News: Gehen trotz Querschnittslähmung
Alle Befehle, die vom Gehirn an andere Körperteile weitergeleitet werden, gehen durch die Nervenzellen des Rückenmarks. Kommt es infolge eines Unfalls oder einer Tumorerkrankung zu einer Verletzung des Rückenmarks, besteht zur Zeit noch keine Hoffnung auf Heilung, da sich solche Nervenzellen nicht gut regenerieren können. Heutzutage erleiden jedoch immer weniger Personen – auch aufgrund der verbesserten Erstversorgung – ein vollständiges Durchtrennen der Nervenstränge im Rückenmark. Oft verbleiben ihnen noch "Restfähigkeiten", den einen oder anderen Muskel bewußt anzusprechen, ohne daß daraus bereits eine kontrollierte Bewegung, geschweige denn eine Gehbewegung, resultieren würde.
Schon seit langem ist bekannt, daß Katzen offenbar einfache "Schreitprogramme" unabhängig vom Gehirn im Rückenmark gespeichert haben. Vor fast zehn Jahren hatte Wernig von amerikanischen Versuchen erfahren, die bewiesen, daß diese "Schreitprogramme" bei richtiger Übung so weit trainiert werden können, daß selbst komplett querschnittgelähmte Vierbeiner reflexartig auf einem Laufband schreiten können. Wurden die Tiere für das Laufen trainiert, vollzogen sie auf dem Band Laufbewegungen, wurden sie nur gehalten und für das Stehen trainiert, konnten sie anschließend auch "nur" stehen. Das Rückenmark scheint demnach über eine Art "Lernfähigkeit" zu verfügen. Wernigs Grundidee war simpel: Warum sollten nicht auch Menschen etwas von dieser Lernfähigkeit des Rückenmarks besitzen?
So kam er auf die Idee, inkomplett querschnittgelähmte Patienten auf ein Laufband zu stellen. Die Personen werden dabei von einem Therapeuten unterstützt und zunächst von einem Tragegurt gehalten. Wichtig ist dabei, daß die Logik des Gehens beachtet wird: Um zu gehen, muß ein Fuß vor den anderen gesetzt und vor allem müssen die Beine mit dem Körpergewicht belastet werden. Und tatsächlich vollziehen einige Patienten bereits nach wenigen Minuten erste reflexartige Schreitbewegungen; bei vielen kann die Fähigkeit zum Gehen in wochen- oder monatelangem Training weiter verbessert werden. Eine Reihe von ursprünglich völlig rollstuhlabhängigen Patienten hat dank dieser Rehamaßnahme die Möglichkeit erlangt, mit Hilfe eines Rollators 20 bis 100 Meter zu gehen oder mit Hilfestellung sogar einige Treppen zu steigen. Einige weniger schwer Geschädigte können sich mittlerweile ohne Hilfsmittel fortbewegen.
Die kürzlich abgeschlossene Studie hat zwei Patientengruppen untersucht: Eine Gruppe umfaßte 35 Personen, die bereits nach anderen Rehamethoden als abschließend therapiert galten, eine zweite, 41 Patienten starke Gruppe, war erst vor durchschnittlich acht Wochen geschädigt worden. Die Gehfähigkeit dieser Personen wurde in fünf Schadensklassen eingeteilt und jeweils vor Beginn der Therapie, nach Abschluß des Laufbandtrainings und im Durchschnitt 20 Monate nach Abschluß der Therapie begutachtet. In der Gruppe der chronischen Patienten waren zu Beginn des Laufbandtrainings 25 komplett an den Rollstuhl gebunden und 10 bereits davon unabhängig. Nach dem Training waren nur noch fünf Personen rollstuhlabhängig, und auch die Personen, die schon zuvor gehen konnten, hatten an Sicherheit und Schnelligkeit gewonnen. Die Nachuntersuchung belegte, daß nur ein Patient im heimischen Umfeld eine Schadensklasse zurückgefallen war; zwei Personen hatten sich sogar weiter verbessert. Unter den 41 akuten Patienten waren nach abgeschlossener Laufbandtherapie noch neun Personen rollstuhlgebunden. Bei der Nachuntersuchung hatte sich ihre Zahl auf sieben reduziert. In dieser Gruppe verbesserten sich insgesamt sogar 15 Personen nach abgeschlossener Therapie weiter.
Eine gleichzeitig durchgeführte Messung an acht für das Gehen wichtigen Muskelgruppen zeigte, daß die willentliche Muskelaktivität im Verlauf des Laufbandtrainings bei chronischen Patienten nur geringfügig zunahm. Dies deutet darauf hin, daß die ausgeführten Schreitbewegungen tatsächlich reflexartig und auf die Anregung durch das Laufbandtraining zurückzuführen sind.
Ermutigt durch die Erfolge bei Querschnittgelähmten, dehnte Wernig seine Methode kürzlich auch auf Schlaganfallpatienten und andere Hirngeschädigte aus.
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