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Neutrinophysik: Geisterteilchen erscheinen wieder

Der Begriff "Oszillation" bedeutet, dass irgendetwas zum Beispiel abtaucht, um nach einiger Zeit wieder zu erscheinen. Bislang haben Physiker das Phänomen der Neutrino-Oszillationen ausschließlich dadurch nachweisen können, dass diese spukhaften Teilchen verschwanden. Nun haben Wissenschaftler in Japan sie erstmals wieder auftauchen sehen.
Kamland
Das Standardmodell der Elementarteilchenphysik ist nahezu perfekt. Nahezu! Denn es erklärt beispielsweise nicht, warum die Bausteine der Materie eine Masse haben. Für die meisten Fundamentalteilchen ist diese Tatsache aber offensichtlich und durch viele Experimente belegt. Anders sieht es bei den so genannten Neutrinos aus. Lange Zeit rätselten die Physiker, ob diese flüchtigen Partikel etwas auf die Waage bringen. Denn sie sind nur äußerst schwer nachzuweisen. Zwar entstehen sie zu Abermilliarden bei der Fusion von Wasserstoff zu Helium in der Sonne oder bei der Kernspaltung in Atommeilern bei uns auf der Erde. Doch wechselwirken sie nur so schwach mit der übrigen Materie, dass ein einzelnes Neutrino problemlos eine Wand aus Blei durchdringen könnte, die so dick ist, dass sie gerade noch zwischen Erde und Mond passte.

Kamland-Neutrino-Nachweisgerät | Im Inneren des Stahlkontainers des Kamland-Detektors in Japan befinden sich hochempfindliche Nachweisgeräte zur Messung von Neutrinos.
Erst vor wenigen Jahren fanden Physiker der japanischen Super-Kamiokande-Kollaboration erste Hinweise auf eine Masse dieser "kleinen Neutronen" oder "Neutrönchen", was das italienische Wort Neutrino ins Deutsche übersetzt bedeutet. Seinen endgültigen Namen bekam es von Enrico Fermi, obwohl Wolfgang Pauli dieses Teilchen aus theoretischen Überlegungen bereits 1930 postuliert hatte, um damit das kontinuierliche Spektrum der Elektronen beim radioaktiven Betazerfall zu erklären. Doch nannte er das Teilchen aus damaliger Unwissenheit über die genaue Struktur der Atomkerne zunächst noch "Neutron".

Ihm soll übrigens der Vorschlag, beim radioaktiven Betazerfall müsse noch ein unbekanntes Teilchen beteiligt sein, das man derzeit nicht messen könne, hochnotpeinlich gewesen sein. War er doch als Mann bekannt, der nur das glaubte, was man nachweisen konnte. Zudem hörte sich sein Vorschlag genau so an wie die Erklärung der meisten Angeklagten bei Verkehrsdeliktverfahren vor Gericht: "Da gibt es noch eine dritte, unbekannte Person, die den Unfall verursacht habe, die aber von niemanden gesehen wurde ...". Deshalb stellte er seine These erst einige Jahre später einem breiten Publikum vor. Doch musste er noch Jahre mit dieser Ungewissheit leben, bis das Neutrino 1956 von der amerikanischen Physikerin chinesischer Abstammung Chien-Shiung Wu entdeckt wurde.

Mittlerweile weiß man, dass es nicht nur eine Sorte Neutrinos gibt, sondern derer drei: das Elektron-Neutrino, das Myon-Neutrino und das Tau-Neutrino, die jeweils mit einem der Leptonen Elektron, Myon und Tau eine so genannte Teilchengeneration bilden. Zudem sprossen in der jüngeren Vergangenheit mehr und mehr Versuchsanlagen aus dem Boden, die sich zum Ziel setzten, diese hochflüchtigen Teilchen genauestens zu vermessen.

Dazu gehört auch das Nachweisgerät mit dem Namen Kamland, was eine Abkürzung für das Wortungetüm Kamioka Liquid Scintillator Anti-Neutrino Detector ist und ebenso wie das Super-Kamiokande-Experiment in Japan steht. Dort stellten die Wissenschaftler im Jahr 1998 zum ersten Mal auch die so genannten Neutrino-Oszillation fest. Die Theorie der Elementarteilchen sagt nämlich voraus, dass mit einer Masse ausgestattete Neutrönchen sich ineinander umwandeln können. Doch maßen die Wissenschaftler die Oszillation bislang ausschließlich daran, dass die untersuchten Neutrinos verschwanden.

Schnitt durch den Kamland-Detektor | Das Kamland-Nachweisgerät besteht aus einem 13 Meter durchmessenden Wetterballon, der mit eintausend Tonnen einer Szintillatorflüssigkeit gefüllt ist. Einfliegende Neutronen erzeugen darin ab und zu Lichtblitze, die von gut 2000 hochempfindlichen Kameras aufgenommen werden. Die Messungen zeigen eindeutig, dass sich Neutrinos ineinander umwandeln können.
Nun behauptet ein Forscherteam um Stuart Freeman und Patrick Decowski vom Lawrence Berkeley National Laboratory und der Universität von Kalifornien in Berkeley, sie hätten bei Messungen am japanischen Kamland verschwundene Neutrinos wieder auftauchen sehen. Darauf deuten zumindest die charakteristischen Störungen im Energiespektrum der gemessenen Neutrinos hin, die mit bisher ungekannter Genauigkeit nachgewiesen werden konnten.

Im Gegensatz zu Super-Kamiokande, das versucht, Neutrinos einzufangen, die aus der Sonne kommen, konzentriert sich das Team von Kamland auf Anti-Neutrinos, die aus einem gut 175 Kilometer weit entfernten Kernkraftwerk stammen. Denn die Eigenschaft der Oszillation gilt für die Antimaterie-Neutrinos ebenso, zumal es eine bislang noch nicht gelöste Frage ist, ob die Neutrinos nicht gleichzeitig ihre eigenen Antiteilchen sind. Nach Angaben der Experimentatoren von Kamland ist zudem die Entfernung zum Kernkraftwerk optimal, um die Schwankungen in den Neutrino-Oszillationen exakt zu vermessen.
Doch weil diese ungeladenen Leichtgewichte sich – wenn überhaupt – nur von sehr großen Massen aufhalten lassen, ist das verwendete Nachweisgerät, genau wie die anderen Neutrinoexperimente, extrem voluminös: Kamland besteht aus einem Wetterballon, der mit eintausend Tonnen einer Lösung gefüllt ist, die Licht ausstrahlt, wenn ein Anti-Neutrino auf ein Proton der Flüssigkeit stößt. Den gut 2000 hochempfindlichen Kameras, die konzentrisch um den Ballon angeordnet sind, entgeht keiner der entstehenden Lichtblitze. Die gesamte Anordnung ist ferner von einer Stahlkugel umgeben, die darüber hinaus von Wasser umschlossen ist. Das soll das Nachweisgerät so gut es geht vor kosmischer Höhenstrahlung abschirmen. Aus diesem Grund befindet sich Kamland auch tief unter der Erde.

Die Messungen der Arbeitsgruppe von Kamland zur Neutrino-Oszillation sind für die Elementarteilchenphysiker äußerst wichtig, da sie eine Physik jenseits des Standardmodells beschreiben. Sie erhoffen sich davon Hinweise auf eine darüber hinaus gehende Theorie, bei der beispielsweise alle vier verschiedenen Grundkräfte, die elektromagnetische, die starke, die schwache und die Schwerkraft, zu einer einzigen vereinheitlicht sind.

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