Geotechnik: Auf Tsunamijagd im Mittelmeer
Durch Beben ausgelöste Monsterwellen treffen Anrainerstaaten des Mittelmeers häufig völlig unerwartet. Mittels interdisziplinärer Forschung soll das Risiko für Tsunamis nun kalkulierbarer werden.
Die Welle traf die kleine Hafenstadt am 22. September 1522 unerwartet und mit zerstörerischer Wucht. Tausende Menschen starben durch das schwere Beben und die folgenden Tsunamis, die den herrschaftlichen Bischofssitz in desolatem Zustand zurückließen.
Doch das ist ein Trugschluss: Etwa zehn Prozent aller Tsunamis weltweit treten im Mittelmeer auf; statistisch trifft alle 100 Jahre eine wirklich katastrophale Welle die Bevölkerung im Mittelmeerraum. Die Bedingungen für verheerende Fluten sind gerade im Mittelmeer gegeben, denn seine Fläche ist im Gegensatz zu den großen Ozeanen klein. Der Bevölkerung gibt dies daher nicht viel Zeit zur Vorwarnung – für eine Evakuierung bleiben weniger als 60 Minuten. Erschwerend hinzu kommt die hohe Bevölkerungsdichte entlang der 185 000 Kilometer Küstenlinie, und viele mediterrane Regionen gehören zu Zentren des Massentourismus.
Tsunamis im Mittelmeer keine Seltenheit
Schon ab einer Erdbebenstärke von 6,5 können sich in der Region Tsunamis bilden, die hauptsächlich von flachen Beben verursacht werden: Lösen sich Spannungen in der Erdkruste, schlagen sie direkt von unten gegen die komplette Wassersäule und versetzten diese so in Bewegung. Treffen die entstehenden Wellen dann auf eine flache Küste, staut sich das Wasser oft haushoch auf und überrollt das Land mit durchschnittlich 25 Kilometern pro Stunde – nach einem derartigen Beben der Stärke 7,2 starben im Jahr 1908 in der Straße von Messina zwischen Italien und Sizilien rund 100 000 Menschen im Sog des Wassers. Doch nicht nur Seebeben verursachen Tsunamis: Submarine Hangrutschungen und Vulkanausbrüche verdrängen ebenfalls große Wassermassen, wodurch sich letztlich Wellenberge auftürmen können.
Diese Katastrophen treffen die Anrainerstaaten des Mittelmeers meist völlig unvorbereitet. "Der Erdbebenkatalog für den Mittelmeerraum ist bis heute unvollständig – für die meisten Regionen existieren nur Aufzeichnungen über Beben in den vergangenen 100 Jahren", weiß Christoph Grützner. Der Geophysiker vom Institut für Neotektonik und Georisiken der RWTH Aachen widmet sich daher seit einigen Jahren den so genannten Paläoseismizitäten: der Rekonstruktion von historischen Erdbeben. Für ihn ergeben sich aus 1000 Jahre alten Quellen völlig neue Risikoeinschätzungen, wenn Beben mit Wiederkehrintervallen von Jahrtausenden berücksichtigt werden: "In einem unserer Forschungsgebiete wurden in den letzten 150 Jahren keine größeren Erdbeben registriert, die einen Tsunami auslösen könnten. In den letzten 2000 Jahren hat es allerdings zwei starke Ereignisse gegeben – es besteht also eine reale Gefahr."
Durch derlei Ergebnisse ändert sich das Katastrophenpotenzial in Teilen des Mittelmeers. "Unsere Ergebnisse sind interessant, um Rettungspläne und Frühwarnsysteme zu entwickeln, aber auch für Rückversicherer oder um Baustandards anzugleichen", meint Grützner. Seismisch aktive Gebiete lassen sich dann nach Risikozonen einteilen, in denen unterschiedliche Baustandards gelten müssen, um die Folgen von Erdbeben und Tsunamis zu minimieren.
Detektivischer Blick in historische Archive
Für ihren Blick in die Vergangenheit wenden die Forscher eine interdisziplinäre Arbeitsmethode an: die Archäoseismologie.
Systematisch wird so der Erdbebenkatalog für das Mittelmeer vervollständigt. Die ersten Schritte in einem neuen Projekt führen jedoch nicht ins Gelände, sondern in die Archive der Universitäten und Bibliotheken. Grützner und seine Kollegen wälzen geologische Karten und historische Kataloge: je älter die Quellen, desto besser für die vollständige Bearbeitung. Im Mittelpunkt ihrer Betrachtung stehen Fragen zur Besiedlungsgeschichte des Gebiets, welche Gebäude dort vorzufinden und aus welchem Material sie gefertigt waren. "Größtenteils folgen unsere Studien ganz gezielt den archäologischen Stätten – an ihnen lassen sich die Prozesse der vergangenen Jahrtausende am besten rekonstruieren", erläutert der Doktorand.
Geologisches Geschichtsbuch
Die Ruinen der römischen Stadt Baelo Claudia (heutiges Bolonia) an der Straße von Gibraltar lesen sich für Grützner beispielsweise wie ein geologisches Geschichtsbuch. Hier entwickelte sich im Römischen Reich eine strategische Handelsstadt mit prächtigen Steinhäusern, einer Nekropolis und einer durchdachten Planung samt Marktplatz, Forum und Theater. Vor der Küstenstadt liegt jedoch eine aktive Plattengrenze: Im Bereich des Gibraltarbogens schieben sich die Afrikanische und die Europäische Platte mit vier Millimetern pro Jahr aneinander vorbei. Dies verursachte zwei schwere Erdbeben im 1. und 3. Jahrhundert n. Chr. mit gravierenden Schäden – danach überließen die Bewohner die Stadt dem Zerfall.
Moderne Technik zur Tsunamirekonstruktion
Geophysikalische Messungen liefern zusätzlich genauere Informationen. Mit Georadar und Messgeräten für elektrischen Widerstand werden Störungen und archäologische Strukturen im Untergrund sichtbar gemacht. Ausgesandte Radarwellen werden dabei an Grenzflächen reflektiert, wo Horizonte unterschiedliche elektrische Leitfähigkeit aufweisen, und offenbaren so den Wechsel zwischen unterschiedlichen Materialien in der Erde. Sind die Wellengeschwindigkeiten bekannt, kann über die Rücklaufzeit des Echos die Tiefe, in der die aufgedeckte Struktur liegt, berechnet werden. Da das Georadar in Nanosekunden reflektiert, können sogar Ungleichmäßigkeiten im Untergrund aufgedeckt werden, die weniger als zehn Zentimeter betragen. Diese technische Raffinesse ermöglichte es den Aachener Forschern, auch ein verschüttetes Aquädukt in Baelo Claudia per 3-D-Rekonstruktion wieder zum Leben zu erwecken.
Nur ein zeitgenössischer Holzschnitt berichtet von dem Ereignis: Sinkende Schiffe, ertrinkende Menschen und eine zerstörte Stadt führen die Naturgewalten vor Augen. Und die frühere Metropole befand sich nicht im weit entfernten Pazifik, sondern direkt vor unserer Haustür: im Mittelmeer. Almería war eine blühende Stadt an der andalusischen Küste, als 1522 die Flutwelle über sie hereinbricht. Heute erinnert nichts mehr an die Katastrophe: Weiß getünchte Häuser ducken sich in engen Gassen vor der strahlend blauen Hafenkulisse und entzücken viele Reisende. Kaum jemand denkt hier zuerst an die Gefahr durch einen Tsunami.
Doch das ist ein Trugschluss: Etwa zehn Prozent aller Tsunamis weltweit treten im Mittelmeer auf; statistisch trifft alle 100 Jahre eine wirklich katastrophale Welle die Bevölkerung im Mittelmeerraum. Die Bedingungen für verheerende Fluten sind gerade im Mittelmeer gegeben, denn seine Fläche ist im Gegensatz zu den großen Ozeanen klein. Der Bevölkerung gibt dies daher nicht viel Zeit zur Vorwarnung – für eine Evakuierung bleiben weniger als 60 Minuten. Erschwerend hinzu kommt die hohe Bevölkerungsdichte entlang der 185 000 Kilometer Küstenlinie, und viele mediterrane Regionen gehören zu Zentren des Massentourismus.
Tsunamis im Mittelmeer keine Seltenheit
Schon ab einer Erdbebenstärke von 6,5 können sich in der Region Tsunamis bilden, die hauptsächlich von flachen Beben verursacht werden: Lösen sich Spannungen in der Erdkruste, schlagen sie direkt von unten gegen die komplette Wassersäule und versetzten diese so in Bewegung. Treffen die entstehenden Wellen dann auf eine flache Küste, staut sich das Wasser oft haushoch auf und überrollt das Land mit durchschnittlich 25 Kilometern pro Stunde – nach einem derartigen Beben der Stärke 7,2 starben im Jahr 1908 in der Straße von Messina zwischen Italien und Sizilien rund 100 000 Menschen im Sog des Wassers. Doch nicht nur Seebeben verursachen Tsunamis: Submarine Hangrutschungen und Vulkanausbrüche verdrängen ebenfalls große Wassermassen, wodurch sich letztlich Wellenberge auftürmen können.
Diese Katastrophen treffen die Anrainerstaaten des Mittelmeers meist völlig unvorbereitet. "Der Erdbebenkatalog für den Mittelmeerraum ist bis heute unvollständig – für die meisten Regionen existieren nur Aufzeichnungen über Beben in den vergangenen 100 Jahren", weiß Christoph Grützner. Der Geophysiker vom Institut für Neotektonik und Georisiken der RWTH Aachen widmet sich daher seit einigen Jahren den so genannten Paläoseismizitäten: der Rekonstruktion von historischen Erdbeben. Für ihn ergeben sich aus 1000 Jahre alten Quellen völlig neue Risikoeinschätzungen, wenn Beben mit Wiederkehrintervallen von Jahrtausenden berücksichtigt werden: "In einem unserer Forschungsgebiete wurden in den letzten 150 Jahren keine größeren Erdbeben registriert, die einen Tsunami auslösen könnten. In den letzten 2000 Jahren hat es allerdings zwei starke Ereignisse gegeben – es besteht also eine reale Gefahr."
Durch derlei Ergebnisse ändert sich das Katastrophenpotenzial in Teilen des Mittelmeers. "Unsere Ergebnisse sind interessant, um Rettungspläne und Frühwarnsysteme zu entwickeln, aber auch für Rückversicherer oder um Baustandards anzugleichen", meint Grützner. Seismisch aktive Gebiete lassen sich dann nach Risikozonen einteilen, in denen unterschiedliche Baustandards gelten müssen, um die Folgen von Erdbeben und Tsunamis zu minimieren.
Detektivischer Blick in historische Archive
Für ihren Blick in die Vergangenheit wenden die Forscher eine interdisziplinäre Arbeitsmethode an: die Archäoseismologie.
Geologen betrachten dabei gemeinsam mit Archäologen, Architekten und Ingenieuren die Archive der Erde: Neben Ruinen dienen alte Brücken sowie Steinpflaster dieser Methode ebenso wie natürliche Zeugnisse aus Sedimenten. "Die Archäoseismologie schließt die Lücke zwischen historisch überlieferten Erdbeben, die meist nur über wenige hundert Jahre dokumentiert sind, und der Paläoseismologie, welche geologische Phänomene in großen Zeiträumen betrachtet", erklärt Grützner.
Systematisch wird so der Erdbebenkatalog für das Mittelmeer vervollständigt. Die ersten Schritte in einem neuen Projekt führen jedoch nicht ins Gelände, sondern in die Archive der Universitäten und Bibliotheken. Grützner und seine Kollegen wälzen geologische Karten und historische Kataloge: je älter die Quellen, desto besser für die vollständige Bearbeitung. Im Mittelpunkt ihrer Betrachtung stehen Fragen zur Besiedlungsgeschichte des Gebiets, welche Gebäude dort vorzufinden und aus welchem Material sie gefertigt waren. "Größtenteils folgen unsere Studien ganz gezielt den archäologischen Stätten – an ihnen lassen sich die Prozesse der vergangenen Jahrtausende am besten rekonstruieren", erläutert der Doktorand.
Geologisches Geschichtsbuch
Die Ruinen der römischen Stadt Baelo Claudia (heutiges Bolonia) an der Straße von Gibraltar lesen sich für Grützner beispielsweise wie ein geologisches Geschichtsbuch. Hier entwickelte sich im Römischen Reich eine strategische Handelsstadt mit prächtigen Steinhäusern, einer Nekropolis und einer durchdachten Planung samt Marktplatz, Forum und Theater. Vor der Küstenstadt liegt jedoch eine aktive Plattengrenze: Im Bereich des Gibraltarbogens schieben sich die Afrikanische und die Europäische Platte mit vier Millimetern pro Jahr aneinander vorbei. Dies verursachte zwei schwere Erdbeben im 1. und 3. Jahrhundert n. Chr. mit gravierenden Schäden – danach überließen die Bewohner die Stadt dem Zerfall.
Der Narben dieser Zeit nehmen sich nun die Archäoseismologen an: "Wir kartieren an einer Stätte die Schäden. Mittels Kompass messen wir beispielsweise die Ausrichtung der Risse im antiken Mauerwerk oder Brüche in Fußbodenplatten", so Grützner. Derlei Spuren sind jedoch häufig mehrdeutig. "Die Risse könnten sowohl durch Beschuss bei Kampfhandlungen als auch durch einen Erdrutsch oder Setzung entstanden sein", gibt der Geophysiker zu bedenken. Die Signifikanz ergibt sich für Grützner und sein Team aus der Menge an Daten: "Wenn eine große Anzahl aller kartierten Risse in eine einzige Richtung laufen, wissen wir, dass eine gerichtete Kraft auf sie gewirkt haben muss – etwa eine seismische Welle."
Moderne Technik zur Tsunamirekonstruktion
Geophysikalische Messungen liefern zusätzlich genauere Informationen. Mit Georadar und Messgeräten für elektrischen Widerstand werden Störungen und archäologische Strukturen im Untergrund sichtbar gemacht. Ausgesandte Radarwellen werden dabei an Grenzflächen reflektiert, wo Horizonte unterschiedliche elektrische Leitfähigkeit aufweisen, und offenbaren so den Wechsel zwischen unterschiedlichen Materialien in der Erde. Sind die Wellengeschwindigkeiten bekannt, kann über die Rücklaufzeit des Echos die Tiefe, in der die aufgedeckte Struktur liegt, berechnet werden. Da das Georadar in Nanosekunden reflektiert, können sogar Ungleichmäßigkeiten im Untergrund aufgedeckt werden, die weniger als zehn Zentimeter betragen. Diese technische Raffinesse ermöglichte es den Aachener Forschern, auch ein verschüttetes Aquädukt in Baelo Claudia per 3-D-Rekonstruktion wieder zum Leben zu erwecken.
Handfester geht es mit dem Schlagbohrer zu. Einige Meter tief wird hier ein Bohrkern aus dem Untergrund entnommen und anschließend im Labor unter die Lupe genommen. Die Aachener Neotektoniker untersuchten mit dieser Methode ein 50 Kilometer langes Segment um Baelo Claudia herum. "Zur Ermittlung der Tsunamis bringen wir küstennah Bohrungen ein, dann arbeiten wir uns ins Landesinnere vor. Je nachdem wie weit landeinwärts noch von Tsunamis aufgewirbeltes Material auftritt, können wir rückschließen, mit welcher Höhe die Wellen aufs Land getroffen sind", so Grützner. Mit organischen Bestandteilen der Probe werden zudem Radiokohlenstoffdatierungen durchgeführt – diese offenbaren das Alter der Sedimente und damit auch von Naturkatastrophen.
Sturm oder Tsunami?
Schwierigkeiten bekommen die Forscher bisweilen, wenn sie zwischen von Sturm aufgepeitschten Wellen und Tsunamis unterscheiden müssen. Heftige Winterstürme verursachen extremen Wellengang und spülen ähnlich wie Tsunamis Meerestiere an Land.
Wie schön sich seine technologisch gewonnenen Erkenntnisse mit klassischer Archäologie in Einklang bringen lassen, zeigt ein Blick in die Werke alter Gelehrter. Denn auch die ältesten Berichte zu Tsunamis im Mittelmeer stammen aus Reicherters Untersuchungsgebiet: Der griechische Geschichtsschreiber Herodot erzählt von einer Serie riesiger Wellen im Jahr 479 v. Chr. während des Persisch-Griechischen Kriegs. Damals retteten die Wassermassen allerdings die Stadt Potidea vor der Erstürmung durch den Feind.
Sturm oder Tsunami?
Schwierigkeiten bekommen die Forscher bisweilen, wenn sie zwischen von Sturm aufgepeitschten Wellen und Tsunamis unterscheiden müssen. Heftige Winterstürme verursachen extremen Wellengang und spülen ähnlich wie Tsunamis Meerestiere an Land.
Im Küstengebiet des Golfs von Thermaikos konnte Klaus Reicherter, Institutsleiter für Neotektonik und Georisiken der RWTH Aachen, so genannte Tsunamite in den Sedimenten nachweisen: "Diese Ablagerungen, die wir in einer Lagune in Nordgriechenland gefunden haben, entstanden erwiesenermaßen nicht durch Stürme." Denn in den Bohrkernen finden sich Muschelkrebse, Foraminiferen und Kieselalgen, die allesamt am Meeresgrund leben. Während ein Wintersturm nur die oberen 20 Meter der See bewegt, versetzt ein Tsunami die gesamte Wassersäule in Schwingung und schwemmt so auch Tiere vom Grund der Meere an Land. "Das Meer vor Nordgriechenland liegt im Bereich der Nordanatolischen Störungszone und weist eine der höchsten seismischen Aktivitäten im Mittelmeerraum auf – Tsunamiereignisse sind hier nicht unwahrscheinlich", ist Reicherter überzeugt.
Wie schön sich seine technologisch gewonnenen Erkenntnisse mit klassischer Archäologie in Einklang bringen lassen, zeigt ein Blick in die Werke alter Gelehrter. Denn auch die ältesten Berichte zu Tsunamis im Mittelmeer stammen aus Reicherters Untersuchungsgebiet: Der griechische Geschichtsschreiber Herodot erzählt von einer Serie riesiger Wellen im Jahr 479 v. Chr. während des Persisch-Griechischen Kriegs. Damals retteten die Wassermassen allerdings die Stadt Potidea vor der Erstürmung durch den Feind.
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