiere besitzen diese Fähigkeit – so merken sich etwa Eichhörnchen und einige Vogelarten genau, wo sie im Herbst die unzähligen Samen versteckt haben, die ihnen durch den Winter helfen.

Es wird angenommen, dass episodische Erinnerungen im Hippocampus gebildet werden, aber die genauen neuronalen Mechanismen sind weiter unklar. Im Fokus der Forschung standen bisher vor allem die Ortszellen, die eine räumliche Kartierung der Umgebung ermöglichen. Sie sind immer dann aktiv, wenn ein Mensch oder ein Tier an einen bestimmten Ort kommen. Die Neurone feuern unterschiedlich – je nachdem, was das Tier sieht, was seine Ziele sind und so weiter. So können die Zellen zwischen verschiedenen Ereignissen unterscheiden, auch wenn diese am selben Ort stattfinden. Allerdings müsste der Hippocampus seine »Karte« somit ständig aktualisieren, damit episodische Erinnerungen in Ortszellen realisiert werden können.

Forschende um Dmitriy Aronov von der Columbia University in New York äußersten in einer in »Cell« veröffentlichten Studie eine alternative Idee: Vielleicht entstehen episodische Erinnerungen unabhängig von Ortszellen? Um dem auf den Grund zu gehen, führten sie Experimente mit Schwarzkopfmeisen (Poecile atricapillus) durch. Die Vögel ziehen im Winter nicht weg und müssen daher im Herbst Futterverstecke anlegen, um nicht zu verhungern. Sie sind Meister des episodischen Gedächtnisses und können sich an die Plätze Tausender von Leckerbissen erinnern, die sie in Rinden oder Astlöchern versteckt haben. Wie sie das schaffen, stellte die Wissenschaft bisher vor Rätsel.

Die Fachleute bauten eine Indoor-Arena mit 128 Versteckmöglichkeiten. Mit Hilfe von Videokameras zeichneten sie auf, wann die Schwarzkopfmeisen Sonnenblumenkerne versteckten und wiederfanden. Dank winziger implantierter Elektroden konnten Aronov und seine Kollegen genau nachvollziehen, was dabei in den Neuronen des Hippocampus vor sich ging. Sie fanden Überraschendes: Die Ortszellen veränderten ihre Signale nicht, wenn die Vögel neue Erinnerungen bildeten. Stattdessen feuerten jedes Mal, wenn eine Meise einen Samen versteckte, einige Nervenzellen kurzzeitig in einem einzigartigen Muster – wie ein Strichcode. Dieses Muster wurde reaktiviert, wenn das Tier den Samen wiederfand, selbst nach langen Zeiträumen. »Die Barcodes waren selbst für benachbarte Verstecke völlig unterschiedlich«, sagt Selmaan Chettih, Erstautor der Studie. »Sie sind unglaublich präzise«, fügt er hinzu.

Jeder Barcode repräsentiert ein einmaliges Ereignis

Jeder Barcode repräsentierte ein einmaliges Ereignis. Zudem wurde der Code gelöscht, sobald die Meise den Samen gefunden hatte. »Höchstwahrscheinlich vergessen die Vögel es dann, da sie sich nicht mehr daran erinnern müssen«, sagt Vladimir Pravosudov, ein Evolutionsökologe an der University of Nevada in Reno. »Mit Hilfe der Barcodes lässt sich womöglich eine Erinnerung speichern, die viele einzelne Ereignisse beinhaltet. Gleichzeitig verhindert der Code, dass sich die Ereignisse gegenseitig stören oder ineinander verschwimmen«, sagt Chettih.

Da der Hippocampus sowohl bei Vögeln als auch bei Menschen für episodische Erinnerungen eine wichtige Rolle spielt, könnte bei uns ebenfalls ein solcher Barcode existieren, glaubt Chettih. Pravosudov stimmt zu: Es handle sich wahrscheinlich um einen Artgrenzen überschreitenden, allgemeinen Mechanismus. Womöglich können in naher Zukunft entsprechende Studien bei Menschen stattfinden. »Es gibt bereits Labore, die Aufzeichnungen aus dem Hippocampus bei menschlichen Patienten mit Schläfenlappenepilepsie machen«, sagt Chettih und fügt hinzu: »Während die neuralen Prozesse, die dieser Art von Gedächtnisbildung zu Grunde liegen, noch undurchsichtig sind, sind Barcodes eine viel versprechende Möglichkeit.«

Schreiben Sie uns!

Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.