Genetik: Das Geheimnis der parasitischen Riesenblumen
Auf den ersten Blick sind sie unsichtbar. In ihrer Heimat, den Wäldern Südostasiens, schlängeln sie sich als dünne, manchmal mehr als zehn Meter lange Fasern durch das lebenswichtige Gewebe von Reben und entziehen ihnen Nahrung. Selbst unter dem Mikroskop sind die einreihigen Zellstränge kaum von den Zellen der Wirtspflanze zu unterscheiden. Generell ähneln die Schmarotzer eher einem Pilz als einer Pflanze.
Doch sobald ihr Fortpflanzungstrieb erwacht, zeigen sich die Mitglieder der Familie der Rafflesiaceae als riesige, stiellose und gummiartige rote Blumen, die mit Tupfen übersät sind. Sie verströmen einen fauligen Geruch nach verwesendem Fleisch, der Aasfliegen zur Bestäubung anlockt. Daher wird die Pflanze im Englischen mitunter als »corpse flower« bezeichnet, als »Leichenblume«. Die Blüten der Art Rafflesia arnoldii sind die größten Blumen der Welt – jede einzelne kann mehr als einen Meter Durchmesser haben und satte zehn Kilogramm wiegen.
Vor mehr als einem Jahrzehnt erregten die Rafflesiengewächse die Aufmerksamkeit von Jeanmaire Molina, einer Evolutionsbotanikerin von der Long Island University in Brooklyn. Erste Daten aus Genstudien deuteten damals darauf hin, dass die Genome der Pflanzen ebenso bizarr sein könnten wie ihre äußeren Erscheinungsformen. 2014 beschrieben die Biologin und ihre Kollegen erstmals die erfolgreiche Rekonstruktion der mitochondrialen DNA einer philippinischen Rafflesia-Art.
Überraschenderweise hatte das Team keine funktionellen Gene von Chloroplasten gefunden. Die Gewächse hatten also offenbar ihr gesamtes Chloroplastengenom eliminiert. Das ist fast undenkbar, denn Pflanzen brauchen Chloroplasten, um aus Licht und Kohlenstoffdioxid Biomasse aufzubauen, ein Prozess bekannt als Fotosynthese. Chloroplasten sind Zellorganellen und gehören zu den so genannten Plastiden, deren Gene an vielen wichtigen zellulären Prozessen beteiligt sind. Sogar Malariaparasiten haben noch ein Plastidengenom, so Molina, obwohl ihr letzter zu Fotosynthese fähige Vorfahr vor Hunderten von Millionen Jahren lebte.
Ein Team um Charles Davis, Professor für Organismus- und Evolutionsbiologie an der Harvard University, bestätigte 2021 die unerwarteten Ergebnisse. Es präsentierte das Genom einer anderen Rafflesiacea-Art, das ebenfalls ohne Chloroplastengenom auskommt. Ähnlich wie Molina ist auch Davis von den Rafflesiaceae fasziniert, »weil sie die charismatischsten und rätselhaftesten unter der Viertelmillion an Arten von Blütenpflanzen sind«, sagt er. Seit fast 15 Jahren versucht der Forscher bereits, die Geheimnisse dieser Gewächse zu lüften. Das Genom des Zellkerns zu entschlüsseln, wollte ihm aber einfach nicht gelingen.
Der Erfolg kam erst, als seine Doktorandin Liming Cai, inzwischen Postdoc in Systembiologie an der University of California in Riverside, die Leitung des Projekts übernahm. Mit Hilfe der Informatikgruppe der gleichen Universität und des Direktors für Bioinformatik Timothy Sackton gelang schließlich die Erstellung eines schematischen Entwurfs des Genoms von Sapria himalayana – einer Rafflesiacea-Art, die Blüten von der Größe eines menschlichen Kopfs ausbildet.
Diese Schmarotzer klauen sogar Gene!
Diese Analysen demonstrieren die Fähigkeit der Parasiten, überflüssige Gene abzustoßen und nützliche neue von ihren Wirten zu übernehmen. Hierbei spielen offenbar bestimmte, äußerst mobile genetische Strukturen eine Rolle, die nicht für Proteine codieren, aber evolutionäre Veränderungen ermöglichen. Die wahrscheinlich wichtigste Erkenntnis aus solchen Studien ist allerdings, dass es in der Genetik noch viel zu lernen gibt – insbesondere bezüglich der Parasiten, einer Kategorie von Organismen, die mehr als 40 Prozent aller bekannten Arten umfasst.
Das Genom von Sapria weist mehrere Eigenschaften auf, die auch bei vielen anderen parasitären Pflanzen (und bei Parasiten im Allgemeinen) zu beobachten sind. Sapria hat zum Beispiel viele Gene entsorgt, die bei Pflanzen eigentlich als wesentlich gelten. Das funktioniert nur, weil die Schmarotzer manche Aufgaben von ihren Wirten erledigen lassen. Sie lagern etwa Stoffwechselprozesse aus, weshalb sie nicht alle biochemischen Bestandteile brauchen, die für eine unabhängige Pflanzenzelle überlebensnotwendig sind.
Dennoch war Davis regelrecht schockiert, als er herausfand, dass fast die Hälfte der Gene, die so gut wie in allen Pflanzenstämmen vorkommen, in Sapria verschwunden war. Das ist mehr als doppelt so viel wie bei den parasitären Pflanzen der Gattung Cuscuta, auch Schmarotzerseide genannt, und viermal so viel wie bei den Wurzelparasiten der Gattung Striga, die unter anderem Getreide befallen. »Wir wussten, dass es einen Schwund gibt«, sagt Davis, »aber wir hätten nicht gedacht, dass er in der Größenordnung von 44 Prozent der Gene liegen würde.«
Und zu solchen überraschenden Ergebnissen kommt noch die verblüffende Eliminierung des gesamten Plastidengenoms hinzu, die Molinas Untersuchungen nahelegen. Die einzigen anderen Organismen, die bekanntermaßen dieses Genom losgeworden sind, sind einzellige Algen der Gattung Polytomella. Sie haben die Fotosynthese aufgegeben, weil sie Nahrung aus dem sie umgebenden Wasser absorbieren.
Molina empfindet die Bestätigung der Ergebnisse ihres Teams einerseits als beruhigend, aber andererseits als verwirrend, da Rafflesia anscheinend immer noch jene Kompartimente ausbildet, die das Plastidengenom normalerweise enthalten. »Als wir elektronenmikroskopische Untersuchungen durchführten, fanden wir Plastiden«, berichtet Molina. »Es ist ziemlich bizarr, dass diese leer sind.« Sapria scheint auch an anderen genetischen Stellen gespart zu haben. Die Pflanzen haben die nicht codierenden Abschnitte der DNA in vielen Genen entfernt. Solche Regionen, die so genannten Introns, sind zwischen denjenigen Teilen der Gene eingefügt, die für das eigentliche Protein codieren.
Man könnte also denken, dass Sapria und ihre Verwandten ihre Genome einfach kleiner und effizienter gemacht haben. Doch paradoxerweise ist das Genom von Sapria ziemlich groß: Schätzungsweise enthält es zwischen 3,2 bis 3,5 Milliarden Nukleinbasen und hat damit ähnliche Ausmaße wie das menschliche. Warum? Zunächst einmal ist das Sapria-Genom voller gestohlener Gene. Davis’ Team schätzt, dass mindestens 1,2 Prozent der Erbfaktoren von anderen Arten stammen, vor allem von ihren früheren und heutigen Wirten. Der Anteil mag nicht beeindruckend klingen, aber diese Form des horizontalen Gentransfers galt bisher außerhalb von Bakterien als extrem selten. Dementsprechend erregt selbst ein solcher eher geringer Prozentsatz Aufsehen in der Fachwelt.
Weil die Parasiten im Lauf ihrer Entwicklung immer wieder Gene geklaut haben, ist ihr Genom gewissermaßen ein riesiger DNA-Friedhof. Indem Molina und ihre Kollegen diesen Friedhof sorgfältig durchforsteten und den Inhalt mit den Genomen von zehn potenziellen Wirten verglichen, gelang ihnen ein Blick in die Vergangenheit. »Die horizontal übertragenen Gene dienen uns als DNA-Fossilien«, beschreibt Cai den Forschungsansatz.
Sie entdeckten etwa eine ausgestorbene Wirt-Parasit-Assoziation, die vielleicht bis in die mittlere Kreidezeit zurückreiche, so die Wissenschaftlerin. Heute befallen die rund vier Dutzend bekannten Arten der Rafflesiaceae lediglich Reben der Gattung Tetrastigma. Doch lange bevor die Parasiten Tetrastigma heimgesucht haben, bestahlen sie offenbar die Scheinreben der Gattung Ampelopsis. Aus Steinfossilien lässt sich eine solche ökologische Geschichte nicht ableiten: Die Blüten des Parasiten überdauern nicht lange, und die dünnen, fadenförmigen Überreste seines vegetativen Körpers versteinern so gut wie nicht.
Gestohlene Gene machen aber nur einen Bruchteil des riesigen Genoms von Sapria aus. Der überwiegende Teil davon besteht aus zahllosen Kopien von DNA-Sequenzen, die als Transposons bezeichnet werden. Umgangssprachlich nennt man solche transponierbaren Elemente auch springende Gene. Das Genom dieser Pflanze bestehe zu etwa 90 Prozent aus solchen sich wiederholenden Bausteinen, sagt Sackton.
Der hohe Anteil an Wiederholungen ist der Grund dafür, weshalb Davis so lange gebraucht hat, um einen Genomentwurf für Sapria zusammenzustellen. Noch bis vor einem Jahrzehnt scheiterten Genomsequenzierungstechniken nämlich an zu vielen ununterscheidbaren, da sich wiederholenden Sequenzen. »Es ist, als würde man versuchen, ein Puzzle von einem strahlend blauen Himmel zu machen, bei dem jedes Teil genau die gleiche Form hat«, sagte Sackton. »Das ist fast unmöglich.«
Cai und seinen Kollegen kamen nun jedoch die Vorteile der modernen Sequenzierungsmethoden zugute, die heutzutage deutlich längere und damit besser unterscheidbare DNA-Abschnitte verarbeiten können. Dennoch war die Gruppe nur in der Lage, schätzungsweise 40 Prozent des Sapria-Genoms zu rekonstruieren – der Rest ähnelt sich selbst immer noch zu sehr.
Saima Shahid ist Pflanzenbiologin am Donald Danforth Plant Science Center in St. Louis und beschäftigt sich mit den Funktionen transponierbarer Elemente in Pflanzen. Sie hält diese Fülle an Transposons für bemerkenswert, die etwa doppelt so groß ist wie bei der Gattung Cuscuta. Zudem dominieren bei den anderen Pflanzenparasiten, die bisher sequenziert wurden, so genannte Retrotransposons, die sich im Genom bewegen können, indem sie zunächst in RNA umgeschrieben werden. Bei Sapria hingegen handelt es sich größtenteils um DNA-Transposons, die sich immer wieder direkt in das Genom kopieren und einfügen. »Das ist etwas sehr Interessantes und Ungewöhnliches«, sagte Shahid.
Weshalb Sapria so viele dieser springenden Gene hat, ist noch unklar. Aber die Antwort darauf könnte unser Verständnis der Genomik von Parasiten verändern. Transponierbare Elemente gelten als »egoistische« Gene; sie vermehren sich sogar auf Kosten des Genoms, das sie besetzen. Daher zügelt das Wirtsgenom normalerweise ihre Expression. »Meistens werden sie gezielt zum Schweigen gebracht«, sagt Shahid. Entweder ist die Regulierung bei den Rafflesiaceae schlichtweg gescheitert oder es ist für die Parasiten auf irgendeine Weise vorteilhaft, diese Elemente hemmungslos herumhüpfen zu lassen.
Cai, Davis und Sackton äußern die Vermutung, dass das Überangebot an Transposons eine Folge des isolierten Lebens der Parasiten ist. Da die Rafflesiaceae nur Reben der Tetrastigma-Gattung befallen, sind die Parasitenbewohner oft abgeschnitten wie auf einer einsamen Insel. In kleinen Populationen mit eingeschränktem Wachstum und geringem Genfluss von außen können sich sogar weniger hilfreiche genetische Merkmale durch reinen Zufall verbreiten. Womöglich würden sich dadurch im Lauf der Zeit schädliche Kopien von transponierbaren Elementen anhäufen, so Cai, bis es letztlich zu diesen höchst ungewöhnlichen Genstrukturen komme.
Eine andere Möglichkeit ist, dass die Parasiten ihre springenden Gene einfach nicht aufhalten können. Einige solche Elemente stammen von ihren Wirten, und sie könnten so unterschiedlich sein, dass die genetische Maschinerie des Parasiten sie nicht sofort erkennt und zum Schweigen bringt. »Es ist im Grunde wie eine invasive Spezies«, so Sackton. Möglicherweise haben die Parasiten aber auch angesichts der großen Menge an genetischem Material, die sie erwerben, Anpassungen entwickelt, die ihre Toleranz gegenüber der zusätzlichen Belastung durch nutzlose DNA erhöhen. In diesem Fall wäre der Selektionsdruck nicht groß genug, um sie von den springenden Genen zu befreien.
Transposons als Gentransporter
Shahid bezweifelt jedoch, dass ein Genom, das generell so viele Anzeichen von Verschlankung aufweist, sich nicht um den unnötigen genetischen Ballast kümmert. Außerdem können transponierbare Elemente sogar gefährlich werden: »Man muss viel Energie aufwenden, um sie zum Schweigen zu bringen«, sagt Shahid, ansonsten könnten sie viel Schaden anrichten. Sie hält es daher für wahrscheinlicher, dass Transposons dem Parasiten nutzen. Die Frage ist nur, auf welche Weise.
Ihre Anwesenheit könnte vielleicht mit den vielen gestohlenen Genen zusammenhängen. »Wenn Transposons springen«, erklärt Shahid, »bringen sie oft Teile der benachbarten DNA mit.« Die transponierbaren Elemente könnten dabei helfen, Genfragmente zu transportieren und sie dann ins eigene Genom einzufügen, vermutet sie. Damit wären die Transposons sozusagen die Motoren des horizontalen Gentransfers, den der Parasit zum Überleben braucht. Sie könnten es dem Parasiten zum Beispiel ermöglichen, einige wichtige Genregulatoren des Wirts zu stehlen.
2018 zeigten Shahid und ihre Kollegen, dass die parasitäre Pflanze Cuscuta campestris winzige Mikro-RNA-Moleküle in die umgebenden Wirtszellen exportiert und darüber einige Gene des Wirts abschaltet – vermutlich, um die Abwehrkräfte zu stoppen, die den Ressourcendiebstahl verhindern würden. Diese Mikro-RNA könnte ihren Weg in den Parasiten mit Hilfe eines springenden Gens gefunden haben. Allerdings hat bislang noch niemand untersucht, ob Sapria und seine Verwandten auch während der so genannten Dormanzphase Mikro-RNA exportieren – also dann, wenn sich die Pflanze in einer Art Ruhezustand befindet.
Transposons sind außerdem in der Lage, die Genregulation zu beeinflussen. Wenn sie zum Beispiel in Introns eingefügt werden, können sie die Expression eines Gens verstärken oder bestimmte Elemente dazu bringen, das Gen abzuschalten. Tatsächlich schrumpften in Sapria nicht alle Introns, stattdessen sind einige auf fast 100 000 Basen Umfang gewachsen, was sie zu den längsten bekannten Introns aller Pflanzen macht. Und es ist bekannt, dass transponierbare Elemente für mehr als zwei Drittel solcher Expansionen verantwortlich sind.
Transponierbare Elemente können ebenfalls dazu führen, dass sich Teile des Genoms verschieben, was dieses einerseits gefährlich destabilisieren kann – aber andererseits zu Genduplikation und Innovation führen könne, so Shahid. Das könnte den Parasiten helfen, der Abwehr ihres Wirts stets einen Schritt voraus zu sein. Vielleicht sind Transposons sogar für einige der einzigartigen Merkmale der Rafflesiaceae verantwortlich. So mutmaßt Molina, dass sie möglicherweise etwas mit der ungewöhnlichen Blütengröße zu tun haben.
Ohne weitere Informationen ist es allerdings unmöglich abzuschätzen, wie viel von dem riesigen Vorrat an transponierbaren Elementen in den Rafflesiaceae funktionell und wie viel nur unnötiger Ballast ist. Laut Shahid könnte man dem Ganzen auf den Grund gehen, indem man genauer untersuchte, wo solche Elemente im Verhältnis zu anderen Merkmalen des Erbguts sitzen. So ließe sich vielleicht herausfinden, ob die Komponenten wirklich eine entscheidende Rolle bei der Genexpression spielen. Shahid würde zudem gern wissen, zu welchen Zeitpunkten diese transponierbaren Elemente exprimiert werden. Denn das könnte ebenfalls Hinweise auf ihre potenziellen Funktionen im Genom geben.
Weitere Untersuchungen der seltsamen Blumen könnten uns also viel über alles Mögliche lehren: von Plastiden über Gentransfer bis hin zu springenden Genen. Die Seltenheit der Pflanzen erschwert die Arbeit allerdings erheblich. Um sie aufzuspüren, müsse man stundenlang tief in den oft gefahrenreichen Dschungel vordringen, erzählt Molina. Auf den Philippinen etwa wachsen sie in Wäldern, in denen sich oft bewaffnete Rebellen verstecken. Man müsse sich daher im Vorfeld mit lokalen Autoritäten abstimmen, um zu gewährleisten, dass die Expedition sicher ist, berichtet sie. Abgesehen von der mühsamen Arbeit vor Ort, ist die Ausfuhr der Pflanzen häufig beschränkt, unter anderem weil diese Arten vom Aussterben bedroht sind.
Auf Grund solcher Hürden versucht Molina zusammen mit Mitarbeitern des Botanischen Gartens der Vereinigten Staaten in Washington, D. C., die Parasiten und ihre Wirtspflanzen in den USA zu züchten. Die Möglichkeit, die riesigen Blumen in echt zu sehen, würde die Erhaltungsbemühungen unterstützen und eine bessere Forschung erlauben, so die Wissenschaftlerin. Bis dahin bewahren die Parasiten, die unser Bild von den Pflanzen stark erweitert haben, noch viele ihrer Geheimnisse.
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