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Braunalgen: Das verkannte Riff

Während Australiens Korallen die Schlagzeilen beherrschen, sind seine von Brauntang dominierten Riffe der gemäßigten Zonen mindestens ebenso wichtig - und ebenso gefährdet. 30 bis 60 Prozent der dortigen Arten sind an keinem anderen Ort der Erde zu finden. Jetzt endlich schenkt man ihnen die verdiente, zu ihrer Wiederherstellung notwendige Aufmerksamkeit.
Braunalgen (Durvillaea antarctica)

Der Himmel ist strahlend blau, in der Luft hängt ein schwerer, stechender Geruch nach Salz, Fisch und leichter Fäulnis, und der Seetang ist buchstäblich überall. In dicken, glitschigen Matten bedecken die auch als Kelp bezeichneten großen Braunalgen die Felsenküste. Sie hängen aus den träge kauenden Mäulern frei herumlaufender Kühe, die sich das nährstoffreiche Strandgut einverleiben, und türmen sich auf den Anhängern der »Kelpies« – jener Einheimischen, die den angespülten Seetang aufsammeln und an die Kelp-Verarbeitungsanlage der Insel verkaufen. Dort werden daraus Tierfutter, Dünger und Zutaten für Lebensmittel und Kosmetikprodukte hergestellt.

Algen ernten als Beruf | »Kelpie« John und sein Hund Bruce mit einem Anhänger voller Braunalgen (Durvillaea potatorum) auf King Island in Tasmanien.
Die Braunalgenindustrie | Die King Island Kelp Industries ernten und exportieren das getrocknete Kelp (Durvillaea potatorum) von King Island.

Im Ort stapeln sich die Braunalgen in den Gängen des Lagers von King Island Kelp Craft, einem Kunsthandwerksbetrieb, dessen Mitarbeiter Seepferdchen, Kleine Fetzenfische und anderen dekorativen Wandschmuck aus Seetang fertigen. Die Künstlerin und langjährige Inselbewohnerin Caroline Kininmonth verwendet die mit Rüschen gesäumten Algenwedel sogar, um aus ihnen Designerkleider für ihre Barbiepuppen-Installationen zu kreieren. Hier auf King Island vor der Nordwestküste Tasmaniens ist die Braunalge Durvillaea potatorum, auch »bull kelp« genannt, derart allgegenwärtig, dass man sich eine Zukunft ohne sie nur schwer vorstellen kann. Doch für die Tangwälder dieser Region sind die Aussichten alles andere als rosig.

Modische Algenkreation | Caroline Kininmonth, die auf King Island lebt, verwandelt Braunalgen in Kunst – zum Beispiel Designerkleider für Barbiepuppen.

Kelp benötigt kühle, nährstoffreiche Gewässer, um optimal zu gedeihen; eine Erwärmung der Weltmeere bekommt ihm daher nicht. Erhöhte Wassertemperaturen, die über einen längeren Zeitraum anhalten, schwächen die Gesundheit der großen Braunalgen, verlangsamen ihr Wachstum und beeinträchtigen ihre Reproduktionsfähigkeit. Wirken auf den in Mitleidenschaft gezogenen Seetang obendrein starke Stürme ein, werden die langen Algenschnüre häufig vom Meeresboden losgerissen.

Neue tödliche Fressfeinde

Neben den direkten Auswirkungen hat die fortschreitende Meereserwärmung zu Folge, dass sich in den Tangwäldern neue Pflanzen fressende Einwanderer wie etwa tropische Fische oder Seeigel ansiedeln. In manchen Gebieten – insbesondere dort, wo ihre natürlichen Fressfeinde durch Überfischung oder intensive Bejagung stark dezimiert wurden – können die Eindringlinge ausgedehnte Kelpbestände in nur wenigen Monaten dem Meeresboden gleichmachen.

Im Oktober 2018 veröffentlichten Wissenschaftler der University of Western Australia in Perth unter der Leitung des Meeresbotanikers Thomas Wernberg eine Studie, in der sie die Reaktion von 15 der häufigsten Arten von Braun- und anderen Großalgen des Great Southern Reef auf zukünftige Klimaszenarien vorhersagten. Das Riff besteht aus einem etwa 71 000 Quadratkilometer großen von Tangwäldern dominierten Küstenstreifen im Süden Australiens, der von Brisbane über ganz Tasmanien bis nach Kalbarri reicht. »Selbst wenn wir von den optimistischsten Szenarien ausgehen, werden diese Arten bis zum Jahr 2100 voraussichtlich zwischen 30 und 100 Prozent ihrer jetzigen Bestände als Folge der Meereserwärmung einbüßen«, prognostiziert Wernberg.

Hier in Tasmanien, einer Region, in der sich die Ozeane etwa viermal schneller als im weltweiten Durchschnitt aufheizen, ist die Lage schon jetzt ziemlich ernst. Während zahlreiche Braunalgenarten in den Küstengewässern rund um die Insel schwer unter den steigenden Wassertemperaturen leiden, ist der Riesentang (Macrocystis pyrifera) insgesamt am stärksten betroffen. Im Verlauf der letzten 75 Jahre verschwand diese Art aus 95 Prozent ihres ehemaligen Verbreitungsgebiets an der tasmanischen Ostküste.

»Ein Wald aus riesengroßen Bohnenstangen« | Der Riesentang Macrocystis pyrifera wächst in australischen Gewässern nur noch an wenigen Stellen. Diese bieten Nahrung, Unterschlupf und Brutplätze für viele Arten, die auch wirtschaftlich eine wichtige Rolle spielen.

Erste Auszeichnung als gefährdete marine Ökosysteme

Craig Johnson von der University of Tasmania war der Erste, der diesen dramatischen Rückgang dokumentierte. Der Meeresökologe hatte Luftaufnahmen aus den 1940er Jahren bis ins Jahr 2011 ausgewertet, um den Rückgang dieser Braunalgenart nachzuvollziehen. Die vielen Bewohner Tasmaniens, die ihren Lebensunterhalt mit Hilfe der küstennahen Riffe bestreiten, diskutieren das Problem bereits seit Jahrzehnten.

Fischer hatten Johnson unzählige Geschichten darüber erzählt, wie dicht die Unterwasserwälder früher gewesen seien; sie hätten regelrechte Kanäle in die dicken Matten schneiden müssen, um zu verhindern, dass diese ihre Schiffsschrauben blockierten. Heute dagegen »ist diese charakteristische und überaus wichtige Lebensgemeinschaft der Küstengewässer an einem Großteil der tasmanischen Ostküste praktisch nicht mehr zu finden«, macht Johnson deutlich. In einem Versuch, die wenigen verbliebenen Macrocystis-Bestände des Landes zu retten, erklärte die australische Regierung die Riesentangwälder im Jahr 2012 offiziell zu gefährdeten marinen Ökosystemen – eine erstmals verliehene Auszeichnung, die den bekanntlich ebenfalls bedrohten Korallenriffen Australiens bislang vorenthalten wurde.

»Diese schattige, düstere und manchmal sogar ziemlich dunkle Welt steckt voller seltsamer Kreaturen«
Justin Gilligan, Unterwasserfotograf

Nach Ansicht des Unterwasserfotografen Justin Gilligan, der nördlich von Sydney aufwuchs und in den von Kelp geprägten Ökosystemen des Great Southern Reef tauchen lernte, wohnt den Riesentangwäldern ein besonderer Zauber inne. »Du schwimmst durch diese wogenden Wälder aus riesengroßen Bohnenstangen, und da das meiste Algenmaterial wie ein dichtes Blätterdach an der Wasseroberfläche treibt, ist das ›Unterholz‹ tatsächlich recht offen«, berichtet Gilligan. »Man kann den Lebensraum quasi in 3-D erkunden, taucht weiter nach oben, wo sich die blätterartigen Algenwedel befinden, und entdeckt, dass diese schattige, düstere und manchmal sogar ziemlich dunkle Welt voller seltsamer Kreaturen steckt.«

Seine ersten Erfahrungen in einem Riesentangwald sammelte Gilligan vor etwas mehr als zehn Jahren an der Küste von Eaglehawk Neck in Südtasmanien. Damals habe es etliche gesunde Macrocystis-Wälder in den Küstengewässern des Orts gegeben, und Mick Baron, der Betreiber einer gewerblichen Tauchbasis, sei regelmäßig mit Touristen hinausgefahren, um dort zu tauchen, erinnert sich der Unterwasserfotograf.

Heute jedoch ist kein einziger der Kelpwälder mehr vorhanden. Um für diese Reportage Fotoaufnahmen von Macrocystis pyrifera zu machen, musste Gilligan an die Südspitze Tasmaniens reisen und mit einem hauptberuflichen Abalonentaucher weit aufs Meer hinausfahren. In den dortigen, für den Ökotourismus zu abgelegenen Gewässern fand sich Gilligan allein in der verwunschenen Umgebung eines der letzten Riesentangwälder Australiens wieder.

Verborgener und unterschätzter Schatz

Trotz seiner enormen Größe zählt das Great Southern Reef zu den klassischen verborgenen Schätzen. Angesichts der stattlichen Einnahmen von über sieben Milliarden US-Dollar (mehr als sechs Milliarden Euro), die dort pro Jahr allein durch Fischerei und Tourismus erzielt werden, und da es für etwa 70 Prozent der Australier in einer kurzen Autofahrt erreichbar ist, könnte man meinen, sein Ruhm sei dem des Great Barrier Reef ebenbürtig. Für die meisten scheint aber auch hier das Prinzip »aus den Augen, aus dem Sinn« zu gelten. Bis zum Jahr 2016, als eine interdisziplinäre Gruppe von Forschern, unter ihnen Craig Johnson, in einer wissenschaftlichen Publikation für die allgemeine Anerkennung dieses Riffs plädierte, hatte das Great Southern Reef noch nicht einmal einen Namen.

Womöglich beruhen die weit gehende Vergessenheit des Riffs und seine mangelnde Wertschätzung zumindest teilweise auf den verkannten Eigenschaften seiner definierenden Organismen: Brauntang und andere Großalgen. Es ist das Zeug, das Schiffsschrauben blockiert, öffentliche Badestrände verunreinigt und sich um die Extremitäten unerschrockener Schwimmer windet, die sich in die kühlen Gewässer seines Lebensraums vorwagen. Die meisten der mehr als 1000 Großalgenarten sind grün, braun, zuweilen auch kräftig rostrot – ganz im Gegensatz zu ihren weiter nördlich lebenden Nachbarn, den knallbunt schillernden Korallen –, und selbst ihre Mitbewohner sind größtenteils in passende Farben gehüllt. Trotz des schlichten Erscheinungsbilds wäre (und war) es allerdings ein schwerer Fehler, Meeresalgen und die komplexen Ökosysteme, denen sie zu Grunde liegen, zu unterschätzen oder gar zu ignorieren.

Obwohl Kelp und andere Großalgen keine Pflanzen, sondern Makroalgen sind, die Systematiker in dieselbe bunt zusammengewürfelte Gruppe der Protisten einordnen, zu der auch Amöben und Schleimpilze zählen, drängt sich ein Vergleich mit ihnen zwangsläufig auf. Wie die Pflanzen betreiben Makroalgen Fotosynthese. Sie besitzen blattartige Strukturen (so genannte Phylloide), die das Sonnenlicht absorbieren und in speicherbare Kohlenhydrate umwandeln, und wurzelähnliche Haftorgane (so genannte Rhizoide), mit denen sie sich am Meeresboden verankern. Stängelartige Strukturen, die Cauloide, sorgen dafür, dass die Phylloide die oberen Wasserschichten erreichen und dort das Sonnenlicht einfangen können. Ihre manchmal erstaunlich hohen Wachstumsraten können 27 Zentimeter pro Tag betragen, etwa beim Riesentang. Und wie die zu den urtümlichen Pflanzen zählenden Farne pflanzen sich auch die Großalgen fort, indem sie Sporen in ihre Umgebung abgeben.

»Auf Braunalgen gründen sich ganze Lebensgemeinschaften. Diese Makroalgen bieten vielen hundert Arten Schutz, Nahrung und einen Lebensraum«
Adriana Vergés, Meeresökologin

Diese physiologische Ähnlichkeit ist zwar bemerkenswert; weitaus wichtiger sind aber die funktionellen Gemeinsamkeiten zwischen Makroalgen und Pflanzen. Wie die Bäume eines Regenwalds bildeten Großalgen das Fundament ihrer Welt und fungierten als Ökosystemingenieure, erklärt die Meeresökologin Adriana Vergés von der University of New South Wales in Sydney. »Auf ihnen gründen sich ganze Lebensgemeinschaften. Diese Makroalgen bieten vielen hundert Arten Schutz, Nahrung und einen Lebensraum.«

Zu den zahlreichen Bewohnern des Great Southern Reef zählen außerirdisch anmutende Lebewesen wie etwa die Riesensepia (Sepia apama) und der Kleine Fetzenfisch (Phyllopteryx taeniolatus), die Taucher aus aller Welt in dieses Meeresgebiet locken. Selbst gefährdete Spezies wie beispielsweise der Sandtigerhai (Carcharias taurus) und der in tasmanischen Küstengewässern endemische »spotted handfish« (Brachionichthys hirsutus) sind in den Unterwasserwäldern des Riffs beheimatet. Und nicht zuletzt leben hier kommerziell bedeutsame Tierarten wie Langusten und Seeohren, auch Abalonen genannt. Die beiden Wirbellosen bilden die Grundlage der zwei wichtigsten Fischereizweige Australiens, die pro Jahr zusammen etwa 357 Millionen US-Dollar (etwa 313 Millionen Euro) erwirtschaften.

Gepunkteter Armflosser | Ein »spotted handfish« (Brachionichthys hirsutus) tapert am Grund der Mündung des Derwent River in der Nähe von Hobart, Tasmanien, entlang.

Viele Arten sind hier weltweit einzigartig

Für Wissenschaftler wie Vergés oder Johnson, die viele Jahrzehnte lang marine Großalgen und ihren Rückgang untersucht haben, besitzen diese Ökosysteme zweifellos einen unschätzbaren Wert. Dieser ist zum Teil sicherlich wirtschaftlich begründet; der eigentliche Wert des Great Southern Reef liegt jedoch in seiner verblüffenden, oft einmaligen Artenvielfalt. Laut der 2016 erschienenen Veröffentlichung, in der sich Wissenschaftler für die Anerkennung und den Schutz des Riffs einsetzten, sind 30 bis 60 Prozent seiner Arten an keinem anderen Ort der Erde zu finden. Zum Teil sei geografische Isolation – derselbe Faktor, der zur Entwicklung der Beuteltiere führte – für die Fülle an außergewöhnlichen Organismen des Great Southern Reef verantwortlich, heißt es in der Publikation. Eine ebenso große Rolle spielten aber Umweltparameter wie regionale geologische Bedingungen und Klimaverhältnisse, die hier in den 50 Millionen Jahren vor der industriellen Revolution auf bemerkenswerte Weise konstant geblieben sind.

Ihr Arbeitstag beginnt einige Stunden vor Sonnenaufgang. Während dichte, kalte Nebelschwaden über die Hafenanlagen an der Pirates Bay im Südosten Tasmaniens kriechen, ziehen sich Simon Wally und Shane Bloomfield Ölzeug an, das von den vergangenen Tagen noch nicht ganz trocken ist, und beladen ihr Boot mit ihrer abgenutzten Ausrüstung. Der Himmel und das Wasser sind noch immer tiefschwarz, als die beiden Männer sich auf den Weg zu ihren Langustenfallen machen, die sie am Nachmittag zuvor ausgelegt haben. Die starke Dünung scheint sie förmlich zu drängen, wieder an Land zurückzukehren. Als aber die Sonne endlich aufgeht und ihren warmen Schein auf die schroffe, waldbedeckte Felsenküste wirft, die die Bucht umgibt, wirkt die gesamte Szene gleich weniger bedrohlich. »Hier morgens aufzuwachen, ist einfach wunderschön«, bestätigt Gilligan.

Braunalgenrecycling | Kelp, das auf die Felsen an der tasmanischen Küste gespült wurde, trocknet und zerfällt. So liefert es seine Nährstoffe zurück an die Umgebung, in der es gewachsen ist.

Während die Gegend um Pirates Bay sowohl über als auch unter der Meeresoberfläche unglaublich pittoresk ist, stehen die tieferen Gewässer der Bucht immer mehr Schwierigkeiten gegenüber. Als Wally und Bloomfield ihre Langustenreusen einholen, finden sie darin zusammengedrängt zwar etliche Neuseelandlangusten (Jasus edwardsii), doch es sind weniger Tiere als erwartet, und ihre Größe ist geringer als gewöhnlich. Die Fangkörbe enthalten außerdem einige Exemplare der Ostaustralischen Languste (Sagmariasus verreauxi), einer Warmwasserart, die sich früher nie bis in die südtasmanischen Gewässer vorwagte. Dieser Fang der Langustenfischer stellt die Momentaufnahme einer Fischerei dar, die sich gerade massiv verändert.

Fischerei leidet unter der Erwärmung der Ozeane

Die Larven der Neuseelandlanguste können sich in Kelpwäldern erfolgreicher ansiedeln und werden dort weniger häufig von Fressfeinden erbeutet als in kargen, nicht von Großalgen bewachsenen Lebensräumen, wie Wissenschaftler der University of Tasmania in einer Studie aus dem Jahr 2015 nachgewiesen haben. Es ist also kein Wunder, dass sich mit dem Rückgang der Tangwälder auch die Bestände der in Tasmanien heimischen Langusten verringern. Und obwohl die Ostaustralische Languste als Folge der Meereserwärmung in die tasmanischen Gewässer einwandern konnte, muss diese Art in einem sich verschlechternden Habitat ebenfalls um ihr Überleben kämpfen.

Nicht ganz unerwartet leidet neben der Langustenfischerei eine weitere Industrie unter der Erwärmung der Ozeane. In den letzten Jahrzehnten haben die Auswirkungen des Klimawandels die südaustralische Abalonenfischerei sogar weitaus schwerer getroffen. Wird die Schwarzlippen-Abalone (Haliotis rubra) wärmeren Wassertemperaturen als gewöhnlich ausgesetzt, erhöht sich ihre Stoffwechselrate und sie speichert weniger Energie; dadurch reagieren diese Meeresschnecken insgesamt anfälliger auf Stress. Eine lang anhaltende Meereshitzewelle in den Jahren 2015 und 2016 führte beispielsweise zu einem Massensterben, dem an der Süd- und Südostküste Tasmaniens tausende Seeohren zum Opfer fielen.

Abalonentaucher | Dean Lisson fügt seinem Sammelbeutel vor den Actaeon Islands im Süden Tasmaniens eine weitere Abalone hinzu.

Darüber hinaus haben das Schwinden der Tangwälder und eine starke Vermehrung von Brauntang fressenden Seeigeln den Abalonen einen zusätzlichen klimawandelbedingten Schlag versetzt. Für die sich hauptsächlich von Kelp ernährenden Seeohren ist es mittlerweile weitaus schwieriger geworden, an Futter zu kommen; zudem herrscht um die begrenzten Kalorien jetzt eine sehr viel stärkere Konkurrenz. Nur selten gewinnen die Meeresschnecken diesen Wettstreit. Wenn Exemplare des südaustralischen Seeigels Centrostephanus rodgersii in einen Tangwald eindringen, fliehen die Abalonen und suchen in Felsspalten und anderen Ritzen Schutz, wo sie allerdings kaum Nahrung finden, wie Forscher in Feldexperimenten demonstrieren konnten.

Seeigel-Invasion verursacht Unterwasserwüsten

In tasmanischen Gewässern wurde 1978 das erste Exemplar von Centrostephanus rodgersii entdeckt, der zu den Diadem-Seeigeln gehört. Seitdem sind die Populationen dieser Seeigelart, die zum Laichen Wassertemperaturen von mindestens zwölf Grad Celsius benötigt, vor der Küste Tasmaniens auf geschätzte 20 Millionen Individuen angewachsen. »Der fortschreitende Klimawandel hat die Region immer mehr zu einem geeigneten Lebensraum für Centrostephanus rodgersii werden lassen«, stellt der Meeresbiologe Scott Ling von der University of Tasmania fest.

In den Jahren 2016 und 2017 führte der Forscher umfassende Bestandsaufnahmen durch, um die zunehmende Verbreitung dieser Eindringlinge zu verfolgen. Als er seine Studie beendete, hatten die Seeigel bereits rund 15 Prozent der tasmanischen Ostküste in Gebiete verwandelt, die Ling als »Unterwasserwüsten frei von jeglichem marinem Leben« beschreibt. Ohne menschliches Eingreifen werden sich diese Einöden am Meeresboden in den nächsten zwei Jahren verdoppeln und nahezu ein Drittel der dortigen Küste einnehmen, sagt der Meeresbiologe voraus.

Um eine solch katastrophale Entwicklung aufzuhalten, testen Ling und andere Forscher gerade diverse Strategien zur Eindämmung von Seeigeln und deren praktische Umsetzung. Ihre vielfältigen Bemühungen reichen von technisch einfachen Verfahren wie dem Absammeln der Seeigel durch Abalonen- und Hobbytaucher über die Etablierung einer Seeigelfischerei zur Gewinnung des als Delikatesse geltenden Rogens bis hin zu Hightechmethoden wie etwa der Erprobung einer Unterwasserdrohne, die Seeigel selbstständig aufspüren und zerstören kann.

Drohnen und Langusten gegen Seeigel

Ironischerweise scheint die vielversprechendste Waffe dieses Arsenals eine Spezies zu sein, die ebenso wie die Schwarzlippen-Abalone um ihren Fortbestand ringt: die Neuseelandlanguste. In tasmanischen Gewässern stellen große Langusten die wichtigsten Fressfeinde von Centrostephanus rodgersii dar und können, wenn ihre Bestände gesund sind, als äußerst wirkungsvolle Wächter von Tangwäldern fungieren. Freilandversuche haben gezeigt, dass eine robuste Langustenpopulation die Bildung von Unterwasserwüsten sogar dann aufhalten kann, wenn die invasiven Seeigel bereits begonnen haben, ein Gebiet zu erobern. Wissenschaftler setzen sich deshalb für ein Herabsetzen der Fangquoten für Langusten in der Berufs- und Freizeitfischerei ein und haben zudem ein Programm zur Aufzucht dieser Tiere in Gefangenschaft gestartet, um die Langustenpopulationen in Osttasmanien mit dem dringend benötigten Nachwuchs zu versorgen.

Insgesamt verschaffen all diese Bemühungen den letzten noch existierenden Kelpwäldern und der von ihnen abhängigen ökonomisch wichtigen Fischerei vielleicht eine faire Überlebenschance. Dennoch wird die Lösung des Seeigelproblems, so schwierig diese Aufgabe auch sein mag, allein nicht ausreichen, um die bedrohten Ökosysteme zu erhalten. Neben ihren Maßnahmen zum Schutz der verbliebenen Tangwälder denken Wissenschaftler daher über Methoden nach, mit deren Hilfe sie die ihrer Vegetation beraubten Unterwasserlebensräume vor dem Hintergrund des fortschreitenden Klimawandels wieder renaturieren können.

Braunalgen ziehen um

Vor vier Jahren startete Craig Johnson zusammen mit einer Gruppe von Kollegen der University of Tasmania ein ambitioniertes Projekt. Die Wissenschaftler hatten die Idee, gesunde Exemplare der Braunalge Ecklonia radiata auf ein mehr als einen Hektar großes Gebiet verödeten Meeresbodens zu verpflanzen, das sich zwischen der Insel Maria Island und der Ostküste der tasmanischen Hauptinsel befindet. In mühevoller Arbeit verankerten die Meeresforscher 500 ausgewachsene Ecklonia-Exemplare auf 28 künstlichen Riffflächen, die sie in den darauf folgenden 18 Monaten sorgfältig überwachten. Sie kontrollierten das Wachstum und den Fortpflanzungserfolg des Brauntangs und dokumentierten, welche Organismen sich in dem von Menschenhand geschaffenen Lebensraum neu ansiedelten. Die Ergebnisse dieser Studie unterstreichen die Bedeutung großer Braunalgen als Gestalter von Ökosystemen und liefern wichtige Erkenntnisse im Hinblick auf zukünftige Bemühungen zur großräumigen Wiederherstellung von Tangwäldern.

Gesundheitscheck für Braunalgen | Der Meeresökologe Craig Johnson taucht ab, um eine Stelle vor Maria Island zu untersuchen, an die Algen der Art Ecklonia radiata verpflanzt wurden. Das Zelt über den Makroalgen misst die Fotosyntheserate – ein Indikator für deren Gesundheit.

Schon nach sechs Wochen wimmelte es auf den neu angepflanzten Braunalgenflächen von zahlreichen Tieren und weiteren Algenarten. Auf ihren Kontrolltauchgängen konnten die Forscher häufig außergewöhnliche Interaktionen zwischen Meereslebewesen beobachten, etwa einen Maori-Kraken (Macroctopus maorum), der einer Armee von Seespinnen (Leptomithrax gaimardii) begegnete. »Mich hat das Ganze sehr an den Film ›Feld der Träume‹ erinnert«, gesteht Cayne Layton, der als Postdoc in Johnsons Arbeitsgruppe forscht, »an die geheimnisvolle Stimme, die dem Hauptdarsteller Kevin Costner verspricht: ›Wenn du es baust, kommt er zurück.‹ Das gilt offensichtlich auch für die Tangwälder und ihre Bewohner.«

Obwohl jede neu angelegte Ecklonia-Fläche eine Anzahl unterschiedlicher Arten anlockte, waren die Testtangwälder nicht gleich erfolgreich, wenn es um nachfolgende Braunalgengenerationen ging. »Eines der grundlegendsten Dinge, die wir in unseren Experimenten gelernt haben, ist die Tatsache, dass es kritische Mindestgrößen und -dichten von Brauntangpflanzungen gibt, die nicht unterschritten werden dürfen, da sich die Tangbestände andernfalls nicht selbst erhalten können«, unterstreicht Layton. »Wenn zu wenig ausgewachsene Exemplare vorhanden sind, müssen die Jungalgen hart ums Überleben kämpfen – vermutlich weil die adulten Makroalgen umweltbedingte Stressfaktoren wie etwa hohe Lichtintensitäten und Sedimentation verringern.«

Damit sich die Erhaltungsstrategie als praktikabel und wirkungsvoll erweist, sollten künftige Wiederherstellungsversuche darauf ausgerichtet sein, eigenständig lebensfähige Tangwälder zu schaffen. Aus ihren Studien mit E. radiata kennen die Forscher jetzt immerhin einige Faktoren, die sie zum Erreichen dieses Ziels berücksichtigen müssen.

»Operation Crayweed« bevölkert Meeresboden wieder

Andere, räumlich begrenzte Renaturierungsbemühungen am Great Southern Reef haben ebenfalls zur Erweiterung dieses Wissens beigetragen. In den Gewässern vor Sydneys Küste hat ein von der Meeresökologin Adriana Vergés geleitetes Forscherteam lebensfähige Populationen einer anderen einst häufigen, mittlerweile jedoch immer selteneren Großalgenart erfolgreich etabliert – ein Projekt, das die Wissenschaftlerin »Operation Crayweed« taufte. Zwar sind die fortpflanzungsreifen ausgewachsenen Exemplare der hier als »crayweed« bekannten Braunalge Phyllospora comosa inzwischen verschwunden, die Vergés und ihre Mitarbeiter vor einigen Jahren auf verödeten Meeresbodengebieten anpflanzten; aber ihre Nachkommen gedeihen prächtig, breiten sich sogar aus und besiedeln neues Terrain.

Verpflanzte Braunalgen | Meeresökologin Adriana Vergés inspiziert eine Stelle mit Braunalgen (Phyllospora comosa), die ihr Team vor die Küste Sydneys verpflanzt hat.

Wie Layton und Johnson machte auch Vergés die Erfahrung, dass eine Mindestgröße der renaturierten Flächen entscheidend für ein erfolgreiches dauerhaftes Wiederansiedeln der Makroalgen ist. Zum Teil half diese kritische Größe den neu angepflanzten Braunalgen einfach nur, dem Beweidungsdruck von Herbivoren wie beispielsweise Seeigeln standzuhalten.

Bemerkenswerterweise fand die Meeresökologin im Rahmen ihrer Untersuchungen außerdem heraus, wie sie die Fortpflanzungsraten von P. comosa gegenüber den natürlichen Bedingungen im Freiland signifikant steigern konnte. »Unserer Ansicht nach hängt einer der Gründe für die unglaublich hohen Reproduktionsraten in unseren renaturierten Crayweed-Gebieten unmittelbar mit dem Wiederansiedlungsprozess zusammen«, erläutert Vergés. »Das Verfahren, bei dem wir die Großalgen aus dem Wasser nehmen, für ein bis zwei Stunden trocknen lassen und dann wieder ins Meer entlassen, stimuliert die Freisetzung von Eizellen und Spermatozoiden.«

Supertang: Algen für warme Gewässer

Wenn man nach den Ursachen für den Rückgang der Braunalge P. comosa in diesem Meeresgebiet sucht, verweisen viele Wissenschaftler auf die Wasserverschmutzung früherer Jahre durch das damals rasch wachsende Sydney. Inzwischen hat die Stadt jedoch für eine bedeutende Verbesserung ihrer Wasserqualität gesorgt und verschafft Vergés dadurch den Vorteil, ihre Makroalgen in eine relativ saubere und gesunde Umgebung verpflanzen zu können. Aber weiter südlich, wo die Folgen des Klimawandels bereits deutlich spürbar sind und sich laut Prognosen in Zukunft besonders gravierend auswirken werden, finden Johnson und Layton weniger gute Bedingungen vor. Da sie die dort herrschenden Klimaverhältnisse unmöglich kurzfristig ändern können, müssten sie sich auf das Verpflanzen von Braunalgen konzentrieren, die wärmeres und nährstoffarmes Wasser tolerieren, erklärt Layton.

Aus diesem Grund hat die University of Tasmania im November 2018 gemeinsam mit der Climate Foundation eine neue Initiative ins Leben gerufen. Diese zielt darauf ab, individuelle Exemplare des Riesentangs Macrocystis pyrifera zu identifizieren und nachfolgend zu kultivieren, die besser an die sich erwärmenden Ozeane angepasst sind. Das Forscherteam, dem auch Johnson und Layton angehören, plant, den so genannten Supertang auf 100 Quadratmeter großen Versuchsflächen im Freiland anzusiedeln und einwandernde Seeigel per Hand zu entfernen, um ihren negativen Einfluss möglichst gering zu halten. Innerhalb der Testfelder werden die Wissenschaftler nach einzelnen Vertretern des Riesentangs Ausschau halten, die in der Lage sind, den für die Region vorhergesagten zukünftigen Umweltbedingungen besser zu widerstehen.

»Wir sind optimistisch, dass wir innerhalb der Restbestände warmwassertolerante Genotypen des Riesentangs finden und gezielt vermehren können«
Cayne Layton, Meeresbiologe

Vor dem Hintergrund, dass bereits 95 Prozent der Riesentangwälder im Osten Tasmaniens verschwunden sind, mögen die Bemühungen der Wissenschaftler nahezu sinnlos erscheinen. Doch gerade in die verbleibenden Überreste setzen die Meeresforscher große Hoffnung. »Eigenartigerweise erfreuen sich die restlichen fünf Prozent von Macrocystis pyrifera, die verstreut entlang der Küste als Einzelindividuen oder gelegentlich in kleinen Gruppen auftreten, offenbar bester Gesundheit«, berichtet Layton. »Wir sind daher optimistisch, dass wir innerhalb dieser Restbestände warmwassertolerante Genotypen des Riesentangs finden und gezielt vermehren können, die uns als Grundstock für effektive und umfassende Wiederansiedlungsmaßnahmen dienen werden.«

Eine Umkehr des Klimawandels wäre sicherlich die beste Lösung, um einen Großteil der Zerstörung rückgängig zu machen, die diesen wertvollen Ökosystemen gerade widerfährt. Dennoch können innovative Renaturierungsansätze zumindest dafür sorgen, dass sie – und auch wir – wertvolle Zeit gewinnen.

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