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Genetik: Genetischer Spickzettel

Ein Dogma bröckelt. Hielt man lange den Großteil der Erbsubstanz für evolutionären Schrott, gilt heute, dass an der Vererbung mehr als nur Eiweiß produzierende Gene beteiligt sind. Nun tritt auch noch ein neuer, bisher unbekannter Mechanismus auf den Plan.
Ackerschmalwand-Mutante
Genetik kann so schön einfach sein. Vorausgesetzt, man arbeitet mit den richtigen Organismen und beobachtet die geeigneten Merkmale. So gesehen hatte Gregor Mendel einfach Glück, als er im 19. Jahrhundert im klösterlichen Garten bei seinen Kreuzungsexperimenten mit Erbsen anhand der Blütenfarbe und der Samenform die nach ihm benannten Regeln der Vererbung entdeckte. Entsprechend den auch heute noch grundsätzlich gültigen Mendel'schen Regeln gleichen alle Nachkommen von Eltern, die sich in einem Merkmal unterscheiden, dem Elternteil mit dem dominanten Merkmal. Kreuzt man die Nachkommen dann wieder untereinander, so spalten sich die Merkmale in einem bestimmten Zahlenverhältnis auf.

Doch die Realität ist oft wesentlich komplizierter. Längst nicht jedes Gen tritt in so eindeutiger Form zutage, wie es der Augustinermönch bei seinen Erbsen beobachtete. Zum einen funken weitere Bestandteile des Genoms dazwischen und beeinflussen die Ausprägung einzelner Gene. Zum anderen unterlaufen dem System bei der Verdoppelung der DNA immer wieder Fehler: Bausteine werden verwechselt, kurze Erbgut-Sequenzen fehlen oder werden falsch positioniert – es gibt etliche Möglichkeiten, beim Kopieren des Erbguts die verschiedensten Mutationen zu produzieren. Einige von ihnen sind zwar harmlos, der Großteil schadet jedoch dem Organismus. Deswegen patroulliert im Zellkern ein Reparatur-System, das derartige Fehler aufspürt und sie anhand der korrekt kopierten Vorlage des zweiten DNA-Strangs korrigiert.

Was passiert jedoch, wenn beide DNA-Stränge von der Mutation betroffen sind, eine korrekte Matrize also fehlt? Hat der Organismus dann überhaupt noch eine Chance, den Fehler zu erkennen und wieder gezielt rückgängig zu machen? Offenbar schon: Robert Pruitt von der Purdue-Universität und seine Kollegen stießen auf einen bisher unbekannten Mechanismus, der genau dies kann. Die Wissenschaftler arbeiteten mit einer Mutante der Ackerschmalwand (Arabidopsis) – einem bevorzugten Modellorganismus der Botaniker – deren Blüten infolge einer Mutation beider Kopien des Genes HOTHEAD miteinander verwachsen sind und sich nicht öffnen.

Ackerschmalwand-Mutante | Ackerschmalwand (Arabidopsis): Ein verändertes Gen verhindert bei dieser Mutante, dass sich die Blüten öffnen.
Als Pruitt und seine Mitarbeiter diese Mutanten per Selbstbestäubung vermehrten, staunten sie nicht schlecht über das Aussehen der Nachkommen: Zwar glichen die meisten von ihnen erwartungsgemäß den elterlichen Pflanzen und zeigten die gleiche Veränderung der Blüten, stolze zehn Prozent hatten die Mutation aber verloren und sahen wieder ganz normal aus wie die großelterlichen Pflanzen – viel zu viel für zufällige Rückmutationen. Schnell hatten die Forscher ein paar mögliche Erklärungen für das Phänomen parat – doch keine von ihnen konnten sie erhärten. So war weder zufällige Fremdbestäubung durch Pflanzen mit dem ursprünglichen Gen im Spiel, noch hatte sich schlichtweg die Mutationsrate drastisch erhöht, wie DNA-Analysen zeigten. Es ließ sich auch ausschließen, dass die Pflanzen ein dem HOTHEAD verwandtes Gen irgendwo im Genom als Ersatzvorlage für die Reparatur verwendeten.

Woher kam also die Information für die ursprüngliche Form des mutierten Gens? Auf der DNA lag sie eindeutig nicht vor. Also muss die Ackerschmalwand diese Information auf irgendeinem anderen Weg von früheren Vorfahren erben. Die Wissenschaftler vermuten, dass hier eine stabile RNA im Spiel ist, die Bauanleitungen von Genen wie auf einem Spickzettel speichert und die über mehrere Generationen hinweg auf die Nachkommen weitergegeben wird. Unter bestimmten Bedingungen erkennt diese RNA dann Veränderungen in der DNA und bringt diese in den Ursprungszustand zurück. Die Ackerschmalwand hält sich also nicht strikt an die Mendel'schen Regeln, sondern nutzt zusätzlich zum bekannten genetischen Code über chromosomale DNA einen weiteren, bisher unbekannten Vererbungsweg. Wie der zugrunde liegende Mechanismus im Einzelnen aussieht, wie er funktioniert und ob er auch in nicht-pflanzlichen Organismen existiert, weiß noch niemand – hier wartet reichlich Arbeit auf die Wissenschaft.

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