Gesunde Botenstoffe: Sport als Medizin
Bei meinem letzten Marathon fühlte ich mich regelrecht high: Die Beine liefen wie von selbst, der Takt stimmte, nichts tat weh. Gefühlt hätte ich ewig so weiterlaufen können. Verantwortlich für diesen Zustand waren Endocannabinoide – eine Art natürliches Cannabis, das meine Nervenzellen hergestellt hatten. Ich hatte ein so genanntes Runners High. Doch ein solches Glücksgefühl ist längst nicht alles, was beim Sport im Körper passieren kann.
Die Skelettmuskulatur sorgt nicht nur dafür, dass wir uns bewegen können, sondern ist zugleich ein riesiges Sekretionsorgan. Das bedeutet: Die Muskeln selbst produzieren Botenstoffe, so genannte Myokine. »Über sie kommuniziert der Muskel mit dem Rest des Körpers«, erklärt Beate Zunner. Die niedergelassene Fachärztin für Allgemein- und Sportmedizin forscht an der Universität Bayreuth zu Myokinen. »Wir wissen zum Beispiel, dass die Muskeln mit dem Gehirn, dem Magen-Darm-Trakt und der Leber im Austausch stehen.« Fachleute wie Beate Zunner sprechen auch vom »muscle-body crosstalk«.
Die Erkenntnisse auf diesem Feld sind noch relativ jung – und dementsprechend lückenhaft. »Es ist, als ob man durch ein Schlüsselloch schaut: Wir sehen im Moment nur einen ganz kleinen Ausschnitt«, sagt Zunner. Doch man lerne ständig hinzu. Die Hoffnung ist, dass die Erkenntnisse helfen, schwer zu behandelnde Krankheiten wie Rheuma in den Griff zu bekommen.
Myokine: Eine sportliche Familie
Mehrere hundert Myokine haben Forschende bereits identifiziert. »Und vermutlich warten noch viele hundert weitere darauf, entdeckt zu werden«, schreiben Beate Zunner und ihre Kollegen in einem im März 2022 erschienenen Übersichtsartikel. Biochemisch betrachtet gehören Myokine zur Gruppe der Zytokine. Dabei handelt es sich um längere und kürzere Eiweißketten (Proteine und Peptide), die der Signalübertragung zwischen Zellen dienen.
Als Entdeckerin der Myokine gilt die dänische Medizinerin Bente Klarlund Pedersen. An der Universität Kopenhagen in Dänemark erforscht sie, wie sich körperliche Aktivität auf verschiedene Gewebe und Organe auswirkt. Anfang der 2000er Jahre beobachtete sie, dass sich im Blut von Sporttreibenden bestimmte Moleküle anreicherten. So kann die Konzentration von Interleukin 6 (IL-6) nach einem Marathonlauf auf das 100-Fache ansteigen. Wie Pedersen und ihre Kollegen herausfanden, stellt die Skelettmuskulatur das Zytokin her. Es kurbelt den Stoffwechsel an, macht die Zellen empfindlicher für Insulin und kann so vor Übergewicht und Diabetes schützen. Auf Grund dessen schlugen Pedersen und ihre Kollegen vor, IL-6 als »Sportfaktor« (englisch: exercise factor) und alle Zytokine, die von der Skelettmuskulatur freigesetzt werden, als Myokine zu bezeichnen. (Übrigens stellt auch Fettgewebe seine eigenen Botenstoffe her, so genannte Adipokine. Sie interagieren munter mit den Muskeln und dem Rest des Körpers.)
Neben IL-6, das gewissermaßen als Prototyp der Myokine gilt, zählen auch die Interleukine IL-7, IL-8 und IL-15, Wachstumsfaktoren wie der »brain derived neurotropic factor« (BDNF) und Proteine wie Myostatin und Irisin zur Familie. Längere Zeit wurde darüber diskutiert, ob es Irisin überhaupt gibt und wie es sich am besten nachweisen lässt, doch seine Existenz ist mittlerweile zweifelsfrei bewiesen. Irisin ist gewissermaßen Beate Zunners Liebling. »Es ist eines der am besten erforschten Myokine. Und wirklich vielseitig.«
Sein Name leitet sich von Iris ab, der griechischen Göttin des Regenbogens. Vielleicht das Interessanteste an dem Molekül: Es kann weiße Fettzellen in braune umwandeln. Das ist gut, denn anders als weißes Fett speichert braunes Fett keine Energie, sondern verbrennt sie. Dabei entsteht Wärme. Wer viel braunes Fett hat, kann folglich seine Körpertemperatur besser halten und hat ein geringeres Risiko für Übergewicht, Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Nicht ohne Grund arbeiten Forscherteams an Strategien, die das braune Fettgewebe aktivieren. Außerdem verbessert Irisin den Zucker- und Fettstoffwechsel, die Durchblutung des Herzens und soll vor der Alzheimerkrankheit schützen.
Auch der Wachstumsfaktor BDNF hat positive Effekte auf das Nervensystem. Forscher entdeckten das Molekül zunächst im Gehirn von Schweinen – lange bevor es als Myokin identifiziert wurde. BDNF sorgt dafür, dass Nervenzellen heranreifen, sich weiterentwickeln und neu bilden. Das macht es zu einem interessanten Ziel für Medikamente gegen Alzheimer, Parkinson und andere neurodegenerative Erkrankungen.
Sport als Medizin
Ärzte und Forscherteams weltweit plädieren schon seit geraumer Zeit dafür, Sport ähnlich wie eine pharmakologische Therapie einzusetzen und auf Rezept zu verschreiben. In einer Übersichtsarbeit von 2015 trugen Pedersen und ihr Kollege Bengt Saltin Studien zu 26 Krankheiten zusammen, gegen die Bewegung nachweislich einen positiven Effekt hat. In der langen Liste finden sich psychiatrische, neurologische und Stoffwechsel-, Herz-Kreislauf- und Lungenerkrankungen, Krebs und Erkrankungen des Bewegungsapparats, zum Beispiel Rheuma.
Darunter fällt umgangssprachlich eine ganze Reihe rheumatischer Erkrankungen. Rheumatoide Arthritis ist die häufigste. Laut der Deutschen Gesellschaft für Rheumatologie ist etwa ein Prozent der erwachsenen Bevölkerung betroffen. Unbehandelt führt die Krankheit, die auf einer Fehlfunktion des Immunsystems beruht, zu einer fortschreitenden Zerstörung der Gelenke. Und das ist nicht alles: Die chronische Entzündung, die im Körper schwelt, beeinträchtigt auch andere Organe und Gewebe. So büßen etwa zwei Drittel der Patienten Muskelmasse ein, während ihr Körperfettanteil steigt. Folglich können sie sich noch schlechter bewegen, das Risiko für Begleiterscheinungen wie Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen nimmt zu – ein Teufelskreis. Allein durch Medikamente lässt sich die Krankheit nur bei etwa einem Viertel der Patientinnen und Patienten in Schach halten.
Bewegung stelle seit jeher »eine Säule der Behandlung entzündlich rheumatischer Erkrankungen dar«, sei aber bisher nur in wenigen Behandlungsleitlinien etabliert, heißt es in einem aktuellen Fortbildungsartikel, den der Rheumatologe Philipp Sewerin gemeinsam mit Kollegen verfasst hat. Er ist leitender Oberarzt im Rheumazentrum Ruhrgebiet, zudem forscht er an der Uniklinik Düsseldorf.
Analysen des Deutschen Rheuma-Forschungszentrums in Berlin haben allerdings ergeben, dass etwa ein Drittel der Patienten mit entzündlich rheumatischen Erkrankungen gar keinen Sport treibt. Ein möglicher Grund: Viele Rheumapatienten und teilweise auch Ärztinnen und Ärzte fürchten, dass sportliche Aktivität einen neuen Schub herbeiführen oder den Gelenken schaden kann. Die Sorgen seien unbegründet, sagen Sewerin und andere Fachleute. Freilich müsse das Training an den jeweiligen Zustand angepasst werden. »Einem Patienten, der im Rollstuhl sitzt, kann ich nicht sagen: ›Machen Sie doch mal Sport‹«, sagt der Rheumatologe. Aber auch in solchen Fällen sei Bewegung möglich – und helfe im Kampf gegen die Krankheit.
Warum Sport gegen Rheuma hilft
Die Ergebnisse zahlreicher Studien belegen: Die Muskelarbeit setzt antientzündliche Mechanismen in Gang, lindert die Beschwerden und kann so die Lebensqualität von Patienten und Patientinnen erheblich verbessern. Großen Anteil daran trägt offenbar das von den Muskeln ausgeschüttete Myokin IL-6. Wer sich mit Immunbiologie auskennt, runzelt nun vielleicht die Stirn, gilt IL-6 doch eigentlich als proinflammatorisches, sprich: entzündungsförderndes Zytokin.
»Eine Entzündung im Körper setzt im Gegenzug auch antientzündliche Mechanismen in Gang«, sagt Sewerin. Dafür gebe es gute Daten aus Zellkulturen und Tiermodellen. Forschungsarbeiten von Pedersens Teamund anderen haben ergeben, dass IL-6 Botenstoffe und Signalwege hemmt, die üblicherweise eine Entzündung befeuern. Es sorgt für die Ausschüttung entzündungshemmender Zytokine, nicht nur im Muskel, sondern auch in der Leber und anderen Organen. Hinzu kommen die oben beschriebenen positiven Effekte auf Stoffwechsel und Gefäße. Myokine – wie auch das Training an sich – wirken dem Abbau von Muskulatur und dem Aufbau von Fettgewebe entgegen und können so helfen, den Teufelskreis aus Krankheit und Mobilitätsverlust zu durchbrechen. »Tägliche Bewegung und Sport sollten nicht nur optional als Therapie fungieren, sie scheinen vielmehr zwingend notwendig zu sein«, folgern Sewerin und Kollegen. Zu einem ähnlichen Schluss gelangt die European Alliance of Associations for Rheumatology (EULAR), eine gemeinnützige Organisation, die Patienten und Rheumatologen aus europäischen Ländern vertritt. Sie hat 2018 ihre Bewegungsempfehlungen für Menschen mit rheumatischen Erkrankung aktualisiert.
»Man kann Myokine nicht einfach so in eine Tablette packen«Beate Zunner, niedergelassene Fachärztin für Allgemein- und Sportmedizin und Forscherin an der Universität Bayreuth
Um Sport wie ein Medikament einsetzen zu können, muss man allerdings die richtige Dosierung kennen. Damit überhaupt Myokine ausgeschüttet werden, scheint ein Mindestmaß an Bewegung erforderlich. Dieser Schwellenwert ist individuell verschieden. Treibt man hingegen zu viel Sport, kann es zu einem Übertrainingszustand kommen, der Entzündungen fördert. Das ist nicht nur bei Rheuma kontraproduktiv. Zu viel oder der falsche Sport kann auch auf andere Art und Weise schaden. Insbesondere Menschen mit Vorerkrankungen sollten sich beraten lassen. »Es bleibt Aufgabe der behandelnden Ärzte und Physiotherapeuten, für jeden Patienten sowohl die individuell geeignete Sportart als auch die angemessene Dosis des ›Medikaments Sport‹ festzulegen«, schreiben Sewerin und seine Kollegen.
Pillen schlucken statt schwitzen?
Welche Art von Sport man treibt, scheint außerdem zu beeinflussen, welche Myokine gebildet werden. »Manche werden eher bei Krafttraining ausgeschüttet, andere bei Ausdauertraining«, sagt Beate Zunner. Gemeinsam mit Kollegen hat sie die vorhandene Literatur zum Krafttraining unter die Lupe genommen. Das Ergebnis: Wer schwere Gewichte stemmt, dafür aber eher wenige Wiederholungen macht, stimuliert vor allem die Proteinsynthese, sprich: Es werden Muskeln aufgebaut. Dabei spielen die Myokine Myostatin, Folstatin und Decorin eine Rolle. BDNF, Irisin und IL-6 werden eher durch viele Wiederholungen mit leichteren Gewichten getriggert.
Angenommen also, man wüsste, welche Myokine der Körper bräuchte. Kann man sie dann nicht einfach einnehmen? Diese Frage hat sich die Pharmaindustrie bereits gestellt. Die bisherigen Versuche dazu verliefen allerdings ernüchternd. BDNF beispielsweise kann die Blut-Hirn-Schranke nicht überwinden. Sprich: Es gelangt nicht dorthin, wohin es wirken soll. Und Eiweiße lassen sich im Allgemeinen schlecht oral verabreichen, denn sie werden im Körper rasch abgebaut. Bei IL-6 ist außerdem die Dosierung besonders problematisch, denn ein zu hoher Spiegel fördert bekanntlich Entzündungen. Zudem scheint es strukturelle Unterschiede zwischen dem im Muskel und anderswo gebildeten IL-6 zu geben. »Man kann Myokine nicht einfach so in eine Tablette packen«, sagt Beate Zunner. Dazu seien die Stoffwechselwege viel zu komplex, und man wisse noch zu wenig über die Auswirkungen.
Sport als Multimedikament
Um sicherzugehen, dass Myokine wirklich im Muskel und nicht an anderen Stellen im Körper hergestellt werden, müsste man Gewebeproben entnehmen und sie untersuchen. »Das ist sehr aufwändig und teuer«, sagt Biochemikerin Barbara Munz, die das molekular- und zellbiologische Forschungslabor an der Universitätsklinik Tübingen leitet.
Einfacher ist es, verschiedene Stoffwechselprodukte im Blut von Probanden zu bestimmen. Genau das macht ein Team um die Sportwissenschaftlerin Inga Krauß aktuell in einer groß angelegten Untersuchung namens »MultiPill-Exercise«. In Kooperation mit der Allgemeinen Ortskrankenkasse Baden-Württemberg (AOK) wollen die Forscherinnen und Forscher der Universitätsklinik Tübingen herausfinden, ob und wie Sport auf die Gesundheit Einfluss nehmen kann. Konkret untersucht das Team Personen, die mindestens an zwei der folgenden Erkrankungen leiden oder ein erhöhtes Risiko dafür haben: Arthrose, Diabetes, Übergewicht und Bluthochdruck. »Alle vier Krankheiten haben eines gemein: eine niederschwellige Entzündung«, sagt Inga Krauß.
Die Hälfte der rund 300 Teilnehmenden dient als Kontrollgruppe und nimmt am Standardprogramm der Krankenkasse teil. Dieses umfasst bis zu zwei Gesundheitsangebote pro Jahr. Die andere Hälfte absolviert ein 24-wöchiges Sport-Intensivprogramm mit ergänzenden Informationen und Anregungen rund um das Thema gesunde Ernährung. Die ersten zwölf Wochen werde man sehr intensiv betreut, sowohl in Gruppen als auch einzeln, erklärt Simone Schweda. Dabei werden Kraft und Ausdauer auf unterschiedlichste Art und Weise trainiert. In der zweiten Hälfte sollen die Teilnehmenden zunehmend selbstständig trainieren. »Die Idee ist, über das Programm hinaus eine Aktivität zu finden, die man langfristig durchführen kann und will«, sagt die Sportwissenschaftlerin. Die Pilotphase habe bereits viel versprechende Tendenzen aufgezeigt. So hätten einzelne Patienten ihre Medikamente absetzen oder die Dosis reduzieren können.
»Der eine nimmt ab, der andere kann seinen Blutdruck besser regulieren, und der Dritte hat so viel Spaß am Sport, dass es ihm emotional besser geht«Inga Krauß, Leiterin der Arbeitsgruppe Biomechanik/Trainingswissenschaft am Universitätsklinikum Tübingen
Das primäre Ziel sei, die Leute von der Couch zu holen, sagt Studienleiterin Inga Krauß. »Wir wollen körperliche Aktivität und ausgewogene Kost als Mediator für den Gesundheitserfolg nutzen.« Sie ist sich sicher: »Wenn wir Personen zu einem aktiveren und gesünderen Lebensstil motivieren und sie dabei unterstützen, diesen langfristig selbstständig in ihren Alltag zu integrieren, dann ergibt sich der gesundheitliche Benefit von selbst.« Der könne verschieden aussehen: »Der eine nimmt ab, der andere kann seinen Blutdruck besser regulieren, und der Dritte hat so viel Spaß am Sport, dass es ihm emotional besser geht.«
Was dabei im Körper – vor allem in den Muskeln – vorgeht, verstehen wir zwar noch nicht bis ins letzte Detail. Aber: Wer es schafft, den inneren Schweinehund zu überwinden, wird in vielerlei Hinsicht belohnt. Daran hat auch der Myokin-Cocktail, den der Sport in unserem Körper mixt, seinen Anteil. Und sicher ist: Bei richtiger Dosierung hat er weniger Nebenwirkungen als jeder Medikationsplan.
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