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Gesundheit: Wirbel um Vitamin D

Viele Menschen konsumieren Vitamin-D-Ergänzungsmittel, weil sie vermeintlich zu niedrige Blutserumwerte dieser Substanz haben. Ein genauerer Blick auf gängige Grenzwerte zeigt allerdings: Gesunde Personen mit halbwegs normalem Lebensstil brauchen solche Präparate wohl nicht.
Auf einem Tisch liegen verstreut einige honigfarbene Vitamin-D-Kapseln
Die tägliche Vitamin-D-Zufuhr zu erhöhen, beispielsweise über Kapseln, wird vielfach als gesundheitsfördernd angepriesen. Große randomisierte Studien haben das jedoch nicht bestätigt.

Vitamin D gilt vielen als Gesundheitselixier. Vor mehr als 100 Jahren wurde es als Heilmittel gegen Rachitis genutzt: eine Kinderkrankheit, die zu deformierten Knochen führt. Anfang der 2000er Jahre erschienen dann gehäuft Studien, laut denen ein Zusammenhang besteht zwischen niedrigen Vitamin-D-Spiegeln und Krebserkrankungen, Herz-Kreislauf-Komplikationen, Demenz, Depressionen, Diabetes, Autoimmunleiden, Knochenbrüchen, Atemwegsinfektionen und der Parkinsonkrankheit. Der Gedanke lag nahe, eine künstliche Zufuhr dieses Vitamins – das unser Körper bei Sonneneinstrahlung selbstständig bildet, das wir aber auch über Nahrungsergänzungsmittel aufnehmen können – würde zahlreichen Krankheiten entgegenwirken.

Mindestens zwei Bücher mit dem Titel »The Vitamin D Cure« sind erschienen, zusammen mit weiteren Werken und Pressebeiträgen, die mit Begriffen wie »Revolution« oder »Wunder« titelten. Bei zahlreichen Menschen wuchs die Besorgnis, sie würden nicht genug von dem Stoff zu sich nehmen. Im US-Fernsehen erklärten Reporter vor laufender Kamera, 100 Millionen Amerikaner hätten einen Vitamin-D-Mangel. Bluttests kamen in Umlauf, mit denen sich der Serumwert angeblich einfach bestimmen lässt. Fernsehmoderatoren empfahlen unter anderem Lebertran und Nahrungsergänzungsmittel, um eine tatsächlich oder vermeintlich unzureichende Versorgung zu kompensieren.

Hersteller von Vitaminpräparaten schürten den Eindruck, Vitamin D sei eine Art Allheilmittel – unterstützt von diversen Prominenten. Der Verkauf entsprechender Nahrungsergänzungsmittel stieg daraufhin sprunghaft an, ebenso wie die Zahl durchgeführter Bluttests. Fachleute wie JoAnn Manson kritisieren das heute. Die Endokrinologin und Epidemiologin an der Harvard Medical School hat einige der bisher größten Vitamin-D-Studien wissenschaftlich koordiniert.

Der holprige Weg der Erkenntnis

Obwohl hunderte Untersuchungen auf einen Zusammenhang zwischen niedrigen Vitamin-D-Blutserumwerten und verschiedenen Krankheiten hindeuten, lassen sich diese Erkrankungen in aller Regel nicht durch simple Zufuhr des Stoffs verhindern oder heilen. Auch die Annahme, in großen Teilen der Bevölkerung bestehe ein Vitamin-D-Mangel, gerät ins Wanken. Sie beruht auf zweifelhaften Grenzwerten, wie sich immer deutlicher abzeichnet. Stichproben haben ergeben, dass die meisten Menschen ausreichend mit der Substanz versorgt sind.

Es steht außer Frage, dass Vitamin D eine wichtige Rolle für die Gesundheit spielt. Es ermöglicht unserem Organismus, Kalzium und Phosphor aufzunehmen und einzulagern; beide sind wichtig für den Knochenaufbau. Aber mit Ausnahme einiger weniger Bevölkerungsgruppen – darunter Säuglinge, die gestillt werden, sowie Patientinnen und Patienten mit bestimmten Erkrankungen – dürften die meisten Menschen keine entsprechenden Nahrungsergänzungsmittel benötigen, wie die vorliegenden empirischen Befunde zeigen.

Die Geschichte, wie Vitamin D zum angeblichen Wundermittel aufstieg, wirft ein Schlaglicht auf den manchmal holprigen Weg der wissenschaftlichen Erkenntnis. Sie gemahnt uns, wissenschaftliche Ergebnisse vorsichtig und zurückhaltend zu interpretieren. Und sie ist ein Lehrstück dafür, wie sich die Wissenschaft selbst korrigieren kann, wenn es gut läuft.

Wir Menschen decken den Großteil unseres Vitamin-D-Bedarfs dadurch, dass Sonnenstrahlung auf unsere Haut fällt und unser Organismus das Vitamin daraufhin fotochemisch bildet. Diesbezüglich ähneln wir ein wenig den Pflanzen: Wir nutzen ultraviolette Anteile des Sonnenlichts, um eine Substanz herzustellen, die unser Körper benötigt. Treffen energiereiche UV-B-Strahlen auf unsere Haut, setzen sie dort eine Reaktion in Gang, bei der sich eine Substanz namens 7-Dehydrocholesterol in eine Vitamin-D-Vorstufe umwandelt. Letztere durchläuft einige weitere Schritte und entwickelt sich dabei zu einer Form des Vitamins, die das Aufnehmen von Kalzium aus dem Darm ermöglicht und die Mineralisierung des Knochenskeletts fördert. Vitamin D scheint weiterhin das Immunsystem zu stärken und Entzündungen zu dämpfen. Dies geschieht teilweise, indem es die Produktion entzündungsrelevanter Faktoren verändert und entzündungsfördernde Zellen unterdrückt.

Sonne auf der Haut | Wir Menschen decken den Großteil unseres Vitamin-D-Bedarfs dadurch, dass Sonnenlicht auf unsere Haut fällt und unser Organismus das Vitamin daraufhin fotochemisch bildet. Dafür reichen in der Regel schon relativ kurze Aufenthalte im Freien.

Ausreichend mit Vitamin D versorgt zu sein, erwies sich während der industriellen Revolution im 18. und 19. Jahrhundert als schwierig, als Rauch und Ruß aus zahlreichen Schornsteinen den Himmel verdunkelten und etliche Kinder in den engen Gassen und düsteren Hinterhöfen überfüllter Städte aufwuchsen. Damals griff die Rachitis massenhaft um sich. Im späten 19. Jahrhundert hatten Wissenschaftler geografische Unterschiede in der Rachitis-Häufigkeit dokumentiert, die auf einen Zusammenhang mit dem Sonnenlicht hinwiesen.

Als nutzbringend erkannt

In den 1920er Jahren entdeckte der US-Biochemiker Elmer McCollum von der Johns Hopkins University, dass Vitamin D in Lebertran enthalten ist, und gab dem Vitamin seinen Namen. Der deutsche Chemiker Adolf Otto Reinhold Windaus erhielt 1928 den Chemie-Nobelpreis für seine Forschungsarbeiten darüber, wie der Körper Vitamin D mit Hilfe der Sonnenstrahlung herstellt. Bereits kurze Zeit später kam die Idee auf, Lebensmittel mit dem Stoff anzureichern. McCollums ehemaliger Student Harry Steenbock, damals an der University of Wisconsin-Madison, fand heraus: Vitamin D entsteht sowohl in Ratten als auch in ihrem Futter, wenn man beide mit UV-Licht bestrahlt. Das Licht trifft auf Sterolverbindungen in den Zellen von Tieren, Pflanzen und Pilzen, was einen Umwandlungsprozess anstößt. Beleuchtet man Hühner mit UV-B-Strahlung, deren Wellenlänge zwischen 280 und 315 Nanometern liegt, erhöht sich der Vitamin-D-Gehalt im Fleisch der Vögel sowie im Eidotter. In modernen Nahrungsergänzungsmitteln stammt das Vitamin D meist aus bestrahltem Lanolin, einem Sekret aus den Talgdrüsen von Schafen.

Steenbock erkannte darüber hinaus, dass die Fütterung von Milchkühen mit bestrahltem Futter ebenso wie das Mischen von bestrahltem Fett in die Milch deren Vitamin-D-Gehalt erhöht. Heute werden Molkereiprodukte, die mit aus Lanolin gewonnenem Vitamin D angereichert sind, massenhaft konsumiert.

Eine bierisch gute Idee

1936 brachte das Brauereiunternehmen Joseph Schlitz ein Bier mit dem Namen »Sunshine Vitamin D« auf den Markt. In der Werbung hieß es: »Bier ist gut für Sie – aber SCHLITZ, mit SUNSHINE Vitamin D, ist besonders gut. Trinken Sie es täglich – für die Gesundheit und mit Genuss.« Wer das für eine amüsante Anekdote vergangener Zeiten hält, sei daran erinnert, dass die Biermarke Corona im Jahr 2022 das »Corona Sunbrew« ins Programm nahm, ein alkoholfreies Getränk, das mit Vitamin D angereichert ist.

Die Ernährung trägt mit schätzungsweise 10 bis 20 Prozent allerdings nur relativ wenig zur Vitamin-D-Versorgung bei. Der wichtigere, »evolutionär erprobte Mechanismus, um an das Vitamin zu kommen, ist die lichtgetriebene Synthese in der Haut«, sagt Anastassios Pittas, Leiter der Abteilung für Endokrinologie, Diabetes und Stoffwechsel am US-amerikanischen Tufts Medical Center. Niemand muss dafür einen Sonnenbrand in Kauf nehmen. Eine Person in Rom beispielsweise, deren Haut zu 25 Prozent unbedeckt ist, muss sich zwischen April und Oktober zwischen drei und acht Minuten täglich an der Sonne aufhalten, um ausreichend Vitamin D für den Eigenbedarf zu synthetisieren. Im Winter allerdings kann es manchmal schwierig sein, genügend Licht zu empfangen – vor allem in hohen Breitengraden.

Zum Glück kann unser Körper mit derlei saisonalen Schwankungen umgehen: Unsere Leber und unsere Fettzellen speichern Vitamin D, wie Pittas erläutert. Das bedeutet, dass wir nicht unbedingt jeden Tag viel davon selbst synthetisieren müssen. Das körpereigene Vitamin-D-Depot reicht in der Regel für zehn bis zwölf Wochen. Selbst wenn wir im Winter nur wenig Sonnenlicht abbekommen, zirkuliert genug von dem Stoff in unserem Organismus, um einen hinreichenden Kalzium- und Phosphorstoffwechsel aufrechtzuerhalten. Dass die Blutserumwerte im Winter abfallen, ist laut Pittas normal und nur dann Besorgnis erregend, wenn der Vitamin-D-Spiegel bereits vorher bedenklich niedrig war.

Mittel gegen alles?

Das Interesse an einer zusätzlichen Vitamin-D-Zufuhr stieg, als wissenschaftliche Untersuchungen darauf hindeuteten, dass sich damit möglicherweise das Risiko für Herzkrankheiten, Krebs, Diabetes und verschiedene weitere Komplikationen senken lässt. Das Problem ist, dass diese Hinweise zumeist aus Beobachtungsstudien stammten. Solche Untersuchungen können Korrelationen aufdecken, aber nicht Ursache und Wirkung identifizieren – und werden daher oft irreführend interpretiert, wie JoAnn Manson betont. In vielen Beobachtungsstudien ging es darum, Zusammenhänge zwischen dem Vitamin-D-Spiegel und einem bestimmten Gesundheitsproblem zu finden beziehungsweise den Vitamin-D-Status von Erkrankten mit dem von Gesunden zu vergleichen. Im Rahmen der berühmten Framingham-Herz-Studie beispielsweise, die bereits seit 1948 läuft, beobachteten Fachleute um Thomas Wang von der Harvard University mehr als 1700 Menschen ohne vorherige Herz-Kreislauf-Erkrankung über einen Zeitraum von etwa fünf Jahren. Sie stellten fest, dass Menschen mit niedrigem Vitamin-D-Spiegel ein höheres Risiko tragen, eine Herzerkrankung zu entwickeln. Das sorgte im Jahr 2008 für viel Aufregung und löste einen Vitamin-D-Hype aus, erinnert sich Manson.

Auch Diabetes schien mit dem Serumwert dieses Stoffs zusammenzuhängen. Eine 2010 veröffentlichte Studie hatte fast 6100 Menschen in Tromsø, Norwegen, elf Jahre lang überwacht. Die Häufigkeit von Diabetes Typ II erwies sich dabei umgekehrt proportional zur Vitamin-D-Konzentration im Blutserum: je höher die Konzentration, umso niedriger das Diabetesrisiko. In die gleiche Kerbe schlug eine Untersuchung von 2011 mit mehr als 6500 Personen in Australien: Ihr zufolge war die Gefahr, innerhalb von fünf Jahren an Diabetes zu erkranken, bei den Teilnehmern mit den höchsten Vitamin-D-Spiegeln am kleinsten.

»Dass der Vitamin-D-Serumspiegel statistisch mit Krankheiten assoziiert ist, bedeutet nicht zwangsläufig, dass es etwas an der Krankheitslast ändert, wenn man ihn beeinflusst«Leila Kahwati, stellvertretende Direktorin des Research Triangle Institute an der University of North Carolina

All diese Beobachtungsstudien haben den gleichen Schwachpunkt: Sie können ein gemeinsames Auftreten von Vitamin-D-Auffälligkeiten und einer Krankheit feststellen, aber nicht beweisen, dass eines davon das andere verursacht. Schnell kommt es so zu unzutreffenden Interpretationen, was sofort einleuchtet, wenn man es auf vertrautere Sachverhalte überträgt. So gibt es einen starken, gut reproduzierbaren statistischen Zusammenhang zwischen dem finanziellen Vermögen einer Person und dem Preis ihres Autos. Das heißt aber nicht, dass der Kauf eines teuren Autos reich macht.

»Dass der Vitamin-D-Serumspiegel statistisch mit Krankheiten assoziiert ist, bedeutet nicht zwangsläufig, dass es etwas an der Krankheitslast ändert, wenn man ihn beeinflusst«, sagt Leila Kahwati, stellvertretende Direktorin des Research Triangle Institute an der University of North Carolina. Es könnten weitere Faktoren im Hintergrund wirken, die eine Kausalität vortäuschen. So achten Menschen, die Vitamin-D-Präparate einnehmen, möglicherweise mehr auf sich und pflegen deshalb generell einen gesünderen Lebensstil. Andere wiederum, die gesundheitlich schon vorher beeinträchtigt waren, verbringen dadurch wahrscheinlich weniger Zeit im Freien und bekommen deshalb weniger Sonnenlicht ab.

Aus diesen Gründen gelten randomisierte kontrollierte Studien als deutlich aussagekräftiger. Forscherinnen und Forscher rekrutieren dabei Testpersonen, die sie per Zufallsprinzip (»randomisiert«) verschiedenen Gruppen zuweisen. Jede dieser Gruppen erhält eine andere medizinische Behandlung beziehungsweise Scheinbehandlung. Wie sich diese auf das Krankheitsrisiko auswirkt, wird verblindet ausgewertet: Weder die Teilnehmer noch die Untersuchenden wissen, wer welcher Gruppe angehört; das wird erst nach der Auswertung aufgedeckt. Bei einer randomisierten Untersuchung ist es wesentlich wahrscheinlicher, dass die gefundenen Unterschiede zwischen den Gruppen tatsächlich auf den abweichenden Behandlungen beruhen und nicht auf anderen Variablen.

Im Jahr 2009 starteten JoAnn Manson und ihr Team die weltweit umfassendste randomisierte Vitamin-D-Studie, bezeichnet mit dem Kürzel »VITAL« (für »VITamin D and OmegA-3 TriaL«). Die Untersuchung schloss fast 26 000 gesunde Erwachsene ein, die nach dem Zufallsprinzip jeden Tag entweder 2000 internationale Einheiten (IE) Vitamin D oder ein Placebopräparat erhielten – über einen Zeitraum von durchschnittlich 5,3 Jahren. Unter den Probanden waren das männliche und das weibliche Geschlecht fast gleich stark vertreten; 20 Prozent der Teilnehmer waren Afroamerikaner, also nicht hellhäutig. Die Studie sollte helfen herauszufinden, ob eine erhöhte Vitamin-D-Zufuhr das Risiko von Krebs- oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen senkt.

Unschöne Überraschung

Die Ergebnisse waren ernüchternd. Laut den Daten senkte das zusätzliche Vitamin D weder die Häufigkeit von Krebs- noch von Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Es besserte weder die kognitiven Funktionen noch reduzierte es Vorhofflimmern oder die Häufigkeit von Migräneattacken. Es verringerte nicht das Schlaganfallrisiko, ebenso wenig die altersbedingte Makuladegeneration, und Knieschmerzen linderte es ebenfalls nicht. Selbst die Gefahr von Knochenbrüchen blieb bei zusätzlichen Vitamin-D-Gaben unverändert hoch. Insbesondere letzteres Ergebnis »war für viele Menschen eine echte Überraschung«, schildert Manson.

Eine Zusatzversorgung mit Vitamin D half empirisch auch nicht, das Diabetesrisiko zu senken. Für eine Studie, deren Ergebnisse im Jahr 2019 publiziert wurden, rekrutierten Anastassios Pittas und sein Team mehr als 2400 Menschen mit erhöhtem Risiko, einen Diabetes zu entwickeln. Nach dem Zufallsprinzip teilten sie die Teilnehmer in zwei Gruppen ein, so dass die einen täglich 4000 IE Vitamin D erhielten und die anderen täglich ein Placebo. Nach Ablauf des zweieinhalbjährigen Beobachtungszeitraums waren in beiden Gruppen etwa gleich viele Personen erkrankt.

Für die Vitamin-D-Bewertungsstudie (ViDA) wiederum meldeten sich in Neuseeland 5110 Freiwillige im Alter von 50 bis 84 Jahren. Sie erhielten per Zufallslos entweder Placebopräparate oder 200 000 IE Vitamin D pro Monat – eine enorm hohe Dosis, die weit über dem empfohlenen Tagesbedarf liegt. Trotzdem führte sie zu keinen nachweisbaren Unterschieden in der Häufigkeit von Herz-Kreislauf-Erkrankungen, akuten Atemwegsinfektionen, Knochenbrüchen abseits der Wirbelsäule, Stürzen und Krebserkrankungen. Andere Studien ergaben, dass eine Vitamin-D-Anreicherung in der Nahrung weder die Sterblichkeitsrate noch das Risiko für invasive Krebsleiden senkt. Dies alles führte um das Jahr 2020 herum zu einer wachsenden Skepsis gegenüber dem gesundheitlichen Nutzen einer Extrazufuhr Vitamin D, erinnert sich Clifford Rosen, Endokrinologe am Maine Medicine Center’s Research Institute.

Grenzwertige Angelegenheit

Was die ViDA-Studie allerdings auch enthüllt hatte: Personen, die zu Beginn der Untersuchung einen Vitamin-D-Mangel aufgewiesen hatten, profitierten geringfügig von der zusätzlichen Einnahme dieses Stoffs. Was aber bedeutet »Mangel« genau? Das ist alles andere als klar – sogar unter Ärztinnen und Ärzten. Die weit verbreitete Vorstellung, ein erheblicher Teil der Bevölkerung sei unzureichend mit Vitamin D versorgt, beruht Manson zufolge auf einer Fehlinterpretation und falschen Anwendung der geltenden Vitamin-D-Referenzwerte.

Und das kam so: Im Jahr 2011 berief das US-amerikanische Institute of Medicine (IOM, heute bekannt als National Academy of Medicine) einen Expertenausschuss ein, um alle vorhandenen Studien zu analysieren, die den Zusammenhang zwischen Vitamin D und gesundheitlichen Aspekten untersucht hatten. Der Ausschuss kam zu dem Ergebnis, die Knochen stärkende Wirkung von Vitamin D erreiche bei einem Blutserumwert von 12 bis 16 Nanogramm pro Milliliter (ng/ml) ein Plateau – das heißt, eine weitere Erhöhung der Konzentration führt nicht zu noch stärkeren Knochen. Das Gremium stellte außerdem fest, ein Serumwert von mehr als 20 ng/ml bringe keine erkennbaren gesundheitlichen Vorteile. Daher legte es diesen Wert als Obergrenze seiner Empfehlungen fest. Die Fachleute fügten ergänzend hinzu, dass es den meisten Menschen mit 16 ng/ml gut gehe.

Laut Erhebungen in den USA, die im Rahmen des National Health and Nutrition Examination Survey durchgeführt wurden, hatten die meisten Einwohner im Jahr 2011 einen Vitamin-D-Blutpegel von 20 ng/ml oder mehr. Auf Deutschland traf das damals ebenfalls zu, wie Studien des Robert Koch-Instituts ergeben haben. Die Vitamin-D-Versorgung habe sich seither noch verbessert, was bedeute, dass die weit überwiegende Bevölkerungsmehrheit die medizinischen Empfehlungen vollumfänglich erfülle, wie Rosen betont (er arbeitete im IOM-Ausschuss mit).

Zielmarken im Steigflug

Woher rührt dann die Vorstellung eines massenhaft verbreiteten Vitamin-D-Mangels? Sie kam durch mehrere Faktoren zu Stande. Zum einen interpretierten viele Akteure im Gesundheitswesen eine Blutserumkonzentration von 20 ng/ml fälschlicherweise als Minimalwert der Versorgung. Erinnern wir uns: Die IOM-Experten hatten festgestellt, dass 16 ng/ml ausreichen. Diese Fehldeutung führte dazu, dass sich die Ansicht verbreitete, Menschen würden mehr als 20 ng/ml für eine gute Knochengesundheit benötigen.

Zusätzliche Verwirrung stifteten Referenzwerte, die eine weitere Organisation, die Endocrine Society, etwa zeitgleich zum IOM herausgab. Während das IOM zum Ziel gehabt hatte, Empfehlungen mit Blick auf die Gesamtbevölkerung auszusprechen, richteten sich die Leitlinien der Endocrine Society an Ärzte und Ärztinnen – und zwar insbesondere an solche, die Patienten mit dem Risiko eines Vitamin-D-Defizits behandelten. Die Fachleute der Endocrine Society sichteten großteils die gleichen Studien wie der IOM-Ausschuss, kamen jedoch zu dem Schluss, dass alles unterhalb von 20 ng/ml einen »Mangel« darstelle, und kennzeichneten Vitamin-D-Werte zwischen 21 und 29 ng/ml als »unzureichend« (»insuffizient«).

»Die Begriffe ›Insuffizienz‹ und ›Mangel‹ haben enorme Verunsicherung geschürt«Christopher McCartney, Endokrinologe und Experte für klinische Forschung an der University of Virginia

»Die Begriffe ›Insuffizienz‹ und ›Mangel‹ haben enorme Verunsicherung geschürt«, wie es Christopher McCartney ausdrückt, Endokrinologe und Experte für klinische Forschung an der University of Virginia. Die Leitlinien der Endocrine Society seien weitgehend so verstanden worden, dass eine durchschnittliche Person einen Vitamin-D-Serumwert von 30 ng/ml oder mehr benötige.

Die Referenzwerte des IOM stützen diese Auslegung nicht. Daher veröffentlichte der Institutsausschuss im Jahr 2012 einen Fachartikel, in dem er sie zu widerlegen versuchte. In dem Dokument namens »IOM Committee Members Respond to Endocrine Society Vitamin D Guideline« steht, dass die Leitlinien der Endocrine Society in manchen Teilen – einschließlich der Definition von Insuffizienz – nur unzureichend durch empirische Daten gestützt seien. So basieren die Leitlinien unter anderem auf einer Studie aus dem Jahr 2003 mit lediglich 34 Teilnehmern, die als Beleg dafür herangezogen wird, dass ein Vitamin-D-Spiegel von mehr als 30 ng/ml vorteilhaft für die Kalziumaufnahme sei. Zugleich ignorierte die Society aber eine andere Untersuchung mit mehr als 300 Teilnehmern, laut der die Kalziumabsorption bei etwa 8 ng/ml ihr Maximum erreicht.

Michael Holick war der Hauptautor dieser Leitlinien. Der Endokrinologe von der Boston University (USA) sagt, die Kategorie »Insuffizienz« stütze sich auf eine Beobachtungsstudie aus dem Jahr 2010. Ihr zufolge wies etwa jeder Vierte der untersuchten, augenscheinlich gesunden erwachsenen Männer Anzeichen von Osteomalazie auf, einer Knochenerweichung, die oft mit Vitamin-D- oder Kalziummangel zusammenhängt. In der Studie wurden bei Menschen mit Vitamin-D-Serumwerten oberhalb von 30 ng/ml keine Knochenprobleme festgestellt, woraus Holick ableitete, alles unterhalb dieser Marke sei unzureichend.

Empfehlungen auf dem Prüfstand

Die Endocrine Society hat ihre Leitlinien 2024 aktualisiert, unter Mitwirkung von Christopher McCartney. Ihm zufolge fokussieren sich die neuen Leitlinien auf randomisierte Untersuchungen, nicht auf Beobachtungsstudien. Das Gremium hat darauf geachtet, eine Einflussnahme von außen zu vermeiden. »Unsere Richtlinien hinsichtlich Interessenkonflikten sind viel transparenter und strenger als früher«, betont McCartney. Holick könnte einem solchen Konflikt unterliegen: Laut einer Untersuchung des journalistischen Portals »KFF Health News« und der »New York Times« aus dem Jahr 2018 hat er mindestens 100 000 US-Dollar von verschiedenen Unternehmen erhalten, die Vitamin-D-Präparate und -Tests herstellen. McCartney räumt ein, die Endocrine Society lege auch wegen der Bedenken, die im Hinblick auf Holick geäußert wurden, ein besonderes Augenmerk auf ethische Fragen.

Holick trat in der Vergangenheit als engagierter Verfechter einer zusätzlichen Vitamin-D-Zufuhr hervor und schrieb ein Buch mit dem Titel »The Vitamin D Solution: A 3-Step Strategy to Cure Our Most Common Health Problems« (deutsch »Die Vitamin-D-Lösung: Eine 3-Schritte-Strategie zur Heilung unserer häufigsten Gesundheitsprobleme«). Er nimmt täglich 6000 IE dieses Stoffs ein und rät seinen Patienten zu mindestens 2000 bis 3000 IE am Tag. Zum Vergleich: Der IOM-Ausschuss war im Jahr 2011 zu dem Ergebnis gekommen, der Tagesbedarf einer durchschnittlichen Person liege bei 400 IE.

Von »Scientific American« auf seinen möglichen Interessenkonflikt angesprochen, dementierte Holick einen solchen. Er räumte zwar ein, Geld von der Industrie erhalten zu haben, sagte aber, das meiste davon habe »nichts mit Vitamin D zu tun« gehabt. Stattdessen sei es ein Honorar gewesen für einen Vortrag, den er gehalten habe – und zwar über ein neues Medikament, das auf den Markt komme, für Patienten mit einer chronischen Unterfunktion der Nebenschilddrüsen.

Viele in der Branche empfinden Holicks Begeisterung für Vitamin D als problematisch angesichts der Tatsache, dass er in zentraler Funktion an den Leitlinien der Endocrine Society mitgearbeitet hat. Selbst Clifford Rosen, der mit Holick befreundet ist, zeigt sich kritisch. »[Holick] ist ein guter Kerl«, sagt Rosen, »aber wenn man eine Hypothese aufgestellt hat, bedeutet das nicht zwangsläufig, dass man unbeirrbar daran festhalten muss … Michael ist sehr weit gegangen, um zu zeigen, dass Vitamin D etwas mit chronischen Krankheiten zu tun hat.«

Irreführende Tests

Manche Beipackzettel, die zusammen mit Vitamin-D-Tests vertrieben werden, geben noch immer an, Serumwerte unterhalb von 30 ng/ml seien zu niedrig. Einige Produktinformationen, die sich an sportlich aktive Menschen richten, ermutigen sogar dazu, mindestens 50 ng/ml anzustreben. Nach wie vor erfreuen sich Vitamin-D-Tests eines reißenden Absatzes, obwohl sie von großen medizinischen Organisationen wie der Endocrine Society, der National Academy of Medicine und der United States Preventive Services Task Force nicht empfohlen werden. Choosing Wisely, eine Initiative zur Eindämmung verschwenderischer medizinischer Praktiken, hat sich dagegen ausgesprochen, den Vitamin-D-Status der Bevölkerung in Massen-Screenings zu erfassen; drei medizinische Fachgesellschaften haben sich dem angeschlossen.

Bei den Tests treten bekanntermaßen methodische Probleme auf. Übliche Kits messen die zirkulierenden Blutspiegel von 25-Hydroxyvitamin D, das an ein bestimmtes Protein gebunden ist. Manche Menschen weisen aber Genvarianten auf, die dazu führen, dass anteilig mehr ungebundenes und weniger gebundenes Vitamin D ins Blut gelangt; bei ihnen unterschätzt der Tests die Gesamtverfügbarkeit des Vitamins. Das trifft vor allem auf Menschen afrikanischer Abstammung zu.

Dennoch wird munter weitergetestet. Ein Team um Michelle Rockwell von der Virginia Tech hat im Jahr 2020 die Krankenakten eines großen regionalen Gesundheitsdienstleisters in Virginia untersucht und festgestellt, dass bei etwa zehn Prozent aller Patienten der Vitamin-D-Spiegel gemessen wurde, obwohl es aus medizinischer Sicht nur selten einen Grund dafür gab. Die Ergebnisse fielen dementsprechend aus: 75 Prozent der Messungen lagen laut Rockwell im Normbereich der Referenzwerte. Und das, obwohl in der Studie relativ hohe Konzentrationen zwischen 30 und 99,9 ng/ml als »normal« galten. Hätte das Team die niedrigeren IOM-Standards zu Grunde gelegt, wäre ein noch deutlich höherer Anteil der Testergebnisse als völlig in Ordnung durchgegangen.

Hält man sich die empirischen Ergebnisse vor Augen, liegt der Schluss nahe, dass viele der postulierten Gesundheitsvorteile einer zusätzlichen Vitamin-D-Zufuhr nicht existieren

Hält man sich den Umfang der VITAL-Studie und ihre überaus ernüchternden Ergebnisse vor Augen, liegt der Schluss nahe, dass viele der postulierten Gesundheitsvorteile einer zusätzlichen Vitamin-D-Zufuhr nicht existieren. Zumindest sehen das viele Forscherinnen und Forscher so – beispielsweise Clifford Rosen. In einem Leitartikel im Fachblatt »New England Journal of Medicine« erklärte er, die meisten Menschen könnten auf die Einnahme von Vitamin-D-Präparaten verzichten und die VITAL-Studie habe diesbezüglich ein »maßgebliches Urteil« gesprochen. Viele, so Rosen, wollten das aber nicht zur Kenntnis nehmen.

Gratwanderung zwischen Unter- und Überversorgung

Selbstverständlich gibt es Ausnahmen. Die American Academy of Pediatrics (eine Organisation beruflicher Vertreter der Kinderheilkunde) empfiehlt, dass Säuglinge, die teilweise oder ausschließlich gestillt werden, bereits in den ersten Lebenstagen zusätzlich 400 IE Vitamin D täglich erhalten sollen, um die Knochen zu stärken. Auch Kleinkinder sollen demnach diese zusätzliche Dosis bekommen, sofern sie nur wenig Vitamin-D-angereicherte Nahrung zu sich nehmen. Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung hingegen hat eine generelle Anreicherung von Lebensmitteln mit Vitamin D nicht empfohlen.

Krankheiten wie Morbus Crohn, Mukoviszidose, Zöliakie und bestimmte Leber- und Nierenleiden können einen Vitamin-D-Mangel verursachen, weshalb davon Betroffene mitunter entsprechende Nahrungsergänzungsmittel benötigen. Ähnliches gilt für Menschen, die stationär behandelt werden oder eine Magenbypass-Operation hinter sich haben.

JoAnn Manson hält ein Anreichern der Nahrung mit bis zu 2000 IE pro Tag für weitgehend unbedenklich. Höhere Mengen sind ihrer Meinung nach kritisch zu sehen, denn einige Studien haben ergeben, dass ein Überschuss an Vitamin D unter anderem das Risiko gefährlicher Stürze erhöht. Fachleute vermuten, eine zu hohe Dosierung könnte das Zentralnervensystem beeinflussen, was sich möglicherweise auf den Gleichgewichtssinn auswirkt. Laut der Website des Robert Koch-Instituts kann es bei übermäßig hoher Einnahme von Nahrungsergänzungsmitteln zu einer Vitamin-D-Vergiftung kommen, die zu erhöhten Kalziumspiegeln im Körper führt – mit zahlreichen möglichen Folgeerscheinungen bis hin zu Bewusstlosigkeit und Tod.

Ungelöste Rätsel

Trotz einer mittlerweile recht umfangreichen Datenlage zum Thema bleiben Fragen offen. So hat die VITAL-Studie ergeben, dass eine Vitamin-D-Anreicherung bei relativ schlanken Menschen mit einem Body-Mass-Index von 25 oder weniger das Risiko für Krebs- und Autoimmunerkrankungen zu senken scheint. Der schützende Effekt zeigte sich nicht bei korpulenteren Menschen. Obgleich diese Beobachtung noch nicht gut abgesichert ist, könnte sie darauf hindeuten, dass zu viel Körperfett die Wirksamkeit von Vitamin D beeinträchtigt. Übergewicht stellt freilich selbst einen Risikofaktor sowohl für Krebs als auch für Autoimmunkomplikationen dar, weshalb die zu Grunde liegenden Zusammenhänge wahrscheinlich kompliziert sind.

Anastassios Pittas zeigt sich nach wie vor überzeugt davon, dass Vitamin D bei Menschen mit hohem Diabetesrisiko einen Beitrag zur Prävention leisten kann. In früheren Studien seines Teams erkrankten teilnehmende Personen, die entsprechende Ergänzungsmittel erhalten hatten, seltener an Diabetes: 24,4 Prozent gegenüber 26,9 Prozent in der Placebo-Gruppe. Dieser Unterschied war statistisch nicht bedeutsam, bestätigte sich aber, als Pittas seine Ergebnisse mit denen zweier anderer randomisierter Studien zusammenlegte. Demnach verringert sich das Diabetesrisiko bei zusätzlicher Vitamin-D-Zufuhr um etwa drei Prozent, betrachtet über einen dreijährigen Zeitraum.

Klinische und Laboruntersuchungen haben gezeigt, dass sich Vitamin D positiv auf das Immunsystem auswirken und Entzündungen eindämmen kann. »Das haben wir auch in der VITAL-Studie gesehen«, betont JoAnn Manson. Michael Holick fügt hinzu, die Substanz könne dazu beitragen, so genannte Zytokinstürme abzudämpfen – Überreaktionen der Körperabwehr, zu deren möglichen Folgen lebensbedrohliche Atemprobleme zählen.

Mansons Team führt derzeit zwei randomisierte Studien durch, um zu prüfen, ob Vitamin D gegen Covid-19 hilft. In der ersten geht es um die Frage, ob eine hohe Dosierung die Wahrscheinlichkeit verkleinert, Long Covid zu bekommen. In der zweiten wird untersucht, ob 1000 IE pro Tag das Erkrankungsrisiko oder die Schwere der Symptome verringern.

Das Auf und Ab des Vitamin-D-Rummels sollte uns vor allem eines lehren: bescheidene Zurückhaltung. Die Beziehungen zwischen Vitaminkonsum und Gesundheit sind offensichtlich weitaus komplizierter und facettenreicher, als es zunächst den Anschein hat. Unser Erkenntnisgewinn darüber ist noch lange nicht abgeschlossen.

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  • Quellen

Manson, J. E.: Principal results of the VITamin D and OmegA-3 TriaL (VITAL) and updated meta-analyses of relevant vitamin D trials. The Journal of Steroid Biochemistry and Molecular Biology 198, 2020

Pittas, A. G. et al.: Vitamin D supplementation and prevention of type 2 Diabetes. New England Journal of Medicine 381, 2019

Rosen, C. et al.: IOM Committee members respond to endocrine society vitamin D guideline. The Journal of Clinical Endocrinology & Metabolism 97, 2012

Scragg, R. et al.: The vitamin D assessment (ViDA) study – design and main findings. The Journal of Steroid Biochemistry and Molecular Biology 198, 2020

Xu, Y. et al.: The importance of vitamin D metabolism as a potential prophylactic, immunoregulatory and neuroprotective treatment for Covid-19. Journal of Translational Medcine 18, 2020

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