Direkt zum Inhalt

Geschwistermobbing: Der Feind im Kinderzimmer

Wenn ein Geschwisterkind das andere wiederholt hänselt oder drangsaliert, sollten Eltern einschreiten. Das bedeutet, die Bedürfnisse beider zu klären und nicht selbst aggressiv zu werden.
Ein kleiner Junge lauert dem anderen mit einem Spielzeugschwert auf
Aus einem Spiel kann Ernst werden, wenn sich ein Geschwister vor dem anderen fürchtet. (Symbolbild)

Es gibt Kinder, die Angst haben, nach der Schule nach Hause zu gehen. Auf dem Weg zieht sich ihnen der Magen zusammen: Zu Hause, so fürchten sie, werden sie wieder tyrannisiert, beschimpft, manchmal sogar geschlagen – nicht von ihren Eltern, sondern von ihren Geschwistern.

Auf den ersten Blick stecken dahinter nur Kleinigkeiten: Die eine Schwester zieht absichtlich immer wieder die Kleider der anderen an, der eine Bruder macht sich über den anderen lustig. Mitunter beschimpft ein Geschwisterkind das andere, macht es verbal fertig, schubst es, zieht es an den Haaren – oder schlägt sogar zu. Und das nicht nur einmal, zweimal, sondern jahrelang.

»Was hier passiert, ist kein normaler Streit, sondern Geschwistermobbing«, sagt der Entwicklungspsychologe Dieter Wolke von der britischen University of Warwick. Wolke gilt als Koryphäe auf diesem Gebiet; in den vergangenen Jahren hat wohl niemand so viele Studien über Geschwistermobbing durchgeführt wie er mit seinem Team.

»Mobbing ist mehr als bloßes Streiten. Beim Mobbing werden Hänselei und Gemeinheiten bewusst und systematisch eingesetzt, um dem anderen zu schaden, oft über Jahre«Dieter Wolke, Professor für Entwicklungspsychologie an der britischen University of Warwick

Dabei ist Streit unter Geschwistern an sich weder schlimm noch ein seltenes Ereignis – in der Regel kommt es dazu sogar mehrmals am Tag. »Durch Konflikte lernen Kinder, miteinander ins Gespräch zu gehen, über Dinge zu verhandeln und gemeinsam Lösungsmöglichkeiten zu entwickeln«, erklärt Wolke. Das Austragen von Konflikten dient also der Entwicklung von sozialen Kompetenzen. »Mobbing ist jedoch mehr als bloßes Streiten«, sagt der Psychologe. »Beim Mobbing werden Hänselei und Gemeinheiten bewusst und systematisch eingesetzt, um dem anderen zu schaden, oft über Jahre.« Hier wird nicht auf Augenhöhe verhandelt, sondern Macht ausgespielt.

Das Ausmaß ist beachtlich. »Gewalt zwischen Geschwistern gehört damit zu den häufigsten Formen von Gewalt, die Kinder im Kindesalter erfahren, mehr noch als von Eltern«, berichtet Wolke. Je nach Studie und Definition geben gut 15 bis 50 Prozent der Kinder an, von ihren Geschwistern gemobbt zu werden. 10 bis 40 Prozent räumen ein, ihre Geschwister zu mobben, und ein nicht unerheblicher Teil ist Täter und Opfer zugleich.

In einer bevölkerungsrepräsentativen Studie des Kompetenzzentrums Kinderschutz in Ulm wurden mehr als 2500 Versuchspersonen befragt. 73 Prozent hatten mit Geschwistern, Halbgeschwistern oder Stiefgeschwistern zusammengelebt. Von diesen gaben rund 13 Prozent an, mindestens einmal pro Monat von ihren Geschwistern absichtlich verletzt oder gemobbt worden zu sein, und rund zwölf Prozent hatten selbst verletzt oder gemobbt. Etwa zehn Prozent waren Opfer und Täter gewesen. Anders als beim Mobbing unter Peers wechseln unter Geschwistern eher die Rollen. Viele, die drangsaliert werden, mobben später zurück.

Die emotionalen Folgen sind gravierend. »Geschwistermobbing ist eine Parallelform zu emotionalem Missbrauch durch Erwachsene«, sagt Jörg Fegert. Er ist ärztlicher Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie am Universitätsklinikum Ulm. In seiner Arbeit ist er täglich mit den Auswirkungen konfrontiert. »Wird ein Kind ständig herabgesetzt oder mit Schimpfwörtern belegt, sinkt sein Selbstwert in der Regel kontinuierlich ab, das Kind zieht sich zurück, verliert die Motivation und wird mitunter depressiv«, erklärt der Jugendpsychiater.

»Da bleibt keine Rückzugsgelegenheit mehr, kein Ort, an dem das Kind auftanken und sich in Sicherheit fühlen kann«Jörg Fegert, ärztlicher Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie am Universitätsklinikum Ulm

Findet das Mobbing in der Schule statt, hat ein Kind wenigstens noch den Schutzraum seines Zuhauses. Ist ein Geschwisterteil der Verursacher oder die Verursacherin, werden die eigenen vier Wände hingegen zur Bedrohung. »Da bleibt keine Rückzugsgelegenheit mehr, kein Ort, an dem das Kind auftanken und sich in Sicherheit fühlen kann«, so Fegert.

Mehrere Untersuchungen bestätigen das. In einer Studie von Wolke und seinem Team verdoppelte Geschwistermobbing bei den Betroffenen das Risiko für depressive Symptome und Selbstverletzung. Laut einer weiteren Untersuchung, an der Wolke ebenfalls beteiligt war, haben Opfer von Geschwistermobbing ein dreifaches Risiko, später eine psychotische Störung zu entwickeln – und noch häufiger jene Kinder, die sowohl Täter als auch Opfer waren. Kinder, die von Geschwistern gemobbt werden, haben zudem ein fast doppelt so hohes Risiko, im Erwachsenenalter eine Angststörung zu entwickeln, und sie werden auch häufiger in der Schule gemobbt.

Die Ursachen: Konkurrenz, Konflikte und schlechte Vorbilder

Warum manche Geschwister ihren Bruder oder ihre Schwester verbal oder physisch drangsalieren, dazu gibt es in der Wissenschaft unterschiedliche Ansichten. Am meisten verbreitet und belegt ist bislang die Evolutionstheorie: Es geht um Ressourcen wie die Liebe und Aufmerksamkeit der Eltern. Erstgeborene Kinder bekommen zunächst die gesamte elterliche Zuwendung. Mit der Geburt jedes zusätzlichen Kindes wird die Ressource knapper, und das Erstgeborene kann das Gefühl bekommen, dass sein Bruder oder seine Schwester mehr Beachtung und Zuwendung erhält. Im schlimmsten Fall entstehen so Aggressionen. Erstgeborene sind dabei oft körperlich und kognitiv im Vorteil, können das jüngere Geschwister leichter mobben. Aber auch sie können Opfer werden, wenn die Jüngeren ihnen ihre Ressourcen streitig machen wollen.

Betroffen sind vermehrt Familien mit bestimmten Risikofaktoren: mit vielen Kindern, vielen Söhnen und mit männlichem Erstgeborenen. Unter Geschwistern mit geringem Altersunterschied ist Mobbing ebenfalls häufiger.

Doch natürlich ist nicht allein die Geschwisterrivalität verantwortlich. Das Erziehungsverhalten der Eltern spielt ebenfalls eine Rolle: Harte Erziehungsmethoden, eine unsichere Eltern-Kind-Bindung und viele familiäre Konflikte erhöhen das Risiko für Geschwistermobbing. Eine liebevolle Erziehung und eine gute Eltern-Kind-Beziehung gelten als Schutzfaktoren.

»Wichtig ist außerdem der Umgang der Eltern miteinander«, sagt Wolke. »Wenn Mutter und Vater selbst viel streiten und sich gegenseitig herabsetzen, schauen Kinder sich das manchmal ab und lernen, dass solch ein Verhalten normal und angemessen ist.« Familien, die immer alles gemeinsam machen, sind Wolkes Erfahrung nach ebenfalls anfälliger für Mobbing. »Für Kinder ist es schön, wenn sie auch mal etwas ganz allein mit Mama oder Papa unternehmen können«, erklärt er. »Immer alles in Gemeinschaft zu machen, fördert das Konkurrenzdenken; etwa weil immer alles geteilt werden muss, immer wieder Kompromisse eingegangen werden müssen.«

»Der soziale Hintergrund spielt beim Mobbing eine untergeordnete Rolle«Jörg Fegert, Kinder- und Jugendpsychiater und Psychotherapeut

Der sozioökonomische Hintergrund scheint weniger ausschlaggebend. So zeigen manche Studien, dass Kinder von Eltern ohne Ausbildung und mit niedrigem Einkommen sich häufiger gegenseitig mobben, während andere Studien Geschwistermobbing öfter in Familien mit einem höheren Bildungsgrad und mehr Gehalt finden. »Der soziale Hintergrund spielt beim Mobbing eine untergeordnete Rolle«, bestätigt Kinder- und Jugendpsychiater und Psychotherapeut Fegert. Entscheidender sei die Einstellung, mit der Eltern ihre Kinder erziehen. In der Praxis beobachtet Fegert immer wieder, dass Familien mit hohem sozioökonomischem Status häufiger die »schwächeren« Kinder fördern, wohingegen viele einkommensschwache Eltern dazu tendieren, den leistungsstarken Sohn oder das leistungsstarke Mädchen zu fördern. »Die Folge kann sein, dass sich ein Kind vernachlässigt fühlt und die Konkurrenz zunimmt«, erklärt Fegert.

Obwohl die Folgen für die seelische Entwicklung bekannt sind, ist das Thema Geschwistermobbing in der Öffentlichkeit kaum bekannt. Fegert und sein Team fragen inzwischen immer auch danach, wie sich ihre jungen Patientinnen und Patienten mit ihren Geschwistern verstehen. Aber das ist weder bei Kinderärzten noch bei Therapeuten üblich, wie er berichtet. Selbst in der Kinder- und Jugendpsychiatrie bleibe die Geschwisterdynamik meist außen vor. Das habe Folgen: Die Betroffenen erfahren nicht, was hinter ihrem Leid steckt, und das Mobbing setze sich fort.

Eltern sollten bei Mobbing immer eingreifen

Auch viele Eltern nehmen das Mobbing nicht als solches wahr, hat der Jugendpsychiater bemerkt. Stattdessen schreiben sie die Konflikte den unterschiedlichen Charakteren der Kinder zu: Das eine sei halt eher wild, das andere schüchtern und zurückhaltend. Mitunter finden die Auseinandersetzungen allerdings hinter dem Rücken der Eltern statt. Zieht sich ein Kind dann immer mehr zurück, werden die Gründe häufig anderswo gesucht, beispielsweise in der Schule.

»Eltern, die Aggressionen und Mobbing bei ihren Kindern bemerken, sollten daher stets eingreifen«, fordert Fegert. Dieser Ansicht ist auch die Sozialwissenschaftlerin Nicola Schmidt, die sich in ihrem Ratgeber »Geschwister als Team« unter anderem mit Geschwistermobbing beschäftigt. Nicht einzugreifen, bedeutet, dass die Erziehenden ihre Kinder dem Recht des Stärkeren ausliefern, schreibt Schmidt. Dabei gewinne keines von beiden: Am Ende bekomme das stärkere Kind seinen Willen, lerne aber nicht, mit Konflikten konstruktiv umzugehen. Das schwächere Kind leide hingegen mitunter jahrelang still vor sich hin und lerne nicht, für sich einzustehen und Hilfe zu suchen.

Strafen sind Schmidt zufolge allerdings kontraproduktiv. Viele Väter und Mütter tendieren dazu, bei Konflikten den Schwächeren zu schützen und den anderen zu maßregeln. Der Impuls liege zwar nahe. Zu einem aggressiven Kind sollten Eltern jedoch nie aggressiv sein – sonst lerne es genau das: Aggression als Mittel zum Zweck einzusetzen. Außerdem entwickeln Kinder, die bestraft werden, häufig Wut, was wiederum den nächsten Streit provoziert. Erziehende, die merken, dass die Konflikte ihres Nachwuchses sie selbst auf 180 bringen, sollten daher durchatmen und mit dem Eingreifen abwarten, bis sie wieder ruhiger sind.

Es sei wenig hilfreich, mit einer Frage wie »Wer hat angefangen?« nach dem Schuldigen zu suchen, ebenso wenig wie Sprüche wie »Der Klügere gibt nach« oder »Du bist doch schon groß« zu machen. Stattdessen sollten die Eltern ihren Kindern helfen, Lösungen zu finden. Wollen etwa beide unbedingt die blaue Tasse haben, kann die Familie nach einem Kompromiss suchen, etwa: Heute bekommt der eine die Tasse, morgen der andere. Auch die Nachfrage, warum die Tasse so wichtig ist, kann den Weg in Richtung Frieden ebnen. Kommt es zwischen den Geschwistern hingegen zu Handgreiflichkeiten, kann eine vorübergehende Trennung angebracht sein. Da sind laut Schmidt Worte legitim wie »Ich befürchte, dass ihr euch gleich richtig weh tun werdet. Deshalb geht jetzt erst mal jeder auf sein Zimmer und wir klären das später.«

Eingreifen bedeutet auch, beide Kinder in ihren Bedürfnissen wahrzunehmen – auch in dem Bedürfnis, das den Streit anfacht. Wer angreift, drangsaliert oder herabsetzt, sei meist selbst in Not, erläutert Schmidt. Vielleicht bekommt das Kind nicht genug Aufmerksamkeit, ist müde oder überfordert; vielleicht läuft es in der Schule nicht gut: All das können Gründe sein, weshalb ein Kind frustriert ist und aggressiv wird. Die Aufgabe der Eltern sei es dann, dem Kind zu helfen. Gelingt das nicht, kann eine Familientherapie unterstützen. Nicht einzugreifen sei jedenfalls keine Option.

Viele Geschwister finden auch wieder zusammen. Wolke kennt beispielsweise eine Frau, die in der Kindheit von ihrem Bruder heftig gemobbt wurde. Als Erwachsene konnten sie dann darüber reden und er entschuldigte sich. »Heute haben die beiden eine sehr freundschaftliche und liebevolle Beziehung«, sagt Wolke.

Schreiben Sie uns!

Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.