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Neurobiologie: Gefährliche Erblast?

Seit 30 Millionen Jahren schleppt die Menschheit Retroviren in ihrem Genom herum. In der Regel sind sie harmloser Ballast, manchmal sogar nützlich; doch manch eines steht im Verdacht, Krankheiten zu verursachen - auch die Multiple Sklerose?
Die Diagnose Multiple Sklerose (kurz: MS) ist ein harter Schlag: Zeitlebens wird der Betroffene mit immer wiederkehrenden Krankheitsschüben rechnen müssen. Dann quälen ihn Gefühlsstörungen der Haut, Sehstörungen, Nervenschmerzen oder Muskellähmungen. Diese Symptome können sich zwar oftmals wieder vollkommen zurückbilden, manchmal aber verschlechtert sich der Zustand kontinuierlich. Eine heilende Therapie gibt es nicht.

Auslöser der Beschwerden sind Schäden an den Nervenzellen des Gehirns: Ein Entzündungsprozess zerstört die isolierende Schutzhülle der Nervenfasern, was wiederum deren Informationsübertragung stört – mit den entsprechenden Ausfallserscheinungen. Damit ist zwar bekannt, was bei dieser Krankheit passiert, nicht aber, wie es dazu kommt. Vermutlich tragen mehrere Faktoren dazu bei: Hauptverdächtige sind bestimmte Immunzellen, die T-Zellen, die irrtümlicherweise den eigenen Körper attackieren. Daneben stehen manche Gene im Verdacht, die Neigung für die Erkrankung zu beeinflussen. Außerdem Wissenschaftler es für möglich, dass Viren ihre Finger im Spiel haben.

Einen ganz besonderen Virustyp nahm die Arbeitsgruppe um Christopher Power von der Universität Calgary ins Visier: Humane endogene Retroviren, kurz HERVs. Sie haben sich vor längst gelebten Zeiten im Laufe der Primatenevolution ins menschliche Genom eingeschlichen und machen heute rund acht Prozent davon aus. Dort tun sie meist gar nichts. Manche jedoch produzieren Proteine, die an Krankheiten beteiligt sind, andere wiederum übernehmen physiologische Funktionen.

Ein solches ist das Eiweiß Syncytin, dass vom humanen endogenen Retrovirus W (HERV-W) hergestellt wird; es hilft in der Schwangeschaft beim Aufbau der Plazenta mit. Bestimmte Aminosäuresequenzen in seinem Aufbau lassen aber auch vermuten, dass es in die Aktivierung von Immunzellen eingreift. Sollte womöglich dieses Protein für die entzündlichen Prozesse bei MS verantwortlich sein?

Power und seine Kollegen untersuchten nun die Gehirne verstorbener MS-Patienten auf ihren Gehalt an Syncytin hin und verglichen ihn mit demjenigen von Patienten mit Alzheimer, HIV-Enzephalitis oder von Menschen ohne neurodgenerative Erkrankung. Die Denkorgane von MS-Patienten wiesen im Vergleich eine deutlich erhöhte Menge an Syncytin auf – vor allem in zwei bestimmten Zelltypen: den Astrozyten, harmlosen Stützzellen, und der Mikroglia, die für die Entsorgung abgestorbener Zellen zuständig ist.

Als die Forscher dann solche Astrozyten, die besonders viel Syncytin herstellten, in der Zellkultur züchteten, produzierten diese große Mengen an entzündungsfördernden Signalstoffen sowie an hochaggressiven Sauerstoffradikalen. Diese Substanzen wiederum töteten einen weiteren Zelltyp, die Oligodendrozyten. Diese bauen die Schutzschicht um die Nervenfasern herum auf; sie sind es auch, die der Krankheit MS zum Opfer fallen.

Nun machten die Wissenschaftler die Gegenprobe: Der brisanten Mischung aus aggressiven Astrozyten und attackierten Oligodendrozyten fügten sie die antioxidativ wirkende Ferulasäure zu: Diese sollte sich schützend vor die Oligodendrozyten werfen, indem sie die todbringenden Sauerstoffradikale abfängt. Die Rettungsaktion gelang der Ferulasäure tatsächlich – auch in lebenden Mäusen. Die Nager, die infolge einer hohen Syncytinproduktion unter motorischen Ausfällen litten, konnten sich nach einer Behandlung mit Ferularsäure wieder deutlich besser bewegen.

Demnach könnte Syncytin – zumindest teilweise – für die destruktiven Prozesse bei MS verantwortlich sein, und Antioxidantien kämen als Therapeutikum in Frage. Nun muss noch geklärt werden, ob Syncytin der alleinige Verursacher der Krankheit ist. Auf eine heilende Therapie werden MS-Patienten also noch eine Weile warten müssen.

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