Gedächtnis: Ganz normale Vergesslichkeit
Neulich fiel mir ein Leserbrief in einer Modezeitschrift in die Hände. Er bezog sich auf einen Beitrag, der den Mangel an Covermodels mit »normalen« Körpermaßen monierte. Die Leserin fragte: »Was ist das? Ich bin nicht klein, ich bin nicht kurvig, auch nicht zierlich und schon lange nicht groß.« Ob sie deshalb normal gebaut sei?
Ähnliches fragen sich die meisten von uns wohl hin und wieder in puncto Erinnerungsvermögen: Bin ich besonders vergesslich? Oder liegen meine Gedächtnislücken noch im Bereich des Normalen? Spätestens, wenn wir über Menschen wie Kim Peak lesen, der 12 000 Bücher wiedergeben konnte, oder Suresh Kumar Sharma, der rund 70 000 Nachkommastellen der Zahl Pi auswendig gelernt hat, wirkt die eigene Merkfähigkeit in der Regel eher mager.
Dabei übersehen wir meist, was unser Gedächtnis Tag für Tag zu leisten vermag. Die etwa 87 Milliarden Nervenzellen mit ihren rund 15 Trillionen Synapsen im Gehirn verfügen über eine gigantische Speicherkapazität. Da das Denkorgan nicht wie ein Computer arbeitet, ist es schwer, sie in Zahlen zu fassen, doch eine grobe Schätzung von Experten lautet: 2,5 Petabyte! Wäre unser Gehirn ein Videorekorder, könnte es etwa drei Millionen Stunden Filme speichern, was für rund 300 Jahre nonstop fernsehen reichen würde.
Zugegeben, der Vergleich hinkt. Denn das Gehirn hält Erinnerungen in Netzwerken von Neuronen fest und nicht auf binären Chips. Die Nervenzellen verändern beim Speichervorgang die Stärke der synaptischen Verbindungen zu den Nachbarneuronen. Das geschieht graduell, was verglichen mit einem binären »An-oder-Aus-Modus« die Speicherkapazität noch einmal stark erhöht.
Allerdings kommt es beim Gedächtnis längst nicht nur auf das Fassungsvermögen an. Autobiografische Erinnerungen zum Beispiel sind viel mehr als eine reine Ansammlung von Fakten und Schulwissen, nicht nur Datenpunkte auf einer Lebenslinie. Sie sind der Stoff, aus dem unser Selbst gestrickt ist, in dem unsere Erlebnisse und Erfahrungen ebenso verwoben sind wie unsere Gewohnheiten und Gefühle. Das Gedächtnis verleiht uns eine individuelle Persönlichkeit und macht uns zu kulturellen Wesen. Dazu müssen wir bei Weitem kein World Memory Champion sein!
Der gigantische Speicher im Gehirn arbeitet wie ein verdeckter Ermittler – er verrichtet seine Arbeit im Verborgenen. So prägen etwa vergangene Erlebnisse und Erfahrungen unsere aktuelle Wahrnehmung. Wie Wegweiser helfen sie, neue Eindrücke zu sortieren: Was kennen wir schon, und was könnte gefährlich sein?
Schätzungsweise 400 000 Reize treffen jede Sekunde auf unsere Sinnesorgane ein. Das Gehirn muss sie sortieren, bewerten und in einen Bewusstseinsstrom einordnen, der die meisten von ihnen untergehen lässt. Die wenigsten Signale werden tatsächlich abgespeichert. Das ist auch gut so, denn sonst würden wir in kürzester Zeit von der Informationsflut überwältigt.
Wie leistungsfähig unser »normales« Gedächtnis ist, demonstriert auch folgendes Gedankenexperiment: Überlegen Sie einmal, was geschähe, wenn Ihre autobiografischen Erinnerungen, Ihre Gewohnheiten, Routinen und Ihr Wissen verloren gingen. Sie wären hilflos verloren in der Gegenwart!
Wo die Erlebnisse gespeichert sind
Doch was passiert eigentlich in unserem Gehirn, wenn wir uns Dinge merken? Beim Thema »Gedächtnis« denken viele Menschen zuerst an das explizite oder auch deklarative Gedächtnis. Es speichert Fakten sowie episodische und autobiografische Erinnerungen. Dabei nehmen Gewohnheiten, Routinen, das so genannte Wahrnehmungslernen sowie motorisches und Nachahmungslernen wahrscheinlich einen deutlich größeren Anteil des Hirnspeichers in Anspruch – Experten gehen von rund 70 Prozent aus.
Auch wenn es keinen eindeutigen Ort gibt, an dem unsere Erinnerungen wie in einer Bibliothek abgelegt sind, so sind doch bestimmte Hirnareale für das explizite Gedächtnis unabdingbar. Dazu gehört an erster Stelle der Hippocampus (siehe »Orte der Erinnerung«).
Gemeinsam mit Teilen des Stirnlappens und des Schläfenlappens ist er für das Abspeichern und das Abrufen autobiografischer Ereignisse verantwortlich. Durch so genannte neuronale Oszillationen – das regelmäßige Auf und Ab der Hirnaktivität – schwingt er im wahrsten Sinn des Wortes mit den Sinnes-, Gefühls- und Bewusstseinszentren des Gehirns im Gleichtakt. Das hilft sowohl beim Abspeichern von Erinnerungen als auch beim orchestrierten Abruf.
Der Hippocampus spielt also die Rolle eines Dirigenten, der die Stimmen der einzelnen Instrumente zu einem harmonischen Ganzen zusammenfügt. Zudem dient er als eine Art Filter für deklarative Gedächtnisinhalte: Nur mit seiner Hilfe gelangen sie in die Großhirnrinde, wo sie sich zu anderen, ähnlichen Erinnerungen gesellen – entweder, weil sie im selben Kontext entstanden sind, von demselben Gefühl, derselben Musik begleitet waren, oder weil sie Teil derselben Geschichte sind. Das passiert oft sogar an mehreren Orten der Hirnrinde parallel.
Ein Schleppnetz voller Erfahrungen
Rufen wir unsere Erinnerungen wieder ab, so verhalten sie sich wie ein Schwarm Stare: Sie bleiben eng beieinander in einer schwer vorhersehbaren Formation. Wollte man bestimmte Gedächtnisinhalte einfangen, würde man gleichzeitig auf diverse miteinander verknüpfte Erinnerungen stoßen.
Sobald wir etwas Ungewohntes erleben, etwa ein neues Restaurant besuchen, muss unser Gehirn viele unbekannte Reizkonstellationen verarbeiten. Zum Beispiel gibt es Speisen, die wir nicht kennen, und die Räumlichkeiten sind uns fremd. Aber wir können auf alte Erfahrungen zurückgreifen: Vielleicht wissen wir bereits, dass uns Nudelgerichte gut schmecken und dass der Weg zu den Toiletten in der Regel ausgeschildert ist. So verbindet unser Gehirn die neuen Erlebnisse mit unserem Vorwissen zu einer Art Schleppnetz, das immer mehr Erfahrungen aufnimmt und mit sich zieht.
Alle ankommenden Reize gelangen über die Sinnessysteme zum Hippocampus sowie zur Amygdala – einem Kerngebiet im Schläfenlappen, das die Ereignisse auf ihren emotionalen Gehalt hin überprüft. Der Hippocampus wiederum ordnet die Informationen nach Relevanz: Während wir schlafen, sortiert er Unwichtiges aus und verschiebt Wichtiges in Bereiche der Hirnrinde.
Der wesentliche Kern einer Erinnerung, der auf viele unterschiedliche Situationen anwendbar ist – im Englischen auch als »gist« bezeichnet –, bleibt im Hippocampus gespeichert. Das kann beispielsweise die Erkenntnis sein, dass dampfende Flüssigkeiten in der Regel heiß sind oder dass ein Stuhl eine Sitzfläche und eine Rückenlehne besitzt. So können wir auch künftig blitzschnell eine neue Situation einordnen und darauf reagieren.
»Erinnerungen setzen sich aus vielen kleinen Teilen des ursprünglichen Ereignisses zusammen, die wieder abgerufen und erneut zu einer Erinnerung zusammengesetzt werden«Eleanor Maguire, University College London
Wie Studien der Neurowissenschaftlerin Eleanor Maguire und ihres Teams vom Londoner University College nahelegen, trägt der vordere Teil des Hippocampus zur Spezifität des Gedächtnisses bei. Er speichert vorübergehend Details von Episoden, etwa die Erinnerung an den ersten Kuss, und verschiebt sie im Lauf der Zeit in die Großhirnrinde.
Der hintere Bereich wiederum hält die gemeinsame Essenz verschiedener Ereignisse, also den »gist«, dauerhaft fest – deshalb sprechen Experten hier auch von »gist memory«. Neuroforscher um Susumu Tonegawa vom Massachusetts Institute of Technology in Boston identifizierten sogar spezifische Neuronenpopulationen, die solche Gedächtnisinhalte codieren. Sie werden immer dann aktiviert, wenn wir erneut eine ähnliche Erfahrung machen.
Diese Form der Organisation könnte dem Gehirn dabei helfen, blitzschnell mit unbekannten Situationen zurechtzukommen und neue Informationen rasch in bestehende Netzwerke einzubauen. Die Neuronengruppen für das »gist memory« sind wahrscheinlich auch für das Transferlernen verantwortlich: Sie ermöglichen es uns, bereits vorhandenes Wissen zu nutzen, um neue Zusammenhänge zu lernen.
Jedes Mal, wenn wir etwa zu Abend essen, werden demnach Gedächtniszellen im Hippocampus aktiviert – unabhängig davon, wo wir uns befinden und was wir zu uns nehmen. Um Speicherplatz zu sparen, zieht der hintere Bereich des Areals so viel generalisierbares Wissen (gist) wie möglich aus der Situation heraus und gleicht es mit alten Erfahrungen ab. Zugleich versucht der vordere Teil zusammen mit dem Schläfenlappen, möglichst viele Details und unverwechselbare Informationen abzuspeichern. Sobald wir nun die Gedächtnisinhalte wieder abrufen, kehren die Aktivitätsmuster zurück, die zum Zeitpunkt der Codierung aufgetreten waren.
Die Loci-Methode
Gedächtniskünstler nutzen häufig die so genannte Loci-Methode. Dabei verknüpfen sie die sich zu merkenden Inhalte – etwa eine Reihe von Gegenständen oder Zahlen – gedanklich mit ihnen bekannten Orten. Laut einer aktuellen Studie können auch Laien von der Methode profitieren. Nutzen sie diese Technik bei Gedächtnistests, arbeiten der Gyrus parahippocampalis sowie Teile des Frontalkortex effizienter. Außerdem verstärkt sich die neuronale Verbindung zwischen Hippocampus und Hirnrinde, was die Gedächtnisleistung auch langfristig steigert.
Wagner, I. C. et al.: Durable memories and efficient neural coding through mnemonic training using the method of loci. Science Advances 7, 2021
Wie Forscher auf Grund von Computersimulationen und Experimenten an Versuchstieren schon länger wissen, spielen dabei insbesondere die so genannten Theta-Rhythmen eine wichtige Rolle. Diese langsamen Wellen der Hirnaktivität durchlaufen das Gehirn mit einer Frequenz von drei bis sieben Hertz. 2019 gelang dem Mediziner Srinivas Kota und seinen Kollegen an der University of Texas in Dallas der Beweis, dass die Theta-Oszillationen auch bei Menschen eine solche Aufgabe haben. Die Forscher untersuchten 19 Erwachsene, denen auf Grund einer schweren Epilepsie Elektroden ins Gehirn implantiert worden waren. Die Messfühler dienten in erster Linie dazu, den neuronalen Ursprung der Anfälle zu ermitteln, boten den Medizinern aber zudem die Möglichkeit, weitere Hirnfunktionen zu untersuchen.
Kota und sein Team ließen die Patienten eine assoziative Erkennungsaufgabe ausführen, bei der sie sich zusammenhängende Wortpaare merken mussten. Gleichzeitig zeichneten die Forscher die neuronale Aktivität im Hippocampus auf. Dabei entdeckten sie Theta-Wellen, die nur dann auftraten, wenn die Teilnehmer ihr assoziatives Gedächtnis bemühten.
Die oszillatorischen Muster, die während der Codierung auftraten, wiederholten sich beim Abruf des Gemerkten – und zwar umso deutlicher, je besser sich die Probanden erinnerten. Konnten sie die korrekte Assoziation nicht mehr herstellen, war auch das ursprüngliche Theta-Muster nur schwach ausgeprägt.
Verschiedene Hirnbereiche sind also über neuronale Rhythmen zeitlich miteinander gekoppelt. Die Eindrücke werden im Arbeitsgedächtnis zwischengespeichert, wo mitentschieden wird, welche von ihnen ins Langzeitgedächtnis gelangen und welche wir getrost vergessen können.
Bisher nahm man an, das Arbeitsgedächtnis beruhe lediglich auf einem Zusammenspiel von Hippocampus und präfrontalem Kortex. Neueste Studien zeigen aber, dass auch der Thalamus hier einen wichtigen Beitrag leistet. Ursprünglich hielt man ihn für eine schlichte Schaltstation zwischen Sinnesorganen und Hirnrinde. Doch wie wir nun wissen, verstärkt er zudem bestimmte neuronale Rhythmen und erhöht damit die Wahrscheinlichkeit, dass ein Erlebnis oder neues Wissen vom Kurz- ins Langzeitgedächtnis überführt wird.
Kann man ein fremdes Gedächtnis auslesen?
Obwohl es sich unzählige Forschergruppen zur Aufgabe gemacht haben, das Gedächtnis zu erforschen, hat es noch niemand geschafft, einzelne Erinnerungen einer Person oder eines Versuchstiers zu entschlüsseln. Das wird auch nicht so leicht möglich sein, denn die gespeicherten Informationen sind höchst subjektiv und mit persönlichen Emotionen belegt. Außerdem ist das Wissen über verknüpfte Gedächtnisinhalte für Außenstehende kaum zu begreifen.
Kann man aber wenigstens Spuren von Erinnerungen im Gehirn sehen? Tatsächlich ist es Forschern um Susumu Tonegawa gelungen, so genannte Engramme im Mäusegehirn sichtbar zu machen und sogar zu manipulieren. Die Forscher nutzten dazu die Technik der Optogenetik, mit deren Hilfe man die Aktivität einzelner Nervenzellen im Gehirn durch Licht steuern kann. Sie veränderten das Genom von Labormäusen derart, dass deren Nervenzellen sich verfärbten, sobald sie eine Erinnerung abspeicherten. So konnten die Neurobiologen später unter dem Mikroskop erkennen, welche Zellen Teil des Engramms waren.
Außerdem fügten Tonegawa und seine Kollegen ein Gen ein, das die Nervenzellen immer dann feuern ließ, wenn sie mit blauem Licht bestrahlt wurden (siehe »Manipulierte Erinnerungen«). Anschließend setzten die Forscher die Mäuse in einen ihnen unbekannten Käfig, wo sie in Ruhe herumlaufen konnten. Während die Tiere die Umgebung erkundeten, nutzten die Wissenschaftler den oben beschriebenen Trick, um die für diese Erinnerung zuständigen Gedächtniszellen anzufärben. Am nächsten Tag kamen die Mäuse in eine zweiten Kammer, wo sie einen leichten Elektroschock an den Pfoten erhielten, während die Forscher diejenigen – nun farblich markierten – Zellen mit Licht aktivierten, die die Erinnerung an den ersten Käfig codierten. Einen weiteren Tag später wurden die Nagetiere erneut ins erste Gehege gesetzt. Und siehe da: Sie erstarrten vor Angst, obwohl sie dort nie gepeinigt worden waren. Es war also eine falsche Erinnerung entstanden!
Die Forscher haben hierfür natürlich tief in die Trickkiste der Biotechnologie greifen müssen. Doch auch unser eigenes Gedächtnis lässt sich immer wieder täuschen. Auch wenn wir es nicht wahrhaben wollen, hortet jeder von uns falsche Erinnerungen, die er für echt hält. Manchmal vermischen sich sogar neue Eindrücke mit alten, oder sie verfärben sich durch veränderte Gefühle und Meinungen. Wie Wikipedia-Einträge werden sie immer wieder umgeschrieben. Und manchmal landen dabei auch völlig falsche Erinnerungen wie ein Kuckucksei in unserem Kopf.
Das Gedächtnis ist demnach keine Festplatte, kein Filmarchiv aus unserem Leben, aus dem wir Episoden nach Belieben abspielen können. Wir schaffen ständig Platz im Gehirn und bewahren nur eine Auswahl an Momenten auf – andernfalls würden wir wohl in unseren Erinnerungen versinken.
In der Rückschau macht unser Gedächtnis also viele Fehler. Das kann mitunter ärgerlich sein und so manchen Streit entfachen. Doch die Vergangenheit spielt für unseren Speicher im Gehirn eine viel geringere Rolle, als man meinen mag. Denn worauf es vor allem ankommt, ist die Planung künftiger Verhaltensweisen. Selbst unsere episodischen Erinnerungen setzen wir ein, um die Zukunft zu gestalten, um Szenarien gedanklich durchzuspielen und um kreativ zu sein. Sie sind der Rohstoff für unsere Visionen.
Die Fähigkeit unserer Vorfahren, sich Gefahren oder Jagdstrategien vorzustellen, war im Zuge der Evolution möglicherweise der erste Schritt hin zu unserer beachtlichen Gabe, neue Ideen zu entwickeln und Pläne zu schmieden. Und je mehr ein Mensch über die Welt weiß, je mehr vergleichbare Szenarien er zuvor erlebt hat, desto leichter wird es ihm fallen, dieses Wissen in die Zukunft zu projizieren.
Dass unser episodisches Gedächtnis dabei hilft, bevorstehende Ereignisse oder Verhaltensweisen zu simulieren, zeigen auch Untersuchungen an Menschen, deren Hippocampus geschädigt ist. Einer davon war der berühmte Patient H. M. (1926–2008). Wegen schwerer epileptischer Anfälle hatten seine Ärzte sich damals dafür entschieden, jeweils einen Teil der beiden Schläfenlappen zu entfernen, darunter den Hippocampus. Fortan litt er unter einer anterograden Amnesie: Er konnte sich zwar noch an vergangene Erlebnisse erinnern, sich nach der Operation jedoch weder neue Dinge merken noch die Zukunft vorstellen.
Die Erinnerungen an frühere Ereignisse waren zudem eher semantischer Natur, also reine Fakten ohne verknüpfte Sinnesempfindungen oder Gefühle – so wie es bei einem intakten episodischen Gedächtnis üblich wäre. Das verdeutlicht auch ein Gesprächsprotokoll des Gedächtnisforschers Endel Tulving mit seinem Patienten N. N., dessen Hippocampus ebenfalls geschädigt war:
Tulving: »Eine Frage die Zukunft betreffend: Was werden Sie morgen machen?«
N. N: »Ich weiß es nicht.« (Lächelt ausweichend, 15 Sekunden Pause)
T.: »Erinnern Sie sich noch an meine Frage?«
N. N.: »War es nicht, was ich morgen machen werde?«
T.: »Ja. Wie würden Sie beschreiben, wie es ist, wenn Sie versuchen, daran zu denken?«
N. N.: »Leere, nehme ich an. Es ist, als wäre man in einem Raum ohne Gegenstände und würde gebeten, sich einen Stuhl zu suchen, es dort aber keinen gibt.«
Wie viel Vergessen ist normal?
Allerdings ist selbst mit intaktem Hippocampus kein Gedächtnis perfekt: Vergesslichkeit und Fehler sind systemimmanent, sie gehören also zur Natur der Sache und haben erst einmal nichts mit dem Alter zu tun. Dennoch beginnen ältere Menschen oft, ihre Erinnerungsfähigkeit zu hinterfragen.
Dabei zeigen eine Reihe von Untersuchungen, dass zwar das semantische Gedächtnis für Fakten und Namen im Alter langsamer und weniger präzise arbeitet – wie verschiedene andere Abläufe im Gehirn auch –, die Gedächtnisleistung insgesamt jedoch nur unwesentlich abnimmt.
Aber Achtung: Wenn wir glauben, immer vergesslicher zu werden, kann das schnell zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung werden! Denn die Leistungsfähigkeit unseres Gehirns hängt auch davon ab, was man sich zutraut, wie Studien an Senioren gezeigt haben. Während die Teilnehmer auf den Beginn eines Gedächtnistests warteten, lauschten einige von ihnen unfreiwillig einem Gespräch der Versuchsleiter im Vorraum. Diese unterhielten sich darüber, wie schlecht alte Menschen in dem Test abschneiden. Und tatsächlich machten die Kandidaten anschließend deutlich mehr Fehler als die Senioren einer Kontrollgruppe, die einem solchen Gespräch nicht zugehört hatten.
Wer meint, das eigene Gedächtnis würde nachlassen, richtet sein Augenmerk stärker auf Momente, in denen es fehlerhaft gearbeitet hat. Irgendwann leidet darunter die Motivation, die grauen Zellen weiterhin anzustrengen, und die Leistung nimmt wirklich ab.
Ich bin 56 Jahre alt, während ich diesen Text schreibe, geboren genau 400 Jahre nachdem Arantius den Hippocampus im menschlichen Gehirn entdeckte. Wie vielen meiner Generation fällt es mir schwer, mir Namen zu merken, und hin und wieder muss ich zweimal in die Küche zurückgehen, um mich zu erinnern, was ich aus dem Keller holen wollte. Das Problem ist hier weniger mein Langzeitgedächtnis als eine zu große Ablenkbarkeit. Denn mit zunehmendem Alter reduziert sich die Kapazität des Arbeitsgedächtnisses, das die selektive Aufmerksamkeit im Gehirn steuert. Es hält den Inhalt unserer Gedanken und Sinneseindrücke für wenige Sekunden fest, darunter das, was wir im nächsten Augenblick zu tun gedenken.
Aber auch Zerstreutheit ist kein reines Ü-50-Phänomen. Laut Studien nimmt bereits ab dem 30. Lebensjahr die Leistungsfähigkeit des Arbeitsgedächtnisses ab. Jede Ablenkung – ein neuer Gedanke, ein vibrierendes Smartphone, eine Zwischenfrage – kann bewirken, dass wir den Faden verlieren. Das passiert in jedem Alter, allerdings zunehmend öfter, je betagter wir werden.
Wie unter anderem junge Eltern, Schichtarbeiter und Menschen mit bestimmten psychischen Erkrankungen wissen, schränken zudem andere Faktoren das Arbeitsgedächtnis ein. Dazu zählen beispielsweise Schlafmangel, Stress und seelische Belastung. Nicht ohne Grund hat sich bei übermüdeten Müttern der Begriff »Stilldemenz« etabliert, der mit einer echten Demenz rein gar nichts zu tun hat.
Letztere betrifft fast ausschließlich Senioren: Rund zwei Prozent aller 60-Jährigen entwickeln eine Form von Demenz, wobei sich das Risiko von da an etwa alle fünf Jahre verdoppelt. Mit 80 liegt es bereits bei über 30 Prozent. Dennoch deutet nicht jede verlegte Brille im Alter zwangsläufig auf eine biologische Störung hin. Bei den meisten Menschen jenseits der 60 ist vor allem das Langzeitgedächtnis noch intakt, wie Neurologen von der University of Pittsburgh feststellten.
Es gibt sogar Komponenten unseres inneren Speichers, die sich im fortgeschrittenen Alter noch verbessern können – darunter das Expertenwissen, das von möglichst viel Erfahrung profitiert. Senioren punkten vor allem, wenn es darum geht, Muster und Regelmäßigkeiten zu entdecken sowie in komplexen Situationen korrekte Vorhersagen zu treffen.
Das erste Mal Toskana riechen
Alterungsprozesse machen den Denkapparat mit der Zeit langsamer, daran geht kein Weg vorbei. Gibt man älteren Menschen aber etwas mehr Zeit, schneiden viele von ihnen in kognitiven Tests immer noch überraschend gut ab. Schließlich müssen sie einen deutlich größeren Datenbestand durchforsten als jüngere, um die gesuchten Fakten oder die gesuchte autobiografische Erinnerung zu finden.
Und manchmal fehlt schlicht die Neugier, noch etwas Neues zu lernen. Unser Gehirn speichert Dinge, die wir zum ersten Mal erleben, mit hoher Priorität und mit besonders vielen Details ab, egal in welchem Alter. So kann ich mich noch gut daran erinnern, wie ich das erste Mal an einem echten Liga-Fußballspiel teilnehmen durfte oder wie ich erstmals den Duft der Toskana eingeatmet habe. Damals waren solche Dinge neu und aufregend. Beim zweiten und dritten Mal jedoch blieb schon deutlich weniger von den Erlebnissen hängen. Im Alter gibt es freilich nicht mehr viel, das komplett neu für uns ist.
Ein altes Gehirn beherbergt eine große Zahl an generalisierbaren Erinnerungen. Erleben wir nun vor allem Dinge, die daran anknüpfen, achten wir nicht mehr so sehr auf die Details. Der hintere Teil des Hippocampus macht die Arbeit, während der vordere ruht. So gelangen im Alltag vieler Senioren nur noch wenige neue Erinnerungen in den Langzeitspeicher der Großhirnrinde.
Damit dieser weiterhin möglichst detailreichen Input erhält, sollten alte Menschen aktiv nach frischen Eindrücken suchen; nach unbekannten Aromen im Essen, nach neuen Ausflugszielen oder Bekanntschaften. Denn Forscher wissen schon lange: Neue Erlebnisse zu sammeln ist der beste Weg, um das Gehirn jung, plastisch und wachsam zu halten. Aber auch die alten Geschichten sollten nicht in Vergessenheit geraten, daher erzählt man sie am besten immer mal wieder jemand anderem.
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