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Ornithologie: Gelebte Emanzipation

Männer sind das eigentlich schwache Geschlecht: Sie sterben früher, sind häufiger krank und womöglich auch weniger schlau als ihre weiblichen Konterparts. Das scheint unter Vögeln nicht anders - würden die Muttis nicht manchmal aktiv eingreifen.
Hausgimpel
Alexander Badyaev und Kevin Oh von der Universität von Arizona in Tuscon haben einen großen Bekanntenkreis – um nicht zu sagen, einen sehr großen. Und sie wissen ziemlich viel über ihre Bekannten: Beispielsweise wer mit wem welche Kinder zeugt, wer mit wem außereheliche amouröse Abenteuer pflegt oder wer welchen Stammbaum hat. Man könnte nun Badyaev und Oh als überaus neugierig empfinden, doch ist ihre Neugier tatsächlich wissenschaftlich begründet – schließlich besteht die weit überwiegende Mehrheit ihres Bekanntenkreises aus kleinen Finkenvögeln, deren örtliche Population sie seit dem Jahr 2001 genauestens untersuchen.

Das ganze Jahr über stellen sie dazu aller habhaften Hausgimpel (Carpodacus mexicanus) nach, markieren sie mit Aluminium- und bunten Plastikringen an den Füßen, verfolgen ihre anschließenden Ortswechsel und schrecken dabei auch vor Hausfriedensbuch nicht zurück, denn in ihrem Forschereifer sind natürlich auch die Nester der Singvögel nicht tabu. Diese Brutplätze ziehen jedoch nicht nur Biologen an, sondern auch und vor allem Fressfeinde oder Parasiten, die hier ebenfalls ihr Auskommen suchen und deren Folgen die Ornithologen nun ergründen wollten.

Im Falle der Gimpel lauern unter anderem Milben zwischen den Zweigen, Moosen und Federn des Nestes, um sich am Blut der Küken zu delektieren, was diese mitunter nicht nur schwächt, sondern unter Umständen sogar tötet. Ihr Auftreten und damit ihr Einfluss ist allerdings zeitlich eingegrenzt, sodass die Vögel durchaus entsprechend reagieren können – etwa durch den Einbau Insekten abwehrender Pflanzenteile am Brutplatz oder verstärkter Fütterung besonders befallener Nestlinge. Die notorischen Nestmilben Pellonyssus reedi saugen zudem außer an den Küken auch noch an den brütenden Müttern, was diese wiederum zu erhöhter Produktion von Immunglobulinen anregt, um ihre Abwehrkräfte zu steigern. Geschieht die Attacke noch vor der Eiablage, geben die Weibchen die entsprechenden Stoffe an den werdenden Nachwuchs weiter, der schließlich nach dem Schlüpfen von dieser Immunstimulanz profitiert und den Parasiten damit eher trotzt.

Doch die Gimpel-Damen können das Überleben ihrer Küken noch auf eine weitere Art beeinflussen – und sie sorgen sich dabei in erster Linie um ihre Söhne, wie Badyaev und Oh nun bei einem Vergleich der beiden Brutperioden der Art herausfanden. Im späten Winter, wenn die Gimpel erstmals in der Saison zum Eierlegen schreiten, spielen die Schmarotzer noch keine Rolle, und alles verläuft nach Plan. Die geschlüpften Jungvögel bleiben längere Zeit im Nest und legen dort an Gewicht wie Größe ausreichend zu, bevor sie flügge werden. Das alles geschieht mehr oder weniger streng paritätisch: Jungen und Mädchen bleiben durchschnittlich gleich lange unter dem Schoße der Mutter und stellen ebenfalls gleichermaßen oft den jeweiligen Erstgeborenen.

Während der zweiten Brutrunde im späten Frühling werden die marodierenden Milben dann allerdings zum Problem. Zuerst piesacken sie die Eltern, die irgendwo im Gebüsch von den aus dem Winterschlaf erwachten Parasiten überfallen werden und diese dann als blinde Passagiere ins Nest einschleppen. Dort wiederum warten sie auf die wehrlosen Küken, die dann teils massiv befallen werden.

Dabei machen sie allerdings die Rechnung ohne ihren Wirt. Denn nun reagieren die Weibchen, indem sie ihre Eiablage über Hormone geschlechtsspezifisch steuern, sodass zuerst ihre Töchter und dann erst die Söhne schlüpfen, damit diese den Milben weniger lang ausgesetzt sind. In einem durchschnittlichen Gelege im parasitenverseuchten Nest pickt sich in den weitaus meisten Fällen ein Weibchen aus dem ersten Ei, während die letzten drei Schlüpflinge überwiegend Männchen sind.

Bevor nun aber gestrenge Feministinnen Foul schreien und auch bei amerikanischen Hausgimpeln die Bevorzugung männlicher Nachkommen verorten, wie sie in manchen menschlichen Gesellschaften vorkommt, sei darauf hingewiesen, dass auch hier die Weibchen das eigentlich starke Geschlecht sind. Obwohl sie sich als Erstgeborene deutlich länger mit den gierigen Krabbeltieren plagen müssen als ihre Brüder, leiden sie trotzdem nicht stärker darunter. Im Gegenteil: Die Überlebensrate früh geborener Mädchen liegt sogar deutlich über jener von später geschlüpften und unterscheidet sich in nichts von jener in milbenfreien Nestern.

Ganz anders sieht dagegen die Situation für die Männchen aus; nur wer unter diesen Umständen zu spät kommt, den belohnt das Leben. Die Körperabwehr von zuerst geschlüpften Söhne hat anscheinend den Parasitenattacken nur wenig entgegenzusetzen, ihre Sterblichkeit ist deutlich erhöht. Verzögern ihre Mütter jedoch über körpereigene Steroide den Geburtstermin, legen ihre Söhne noch im Ei an Masse zu und erblicken bereits größer und kräftiger das erste Tageslicht. Zudem nehmen sie in den ersten Tagen nach der Geburt schneller weiter zu und überstehen folglich eher die erste kritische Phase. Durch diese Steuerung hatten Jungen wie Mädchen schließlich wieder die gleichen Überlebenschancen wie im sauberen Nest.

Auf diese Weise sorgen die Hausgimpelmütter dafür, dass das Geschlechterverhältnis in ihrer Population weit gehend im Gleichgewicht bleibt und sich keine verschärften, Kräfte zehrenden oder gar die Art gefährdenden Konkurrenzverhältnisse um Männlein wie Weiblein einstellen. Vielleicht sollten Alexander Badyaev und Kevin Oh ihren tierischen Bekanntenkreis auch mal bestimmten menschlichen Gesellschaften vorstellen.

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