Sprache des Erbguts: Genetischer Kode ist nicht immer ganz universell
Ein Dogma der Biologie wackelt, finden Forscher des Berkeley National Laboratory in Kalifornien: Denn der kanonische genetische Kode – der universelle Wortschatz des Erbguts, in dem die DNA-Bauanleitung aller Proteine, Gewebe und Zellen verschlüsselt ist – wird gar nicht selten von Bakterien, Viren und Mehrzellern auf erstaunliche Weise modifiziert. Dabei rekodieren die Arten eines der drei so genannten Stopcodons um, die normalerweise das Abbruchsignal für den Bau einer Proteinkette befehlen; statt des Abbruchs wird dann eine längere Aminosäurekette gebaut. Das könnte sinnvoll als Abwehrmaßnahme gegen Viren sein, die dann die Proteinmaschinerie der Zellen nicht mehr kapern können, spekulieren die Wissenschaftler. Tatsächlich aber gelang es sogar schon einigen Viren, den Abwehrmechanismus auszuhebeln – durch den geschickten Einsatz ihres eigenen Erbguts.
Edward Rubin und seine Kollegen entdeckten die bisher übersehene häufige Umwidmung von Stopcodons mit Computerhilfe: Sie durchforsteten dazu Sequenzdatenbanken von an 82 unterschiedlichen Stellen gesammelten Genomen von Bakterien, Viren und Vielzellern aus Meer, Boden, Süßwasser oder verschiedenen menschlichen und tierischen Geweben. Dabei achteten sie besonders auf Gensequenzen, die wegen eines frühen Stopcodons eigentlich zu abnormal kurzen Proteinen führen müssten. Tatsächlich bauen die betroffenen Arten aber durchaus normal lange Proteine: Bei ihnen funktioniert das Stopcodon nicht auch als Stoppschild; statt des Abbruchs der Aminosäurekettensynthese wird eine weitere Aminosäure eingebaut. Den späteren Abbruch besorgt bei solchen rekodierten Organismen dann eines der beiden übrig gebliebenen der drei designierten Stopcodons im universellen Kode des Lebens (den Basentriplettbefehlen TGA, TAA oder TAG).
Verändertes Stopcodon
Die Forscher stellten überrascht fest, wie häufig eine solche Rekodierung vorkommen kann: In manchen speziellen Lebensräumen – etwa dem Grundwasser einer Schwefelquelle – haben zehn Prozent der Organismen ein Stopcodon zum Aminosäurecodon gemacht. In marinen Organismen kommt die Umwidmung dagegen seltener vor. Auch im Mikrobiom des Menschen haben viele Bakterien ihren Kodeleser auffällig oft verändert. Zumindest die rekodierten Bakterienspezies scheinen dabei alle von gemeinsamen Vorfahren abzustammen, bei dem die Triplettumwidmung einst erstmals auftat und sich durchsetzte. Insgesamt kommt die Rekodierung vor allem in freier Wildbahn vor, kaum aber bei im Labor seit Generationen heimischen und gezüchteten Linien von Bakterien oder anderen Organismen. Das hat wohl dazu beigetragen, das Ausmaß der Rekodierung bislang zu unterschätzen, vermuten Rubin und Kollegen.
Fraglich ist auf den ersten Blick, welchen Vorteil der Mechanismus bietet – schließlich kann ja jede Aminosäure auch ohne die Stopcodonumwidmung eingebaut werden. Die Forscher nehmen an, dass gerade Bakterien sich mit dem veränderten Kode gegen Attacken von Viren wehren können: Ist das Erbgut des Virus in einer anderen Gensprache verfasst als jenes der Wirtszelle, können die umprogrammierten zelleigenen Proteinfabriken keine auf althergebrachte Weise kodierten Virusproteine fehlerfrei bauen. Das allerdings ist womöglich ein Trugschluss, erkannten die Forscher: Sie entdeckten ein Virus, das auch rekodierte Zellen infizieren kann. Dazu muss es nicht einmal sein eigenes Erbgut in die neue Sprache der Wirtszelle rekodieren.
Kein Kauderwelch für Viren
Der Mechanismus dieses Virus ist vielmehr raffiniert zweistufig: Zunächst werden bei einer Infektion von der attackierten Zelle nur Virusgene abgelesen, die nicht das modifizierte Stopcodon enthalten, sondern eines der beiden anderen nutzen. Später lässt das Virus zwei eigene Proteine in größeren Mengen produzieren, die den Abwehrmechanismus der Wirtszelle dann ausstechen. Dass der Kode derart anpassungsfähig ist, stimmt in einem anderen Zusammenhang bedenklich, so die Forscher. Denn bisher war angenommen worden, dass man Bakterien mit einem veränderten genetischen Kode synthetisch herstellen könnte, die sich dann wegen der fehlenden genetische Kompatibilität weder mit anderen Arten vermischen noch von natürlichen Viren attackiert werden können. Diese Hoffnung sei wegen der überraschenden Flexibilität des "universellen" Kodes womöglich verfrüht gewesen.
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