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Germanien: Gekommen um zu bleiben

Ein neuer Fund verrät, wie Rom in die Gründung einer Provinz investierte, von der noch vor einigen Jahren niemand wusste, dass sie entstehen sollte.
Der Pferdekopf von Waldgirmes
Den Archäologen muss es wie eine Punktlandung vorgekommen sein. Just in dem Jahr, in dem sich die fürchterliche Varusschlacht zum zweitausendsten Mal jährt, gelingt ihnen ein Fund, der wie kein zweiter Wohl und Wehe der Römer in Germanien vor Augen führt. Von einem "Sensationsfund" sprechen denn auch die Ausgräber des Hessischen Landesamts für Denkmalpflege und des Deutschen Archäologischen Instituts. Der prächtige Schlussstein einer Indizienkette will das vorherrschende Geschichtsbild auf den Kopf stellen: Rom trieb aktiv die Eingliederung ganz Germaniens ins Imperium voran.

Dabei galt die Germanienpolitik Kaiser Augustus' lange als Fiasko erster Güte. Während in den Jahrzehnten vor Christi Geburt in den Gebieten links des Rheins längst der römische Geist eingekehrt war, gelang es den Römern jenseits der Grenze bestenfalls, sich hier und dort mit Brachialgewalt festzukrallen. Mehrmals war der Feldherr Drusus zwischen 12 und 9 v. Chr. bis an die Elbe vorgedrungen, hatte rebellische Stämme unterworfen und entlang der Lippe Stützpunkte zur Sicherung des Grenzvorlands etabliert, etwa jenen im nordrhein-westfälischen Haltern. Auch unter seinen Nachfolgern in der Kommandatur vor Ort, Tiberius und Germanicus, riss die Kette der Konfrontationen nicht ab.

Der Kopf des Pferdes | Nur die besten Künstler im Reich kommen laut den Entdeckern des Statuenfragments als Urheber in Frage. Die Statue sollte auf dem Forum der römischen Stadt bei Waldgirmes den Machtanspruch des Kaisers demonstrieren.
Alles in allem schienen sich die Römer darauf beschränken zu wollen, den Druck von der Außengrenze des Imperiums zu nehmen. Von weiterreichenden Plänen, gar einer Eingliederung der germanischen Stammesgebiete zwischen Rhein und Elbe als Provinz ins Römische Reich, gab es keine Spur – mit Ausnahme zweier rätselhafter Textpassagen römischer Historiker: Cassius Dio etwa notierte Anfang des dritten Jahrhunderts, befriedete Germanen hätten in neugegründeten römischen Städten Handel mit Siedlern getrieben. Da musste er wohl einer frisierten Version der historischen Zustände aufgesessen sein, hieß es lange. Denn wo waren diese Städte?

Als Archäologen dann 1993 in der kleinen mittelhessischen Ortschaft Waldgirmes auf römische Spuren stießen, glaubten sie zunächst an einen weiteren Stützpunkt aus dieser Zeit. Soviel sie aber auch freilegten, abgesehen von einem massiven Schutzwall aus Holz und Erde, deuteten weder Baracken noch Waffen auf die Anwesenheit von Legionären hin.

Eine Großstadt an der Lahn

Stattdessen zogen sich Zivilgebäude und Werkstätten die vermeintlichen Lagerstraßen entlang. Ein Forum in der Mitte der Anlage bot Platz für Gemeinschaftsleben. Es gab Wasserleitungen und Abwasserkanäle. Zum ersten Mal war eine zivile römische Siedlung rechts des Rheins belegbar. "Das hat für Furore gesorgt in der Welt der Archäologie", sagt der hessische Landesarchäologe Egon Schallmeyer. Von hier aus, urteilten schließlich die Archäologen um Siegmar Freiherr von Schnurbein von der römisch-germanischen Kommission, sollte einmal die Provinz Magna Germania regiert werden.

Wie unglaublich ernst es den Römern damit gewesen sein muss, offenbart jetzt die Entdeckung eines bronzenen Pferdekopfes mit Goldauflagen, den die Forscher Mitte August 2009 aus einem Brunnen der Ansiedlung bargen. Er gehört zu einem Reiterstandbild, von dem die Wissenschaftler anhand über hundert kleinerer Bruchstücke schon länger wissen. Aber erst mit der Entdeckung des Kopfes wird greifbar, dass das Örtchen zwischen Wetzlar und Gießen ein zweites Köln oder Mainz hätte werden können.

Blick von der anderen Seite | Möglicherweise umringten noch die Statuen anderer Würdenträger den Augustus aus Waldgirmes. Insgesamt fünf Podeste wurden auf dem Forum gefunden. Aus den aufgefundenen Fragmenten lässt sich allerdings nicht eindeutig auf die Existenz mehrerer Standbilder schließen.
Der Imperator Augustus war es wohl, der hier hoch zu Ross und goldglänzend auf dem Forum thronte, vielleicht flankiert von weiteren Würdenträgern. So habe man auch fernab von Italien signalisiert: Hier herrschen Recht und Ordnung, bis hierhin reicht der Arm des Reichs, erklärt Schallmeyer, der den Fund jetzt nach vierzehn Tagen erster Begutachtung der Öffentlichkeit vorstellte. "Es war Sinnbild dafür, dass der Kaiser selbst anwesend war."

Rom butterte offenbar ordentlich Geld in die Stadtgründung. Das Forum wirkt noch überdimensioniert im Vergleich zur acht Hektar großen Stadtfläche. Nirgendwo sonst auf dem Gebiet des rechtsrheinischen Germaniens finden sich Gebäude mit Steinfundament. Mehr oder weniger seit ihrer Gründung im Jahr 4 oder 3 v. Chr. war die gesamte Anlage auf Wachstum und Dauerhaftigkeit ausgelegt.

Die besten Künstler im Reich

Vor allem aber rühmen die Archäologen Machart und Qualität der jetzt entdeckten Statue, die ihren Angaben nach zu den besten Stücken gehört, die je im Gebiet des römischen Reichs gefunden wurden. Nur die vergoldeten Bronzen aus der italienischen Stadt Cartoceto di Pergola kämen als Vergleich in Frage – möglicherweise stammen beide Objekte sogar aus Werkstätten derselben Region. Auch die wesentlich jüngere Statue des Marc Aurel auf dem Kapitol vermittelt einen Eindruck vom ursprünglichen Aussehen der Waldgirmes-Statue. Deren Plastik ist so fein gearbeitet, dass die Forscher "die besten Künstler im Reich" als Hersteller vermuten.

Das Zaumzeug erzählt in römischer Bildsprache von der siegreichen Nation: In den Medaillons auf der Stirn erkennen die Archäologen den Kriegsgott Mars, Viktorien – Siegesgöttinnen – zieren die Seiten. Eine solch exquisite Kostbarkeit fernab der Grenze im Feindesland hatte niemand erwartet, zumal Augustusstatuen der Fundlage nach zu urteilen nur wenigen ausgewählten Orten vorbehalten waren.

Rekonstruktionsversuch mit Marc Aurel | Die Statue des Marc Aurel vom Kapitol in Rom dient hier als Grundlage für eine Rekonstruktion der Statue – so könnte das auf Verdeutlichung des kaiserlichen Herrschaftsanspruch ausgelegte Standbild ausgesehen haben. Nur wenige der über hundert entdeckten Fragmente lassen sich bestimmten Positionen zuordnen.
Auch für den von Cassius Dio erwähnten Handel mit den Ureinwohnern finden sich Hinweise. Während in den üblichen Militäranlagen kaum die grobe germanische Keramik nachweisbar ist, findet sie sich in Waldgirmes in großen Mengen. Feines importiertes Tafelgeschirr, die rötliche Terra Sigillata, zeugt allerdings ebenfalls davon, wie die Bewohner von Waldgirmes die aus der Heimat gewohnte Lebensart aufrecht erhielten. Archäobotanische Analysen von Bodenproben geben Hinweise auf den damaligen Speiseplan. Auch hier schien es den Siedlern an nichts zu mangeln: Oliven, Feigen und andere mediterrane Köstlichkeiten wurden bis nach Waldgirmes geliefert. Wertvolle Schmuckstücke erzeugen den Eindruck materiellen Wohlstands. Man war gekommen, um zu bleiben.

Das abrupte Ende dieser Geschichte ist bekannt: Eine dünne Brandschicht auf dem Gelände der einstigen Stadt zeugt von den Versuchen des Publius Quinctilius Varus, in Germanien das Heft in die Hand zu nehmen. Im Jahr 9 n. Chr. machte der Cherusker Arminius mit einem germanischen Heer in der so genannten "Schlacht vom Teutoburger Wald" drei Legionen nieder und nahm damit Rom jede Ambition auf eine Fortsetzung ihres Engagements in Germania Magna. Von einigen Vergeltungsschlägen abgesehen, zog sich Rom hinter den Rhein zurück. Jahrzehnte später markierte der Limes die Grenze der römischen Interessensphäre.

Die Medaillons am Zaumzeug | Das größte Medaillon auf der Stirn des Pferdes zeigt den Kriegsgott Mars, die kleineren an den Seiten stellen Siegesgöttinnen dar. Verloren ist das Bild auf der Oberseite: Auf Grund der Ähnlichkeit zu den Bronzen von Cartoceto könnte hier Jupiter abgebildet gewesen sein.
Die militärische Katastrophe erreichte auch Waldgirmes, das, wie es scheint, überstürzt verlassen und niedergebrannt wurde. In einem Töpferofen fanden die Archäologen noch Reste der letzten Beschickung. Die Statue wurde zerschlagen und der Kopf des Pferdes im Brunnen versenkt. Über den genauen Ablauf der Ereignisse herrscht hingegen noch Uneinigkeit in Forscherkreisen. Wollten die abziehenden Römer verhindern, dass das Kaiserbildnis dem Feind in die Hände fällt?

Ein anderes Szenario hält Friedrich Lüth, Erster Direktor der Römisch-Germanischen Kommission in Frankfurt, ebenfalls für möglich: "Die Germanen hatten eine starke Affinität zu Pferdekulten. Vielleicht haben sie ja den Kopf regelrecht im Brunnen bestattet und den Rest der Bruchstücke mitgenommen."
Ein nobler Schuh | Neben dem Kopf des Pferdes fanden die Archäologen auch den Schuh des Reiters. Die Machart deutet auf die einem Kaiser angemessene Fußbekleidung: Sie entspricht dem damals bei der Oberschicht üblichen Modell mit Schnürsenkeln.
Unbenutzte Mühlsteine wurden dem Kopf hinterher geworfen. Sie könnten eine rituelle Beschwerung darstellen, die verhindern sollte, dass der Kopf wieder auftauchte.

Wer auch immer dafür verantwortlich war, allein den konservierenden Bedingungen im Brunnenschacht – elf Meter unter der heutigen Oberfläche – ist es zu verdanken, dass die Bronze die Jahrtausende einigermaßen unbeschadet überdauern konnte. Zwei Jahre, schätzen die Verantwortlichen, werden die Restaurierungsarbeiten dauern, dann soll der Kopf in einer Sonderausstellung präsentiert werden. Auch Wissenschaftler, die an der Kunst der Antike forschen, dürften sich übrigens für den Fund interessieren: Da man seine Entstehungszeit auf wenige Jahre genau bestimmen kann, könnte es maßgeblich werden für die zeitliche Einordnung ähnlicher Funde der Römerzeit.

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