Freikörperkultur: Die nackte Wahrheit
Im Deutschen Kaiserreich saß das Korsett eng am Körper – und ebenso eng in den Köpfen der Gesellschaft. Konservative Werte und Prüderie diktierten nicht nur die sozialen Umgangsformen, sondern auch die Mode. Hochgeschlossen und knöchellang sollte Kleidung sein. Doch spätestens um 1910 hielt sich längst nicht mehr jeder und jede daran, wie der Münchner Theologe Franz Walter aufgebracht feststellen musste: »Wir erleben es (…), daß eine Bewegung durch die modernen Großstädte geht, welche offen eine Propaganda großen Stils für die Einführung der unverhüllten Nacktheit in das gesellige Leben betreibt mit Hilfe einer Agitation, einer Literatur und Presse, welche in Wort und Bild die Nacktheit verherrlicht«, empörte sich der Theologieprofessor in einer Abhandlung. Seines Erachtens war es nicht mehr nur bei Worten geblieben: »Es ist eine Propaganda der Tat. Man ist zur Verwirklichung dieses Ziels übergegangen.«
Immer häufiger bot sich den Menschen in München oder Berlin ein Anblick dieser nackten »Propaganda«. In den städtischen Seen badeten sie, die Anhängerinnen und Anhänger der Nacktkulturbewegung, in Sonne, Wind und Wasser – splitterfasernackt. Sie bezeichneten sich selbst als Lichtkämpfer, Nudisten und Anhänger einer Naturismus-, Nacktkultur- oder Schönheitsbewegung. Erst 1925 gab sich die Bewegung offiziell jenen Namen, unter dem sie bis heute firmiert: Freikörperkultur, kurz FKK.
Mit dem Schlachtruf »Zurück zur Natur« sagten die Verfechter der Nacktkultur der Zwangsmoral einer Gesellschaft den Kampf an, die in ihren Augen neurotisch und krank geworden war. »Wir wollen es nicht leugnen: Ein nackender Mensch ist für die Menschen unserer Zeit eine Geschmacklosigkeit und wirkt wie ein Schlag ins Gesicht – so unnatürlich sind wir geworden«, schrieb 1893 Heinrich Pudor (1865–1943), einer der Pioniere der Naturismusbewegung, zudem ein erklärter Antisemit und Nationalist. Die Nudisten hatten den nackten Körper zum Inbegriff von Natürlichkeit erhoben. Als vermeintlichen Vorreiter zitierten viele begeistert Goethe mit Sätzen wie »Der wahre Mensch ist der nackte Mensch« und »Die Natur kennt keine Kleidung«.
Die Badehose sei das »Geschmackloseste, was es gibt«
Obwohl die Bewegung zu dem Zeitpunkt, als der Moraltheologe Walter seine Worte niederschrieb, noch eher überschaubar war, richteten sich alle Augen auf sie. Das lag nicht allein an der Flut von Schriften, die sich mit den Nudisten in ernster oder satirischer Weise auseinandersetzten, sondern insbesondere an den vielen Strafprozessen gegen die FKK-Anhänger wegen mutmaßlicher Unzüchtigkeit. Richard Ungewitter, Heinrich Pudor, Adolf Koch – »fast jeder Protagonist der Nacktkulturbewegung stand einmal vor Gericht«, sagt Maren Möhring. Die Professorin für Vergleichende Kultur- und Gesellschaftsgeschichte des modernen Europas an der Universität Leipzig forscht über Körpergeschichte und die Entstehung der FKK.
Angestrengt wurden die Prozesse meist von katholischen Sittlichkeitsvereinen, die sich empört zeigten über die Zurschaustellung des nackten Körpers. Ihr Vorwurf: Die Nudisten versündigten sich an Sitte und Moral. Die Angeklagten konterten solche Angriffe geschickt: Im Gegenteil – »daß man sich einen nackten Körper ohne ausgesprochenen erotischen Zweck nicht vorstellen kann, ist der notwendige Ausdruck seiner eigenen moralischen Minderwertigkeit«, ätzte Richard Ungewitter (1869–1958), zentrale Figur der völkischen Freikörperkultur und damals vermutlich der meistgelesene Nacktkulturautor. Nudist Heinrich Pudor äußerte sich ähnlich: Es sei gerade die Bekleidung, die durch das Verhüllen der »werthvollsten Theile« die Fantasie stärker herausfordere, als es ohne sie der Falle wäre. Daher sei die Badehose das »Geschmackloseste, was es gibt«.
Die Historikerin Maren Möhring erklärt: »Die Idee, alle Hüllen abzulegen, um zum vermeintlich wahren Kern vorzudringen, ist eine sehr westliche Denkfigur.« In anderen Kulturen, etwa in Japan, hat sich ein gegenteiliges Ideal etabliert – eine regelrechte Kunst der Verhüllung. Für die Anhänger der Freikörperkulturbewegung wird Kleidung zur Verkleidung und Nacktheit zur Wahrhaftigkeit.
Der Ursprung lag in der Urbanisierung
Dabei war der Ruf zurück zur Natur nicht neu. Schon Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) wälzte in seiner Naturphilosophie die Frage nach Natürlichkeit und Nacktheit. Warum sie zur Zeit des Deutschen Kaiserreichs wiederkehrte? »Bedingt durch die Industrialisierung, Verstädterung und die beengten Wohnverhältnisse erfuhren viele dieser eigentlich älteren Ideen im 19. Jahrhundert einen enormen Zulauf«, sagt Möhring.
So betraten in Reaktion auf die gesellschaftlichen Umwälzungen um die Jahrhundertwende die »Lebensreformer« die historische Bühne. In dieser Bewegung sammelten sich von Nacktkultur bis Naturheilkunde über Ernährungsreform und Vegetarismus bis hin zur Antialkoholbewegung etliche Ideen und Spielarten. Was ihre Anhänger vereinte, war das Streben nach einer natürlicheren Lebensweise sowie die Vorstellung, dass sich gesellschaftlicher Wandel durch einen persönlichen Lebenswandel herbeiführen lasse.
Die Lebensreformer entstammten einer neuen Mittelschicht von Angestellten und Lehrern. »Diese Mittelschicht suchte nach einer Lebensart, mit der sie sich sozial neu positionieren und abgrenzen konnte«, sagt Möhring. Die Anhänger der Freikörperkultur favorisierten zwar bürgerliche Ideale wie Bescheidenheit, wollten sie aber anders zum Ausdruck bringen. »Für sie war das Bürgertum zu steif und zu sehr auf die äußere Wirkung bedacht.«
Auch die FKK-Bewegung wollte die Gesellschaft verändern – ebenfalls durch das Ideal der Selbstreform. Den Anhängern ging es dabei zunächst einmal um Unabhängigkeit. Ihr Ansatz lautete: »Durch Nacktgymnastik und Ernährung ließe sich der eigene Körper umgestalten. Der Mensch war nun selbst verantwortlich für seine Physis und Gesunderhaltung«, erklärt Möhring. Aus heutiger Sicht ist diese Überzeugung irritierend. Nicht jeder kann uneingeschränkt seinen Körper verändern. Dennoch waren die Menschen begeistert, allerdings aus einem anderen Grund: »Dieser Idee wohnte ein Gleichheitsversprechen inne. Jeder könne gesund und schön sein«, fasst die Kulturhistorikerin das damalige Weltbild zusammen.
Die Selbstreform durch Selbstformung erhielt zudem einen martialischen Anstrich. Hans Surén (1885–1972), Vertreter einer völkisch-germanischen Freikörperkultur und Sonnenmystiker, verglich den Gymnasten mit einem Kämpfer, der sich im Krieg mit sich selbst befände: »Dieser harte Kampf in der Stählung des Körpers schmiedet und feilt unaufhörlich an Moral und Charakter.« Und weiter: »Fest zugepackt! – und wenn's auch einmal in der Seele knackt!« Wer demnach unter den Ansprüchen der Körperertüchtigung psychisch leide, solle dennoch weitermachen. Offenbar galt keine Rücksicht auf Verluste.
Die neue Idee einer Eigenverantwortung führte dazu, dass man Menschen, deren Körper nicht dem Ideal entsprachen, äußerliche Defizite als selbst verschuldet anlastete. Geschämt wurde sich fortan nicht mehr für den nackten, sondern für den untrainierten Leib, wie es Maja Rade an der Universität Wien und Simon Graf von der Zürcher Hochschule der Künste herausarbeiteten. Eine neue Form der Selbstdisziplin löste die soziale Disziplinierung ab, das Muskelkorsett ersetzte das Korsett. »Darin steckte die Ambivalenz dieser Idee. Man wurde die äußere Repression los, dafür trat an ihre Stelle eine andere: der Zwang zur Selbstoptimierung«, sagt die Leipziger Forscherin Möhring.
Nacktheit als Ideologie
Zwar war die Freikörperkultur ein ursprünglich deutsches Phänomen, aber es blieb längst nicht auf Deutschland beschränkt. Nudisten zeigten sich auch in der Schweiz, Österreich und England. Die Vehemenz und Kreativität, mit der die Bewegung in Deutschland allerdings auftrat, resultierte laut Möhring aus der vielerorts protestantisch geprägten Einstellung zum Körper. Sie erlaubte einen freieren Umgang mit Nacktheit als beispielsweise bei den Katholiken. Doch Ausschlag gab eben auch die fortgeschrittene Urbanisierung und Industrialisierung. Möhring: »Der Ruf ›Zurück zur Natur‹ entfaltete in einer dicht besiedelten, industrialisierten Region eine ganz andere Wirkung als in wenig bewohnten Gegenden. Eine größere Bevölkerung bringt zudem eher Subkulturen hervor.«
Die hitzigen Debatten um die Nacktheit zeigten vor allem eines: Der unbekleidete Körper taugte sowohl Idealisten als auch Ideologen als Vehikel für ihr Weltbild – die verschiedensten Lebens- und Moralvorstellungen prallten darin aufeinander. Hatten die Anhänger anfangs das nackte Baden in Luft, Licht und Wasser mit medizinisch-sachlichen Argumenten untermauert, bildeten sich auch Strömungen heraus, die eine politisch-ideologische Stoßrichtung verfolgten, wie es etwa der Sportwissenschaftler Bernd Wedemeyer-Kolwe von der Universität Göttingen dargelegt hat.
Unter dem Pädagogen Adolf Koch (1896–1970) etablierte sich eine sozialistisch-proletarische FKK. Zahlreiche Arbeiter schlossen sich seiner Bewegung an. Mit einer Kombination aus Bildung, Pädagogik und Gesundheitsgymnastik sollte die Entmenschlichung des Körpers durch die Industriearbeit aufgehalten werden. Koch war überzeugt davon, dass die Nacktgymnastik den vom Kapitalismus ausgebeuteten Menschen heilen und das proletarische Selbstbewusstsein stärken könnte.
Eine andere Richtung schlug die völkische Bewegung der Freikörperkultur ein. Dort vermengten sich rassistische, antisemitische, sozialdarwinistische sowie okkulte Ideen, genährt von düsteren Untergangsszenarien und Ängsten um die Zukunft der »überbekleideten Germanen«. Diese FKK griff Inhalte der Lebensreformer auf und verpflanzte sie in ihre esoterisch-völkische Ideologie. Im Vordergrund stand auch hier, den Körper gesund zu halten – allerdings den explizit volksdeutschen Körper. Nur durch Sport, gute Ernährung sowie die Stählung des nackten Leibs in Wind und Wetter könnte dieser gestärkt und auf mögliche Kriege vorbereitet werden.
Nackt, sportlich, gesund – lautete das Versprechen
In der Weimarer Republik stiegen die nackten Außenseiter zur Massenbewegung auf, etliche Vereine und Verbände entstanden. In diesen goldenen Jahren der FKK gehörten ihr mehrere zehntausend Menschen an. Immer mehr frönten der körperlichen Ertüchtigung im Adamskostüm. »Mit dieser Versportlichung ließ sich die Freikörperkultur als Gesundheitspraxis darstellen«, betont Maren Möhring. Die FKK war damit anschlussfähig geworden, sie versprach jedem einen physischen Profit.
In hohen Auflagen wurden nun auch einschlägige Zeitschriften mit klangvollen Titeln wie »Die neue Zeit« (seit 1928 in der Schweiz) oder »Lachendes Leben« (seit 1925) an den Kiosken verkauft. Einige Blätter wie »Kraft und Schönheit – Zeitschrift für vernünftige Leibeszucht« (von 1901 bis 1927) waren schon zuvor gedruckt worden. Die Grenze zur Pornografie verlief in den Heften allerdings fließend. »Die Auflagen dieser Zeitschriften waren höher als die Mitgliederzahlen der FKK-Vereine. Viele Menschen haben sie wohl eher der Bilder wegen gekauft und nicht, weil sie sich für das Thema FKK interessierten«, vermutet Möhring.
Mit der Kommerzialisierung der FKK schien der Anblick nackter Körper immer weniger auf Widerspruch gestoßen zu sein. Ein Prozess gegen die »Nackerten« in der Schweiz 1926 jedenfalls endete mit einem Freispruch. Die Begründung der Richter: Der Zeitgeist habe sich geändert. Der Anblick nackter Menschen sei nicht mehr per se anstößig. Jedenfalls bis 1933 konnte diese Ansicht bestehen bleiben.
Mit den Nationalsozialisten endete die goldene Ära der FKK. Vereine, die sich freiwillig gleichschalteten, Juden ausschlossen und sich umbenannten, blieben erlaubt. Sie gingen im »Kampfring für völkische Freikörperkultur« auf, der später »Bund für Leibeszucht« hieß. Obwohl die Zurschaustellung gestählter Körper der Ideologie der Nazis entsprach, blieb ihnen die Nacktkultur der 1920er Jahre suspekt und ihre Haltung dazu ambivalent. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg sollte die FKK-Bewegung wieder aufleben – ohne die ideologischen Verstrickungen der Vergangenheit.
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