Stuttgart-21: Der schwellende Albtraum
Der Anhydrit ist ein graues, mit schwarzen Schlieren durchzogenes Mineral, das man zwischen den glitzernden Edelsteinen von Mineraliensammlern nur selten findet. Doch es machte vor zehn Jahren, im November 2010, bundesweit Schlagzeilen. Damals trafen im Stuttgarter Rathaus, moderiert vom Schlichter Heiner Geißler, Gegner und Befürworter des neuen Stuttgarter Tiefbahnhofs aufeinander. Für Erstere war auch das Mineral, das unter Stuttgart häufig vorkommt, ein Ärgernis. Denn kommt der Anhydrit mit Wasser in Kontakt, kann er quellen. Das heißt, Anhydrit löst sich in Wasser und kristallisiert zu Gips aus. Der Gips braucht aber 60 Prozent mehr Platz und kann beim Quellen einen immensen Druck aufbauen, der sich auf den Tunnel überträgt, ihn beschädigen oder sogar zerstören kann. In einem Dutzend anderer Tunnel gäbe es solche Schäden. Und in Staufen im Breisgau hob sich in Folge einer Bohrung nach Erdwärme in anhydritführendem Gestein die historische Altstadt.
In Stuttgart dagegen soll das Quellen ausbleiben, sagt Walter Wittke, der Tunnelbau-Sachverständige der Deutschen Bahn für Stuttgart-21. Er verspricht beim Streitgespräch 2010 vollmundig, gleich vier zweiröhrige Strecken quer durch den Anhydrit bauen zu lassen, also acht Tunnelröhren, alle gleichermaßen stabil und standsicher für 100 Jahre.
Tatsächlich ist der Stuttgarter Untergrund tückisch. Das liegt daran, dass tektonische Kräfte Süddeutschland angehoben haben, von West nach Ost, zwischen Oberrhein und Bayrischem Wald wie eine gewaltige, jetzt schief stehende Tischplatte. Dazwischen kamen durch Erosion die Gesteine des Erdmittelalters zum Vorschein und mit ihnen der Gipskeuper mit seinem Anhydrit. An manchen Stellen ist er bereits im Laufe der letzten Jahrtausende zu Gips umgewandelt, anderswo blieb er knapp unter der Oberfläche, kam bislang nicht mit Wasser in Kontakt und war stabil. »Hier wurde quasi ein Zahn angeknackst«, sagt der Paläontologe und Gegner des Tiefbahnhofs, Ralf Laternser. Und er sagt weiter: Es sei unverantwortlich gewesen, vier doppelröhrige und jeweils 55 Kilometer lange Tunnel zu bohren, von denen neun Kilometer durch anhydritführendes Gestein verlaufen.
Nun aber sind all diese Tunnel gebohrt und gesprengt. Im Juni 2020 feierten die Mineure auch im letzten Tunnel den Durchschlag, dem 3,2 Kilometer langen Feuerbachtunnel, der den Tiefbahnhof in Richtung Norden anbindet. Was hat sich in all der Zeit getan? Wie gut beherrschen Ingenieure und Geologen inzwischen das Gestein?
Rätselhaft wasserfrei
Chemisch war der Anhydrit nicht schwer zu entschlüsseln. Im Bergbaustädtchen Freiberg in Sachsen liegt hinter einer holzgetäfelten Tür die mineralogische Sammlung von Abraham Gottlob Werner. Der soll sich als einer der Ersten mit dem Mineral beschäftigt haben. In dem Saal funkelt es golden und silbern, es leuchtet violett, blau oder grün. Der Anhydrit sieht zwischen all diesen Edelsteinen wie ein Fremdkörper aus, ein unscheinbarer, grauer, länglicher Kristall. Werner begriff Ende des 18. Jahrhunderts als Erster seine chemische Struktur: Es gibt eine chemische Verwandtschaft zwischen Gips und Anhydrit. Anhydrit basiert, wie Gips, auf Kalziumsulfat, nur fehlt ihm das in den Kristall eingebaute Wasser.
Wie der wasserfreie Anhydrit entstand, ist bis heute nur zur Hälfte geklärt: Sicher ist, dass der Gipskeuper vor 230 Millionen Jahren abgelagert wurde. Dort, wo heute Stuttgart liegt, breitet sich damals ein Meer in der Nähe des Äquators aus. Es ist brütend heiß, tagsüber weit über 40 Grad. Die Reste des Meeres verdampfen, und aus dem Meer wird ein Salzsee. Gleißend weiße Inseln aus Kalk, Gips und Salz, über denen die Luft wabert, während immer heißere Tümpel mit einer lebensfeindlichen Brühe zurückbleiben. Bis aber eine nennenswerte Gipsmenge zusammenkommt, ergießt sich wiederholt Wasser in das Becken, bevor es wieder austrocknet, drei Millionen Jahre lang.
Doch wie der Gips sein Wasser verlor, bleibt rätselhaft: »Man kann bis heute nicht erklären, wie sich der Anhydrit gebildet hat«, sagt Gerhard Heide, Mineraloge in Freiberg und Nachlassverwalter der historischen Mineraliensammlung. Vielleicht haben dabei Mikroben geholfen, wie ein US-Forscherteam kürzlich vorschlug. Klar ist jedenfalls: Wenn Gips über Jahrmillionen von immer mehr Sediment überdeckt und zusammengepresst wird, dann verliert er dabei irgendwie sein Wasser. Wird der Anhydrit dann durch Erosion wieder freigelegt, ist er mangels Druck eigentlich instabil; er bleibt aber hart, solange er nicht erneut mit Wasser in Kontakt kommt.
Gewaltiger Druck im Teststollen
Auf welche Hürden Tunnelbauingenieure treffen, wenn sie in den Anhydrit vordringen wollen, erlebte Dieter Kirschke vor über 30 Jahren. Stuttgart galt damals als Provinzbahnhof, denn die Stadt ist von Mittelgebirgen umgeben. Im Westen liegt der Schwarzwald, alle Gleistrassen sind kurvig. Doch die Bahn wollte das ändern. Der ICE sollte binnen weniger Jahre durchs Land rasen, mit 250 Kilometern pro Stunde. Die kurvige Strecke sollte eine schnurgerade Alternative mit einem langen Tunnel erhalten. Und der neue Freudensteintunnel sollte im bis dahin längsten Tunnelabschnitt in diesem Gestein über fünf Kilometer direkt durch den Anhydrit verlaufen.
Der Tunnelbauingenieur Dieter Kirschke und seine Kollegen wussten damals nur, dass der Anhydrit schwellen kann, also sein Volumen vergrößert, wenn er mit Wasser in Kontakt kommt, und dabei unbändig auf die Tunnelwände drückt. »Das Schwellproblem war zwar bekannt, aber es war vollkommen unterschätzt«, sagt Kirschke. Die Bahn entschied deshalb, entlang des neuen ICE-Tunnels unter dem Freudenstein einen Versuchsstollen einzurichten. 120 Meter lang, etwas schmaler als der eigentliche Bahntunnel. Die Ingenieure statteten den Stollen mit etlichen Messgeräten aus, bohrten Löcher in die Tunnelwand und pumpten Wasser hinein. Sie ärgerten das Gestein bewusst und wollten beobachten, wie der Anhydrit reagieren würde.
Es war schon damals ein gängiges Verfahren bei Tunneln in Tonstein: Man wartet ab, bis sich der Ton mit Wasser vollgesogen hat. Das passierte auch im Teststollen des Freudensteintunnels: Ein Jahr lang entlasteten die Ingenieure das benässte Gestein, aber der Druck ließ nicht nach. Mehrmals mussten die überlasteten Druckmessdosen ausgewechselt werden. Als die Messgeräte abgebaut wurden, lag der Druck schließlich bei 800 000 Kilogramm – dem Gewicht von 600 Mittelklassewagen – pro Quadratmeter.
Wohlgemerkt: All dies geschah in einem Teststollen. Dem Bahntunnel selbst ist der Ernstfall eines Wassereinbruchs erspart geblieben. Die ICEs fahren bis heute durch den Freudensteintunnel. Jahre später begann Dieter Kirschke allerdings an einem weiteren Tunnel am Engelberg westlich von Stuttgart mitzuarbeiten. Bis dahin hatten sich die Versuche aus dem Freudensteintunnel nicht nur in der Fachwelt herumgesprochen.
Der Autobahntunnel, der beinahe einstürzte
Die Autobahn 81 war notorisch überlastet. Die Zahl von Staus sollte nun reduziert und gleichzeitig die Luftbelastung im nahen Leonberg verbessert werden. Mit einem Tunnel, der auf 450 Metern quer durch den Anhydrit verläuft. Man plante sehr dicke Wände und starke Eisenbewehrungen, damit der Tunnel trotz seiner relativ ungünstigen ovalen Form den anzunehmenden Anhydritdruck aushält. Zudem bestand die Hoffnung, dass Wasser möglichst gar nicht mit dem Anhydrit in Kontakt kommen würde. Eine fromme Hoffnung.
Die Ingenieure stellten schon während des Baus fest, dass eine trockene Bauweise nicht möglich war. Durch den Berg zogen sich mit Fasergips gefüllte Klüfte. »Der Fasergips zieht das Wasser durch und hat eine Kapillarwirkung wie ein Löschblatt«, erinnert sich Dieter Kirschke, »so dass sich plötzlich, ohne dass es direkt einen Kluftwasserzufluss gab, in der Tunnelsohle trotzdem Wasser sammelte.« Die Arbeiter gaben bald den Versuch auf, das Wasser aufzufangen.
Der Rest ist Geschichte: Das Wasser ließ den Anhydrit quellen, und das massiv. Bereits während der Bauphase drückte der quellende Anhydrit in den Tunnel. Die Sohle, also der Tunnelboden, hob sich binnen weniger Wochen um einen ganzen Meter. Gleichzeitig zeigten sich auch Risse im gerade erst erhärteten Spritzbeton an den Seiten. Der quellende Anhydrit durchbrach spielend eine ein Meter dicke und mit Stahl bewehrte Betonseitenwand. Der Tunnel drohte einzustürzen.
Die Ingenieure mussten schnell handeln: Sie änderten die Bauform des Tunnels, indem sie seine aufgewölbte Sohle ausbaggerten und unter der zukünftigen Fahrbahn eine Polsterschicht aus Blähton einbauten. Diese 1,7 Meter dicke Knautschzone sollte das Wasser aufsaugen und gleichzeitig den Druck von unten verringern. Es war vor allem eine teure Notlösung: Die erste Sanierung des Engelbergtunnels begann, bevor er überhaupt fertig war. Bis 2010 musste der Tunnel dreimal saniert werden. Der Druck aus dem Anhydrit steigt bis heute an, 21 Jahre nach dem Baubeginn. In Kürze soll die vierte Sanierung beginnen.
S21: Neun Kilometer durch den Anhydrit
Trotz alledem wurde auch rund um Stuttgarts neuen Bahnhof gesprengt, gebohrt und gegraben. Gut 20-mal länger als im Engelberg sind jene Tunnelstrecken, die durch den Anhydrit verlaufen. Erst 2016 befanden fachkundige Geologen im Auftrag der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG, die Bahn sei »ein im Ingenieurbau unüblich großes Risiko« eingegangen. Das von der Bahn beauftragte Gutachten wurde nie veröffentlicht.
Walter Wittke ist sich dennoch sicher. Sein Büro hat die neuen Stuttgarter Tunnel geplant, durchgerechnet und hat die Mineure bei ihrer Arbeit kontrolliert. Dem heute 86-Jährigen hat der Anhydrit noch keine Probleme bereitet; das zeigen die Wendeschleife und der Hasenbergtunnel der Stuttgarter S-Bahn. Unter beiden hätte sich der Untergrund heben können, die Tunnelwand zerdrücken. Aber sie tat es nicht. Ein Fachbuch listet acht Tunnel im Anhydrit auf, von denen genau zwei ohne schwellenden Anhydrit fertig gestellt wurden: Wittkes Tunnels. Skeptiker wenden ein, gerade diese zwei befänden sich in einem Teil der Stadt, wo nur wenig Regenwasser versickert. Dass hier das Gestein schwillt, sei schlicht unwahrscheinlicher als anderswo.
Bei Stuttgart-21 gingen die Ingenieure laut Walter Wittke auf Nummer sicher, und zwar nicht nur mit bis zu einem Meter dicken Betonwänden. Wenn Sprengungen oder Tunnelbohrmaschinen im Anhydrit Risse an der Tunnelwand hinterließen, wurden Acrylatgele und Polyuretane hineingespritzt, bis sie dicht waren. Alles Wasser, das entlang der Tunnelwand trotzdem einsickerte, wurde aufgefangen. Zuletzt wurden Ringe zerrütteten Gesteins rings um den Tunnel vor und nach anhydritführenden Schichten ausgefräst und als so genannte Dammringe frisch betoniert, um von außen in Gesteinsrisse vordringendes Grundwasser aufzuhalten.
Das heißt: Der Anhydrit in der Tiefe sollte vor dem Tunnelbau trocken sein. Und laut Walter Wittke ist er es nun – wieder. Ganz trocken blieb er allerdings nicht. Regen sei hineingelaufen. Es sei auch mal eine Wasserleitung geplatzt. Dennoch habe sich der Tunnelboden nirgendwo mehr als einige Millimeter gehoben, sagt Walter Wittke. Und das sei einkalkuliert gewesen.
Aber wird der Anhydrit in den nächsten Jahrzehnten trocken bleiben? Dieter Kirschke, der im Stuttgarter Engelbergtunnel so viele schlechte Erfahrungen mit dem Anhydrit gemacht hat, kennt die neuen Tunnel gut und ist sich sicher: »Dem Tunnel wird auch in Zukunft nichts mehr passieren.« Gilt also Stuttgart-21 schon bald als Meilenstein für sauberen Tunnelbau quer durch den Anhydrit? Maßnahmen wie Dammringe und Kunstharzverfüllung waren zumindest teuer. Seit Baubeginn haben sich die Projektkosten von 4,1 auf 8,2 Milliarden Euro verdoppelt. Aufwändige Verfahren beim Tunnelbau im Anhydrit hatten laut Bahn-Aufsichtsrat einen Anteil daran.
»Man kann den Anhydrit nicht berechnen«Dieter Kirschke
Von einem tiefen Verständnis des Materials könne auch nach diesem Mammutprojekt nicht die Rede sein, sagen die meisten Experten. »Man ist noch keinen Schritt weiter«, sagt etwa Dieter Kirschke. »Man hat noch kein Stoffgesetz für den Anhydrit. Man kann ihn nicht berechnen.« Das bestätigt eine Arbeit von Geologen an der Polytechnischen Universität von Katalonien. Sie entwickelten 2017 ein Modell, das erstmals physikalische, chemische und hydrologische Prozesse beim Anhydritquellen zusammenbringt. Doch es kann den immensen Quelldruck nicht voll nachbilden, der entstehen kann.
»Wir können ihn nicht berechnen«, sagt auch Christoph Butscher über den ungewöhnliches Quelldruck, der sich im Anhydrit bilden kann. »Es gibt noch viele unverstandene Prozesse, und mit den Modellen, mit denen Herr Wittke und seine Firma arbeiten, werden wesentliche Prozesse nicht berücksichtigt.« Walter Wittke hält dagegen und ist überzeugt: »Wir mit unserem Team haben die Nase vorn. Und das ist der Unterschied.«
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