Jungsteinzeit: Eine gemeinsame Wurzel der Megalithkultur?
Man zählt heute rund 35 000 über ganz Europa verstreute typische Megalith-Bauwerke, also Dolmengräber, Steinkreise oder »Hinkelstein«-Menhire, die meist irgendwann zwischen dem 5. und 3. Jahrtausend vor der Zeitenwende errichtet wurden. Die früher gängige Bezeichnung »Megalithkultur« als Klammer für dieses Phänomen haben Archäologen aber mittlerweile im Wesentlichen zu den Akten gelegt: Von einer zusammenhängenden Kultur mit gemeinsamer Idee oder ideologischer Wurzel könne man angesichts der weit verstreuten, unterschiedlich alten und enorm vielfältigen Steinartefakte kaum sprechen. Wahrscheinlich haben die Europäer der Jungsteinzeit solche am Ende verblüffend ähnlichen Megalithstrukturen immer wieder unabhängig voneinander neu erfunden. Oder vielleicht doch nicht, meint die Jungsteinzeitexpertin Bettina Schulz Paulsson von der Universität Göteborg im Fachmagazin »PNAS«: Neue Analysen ergaben auffällige Hinweise auf eine allmähliche Ausbreitung der Megalith-Idee aus einem Ursprungszentrum heraus, die wohl vor 4500 v. Chr. im Nordwesten Europas ihren Anfang nahm.
Paulsson hatte sich mit ihrem Team zum Ziel gesetzt, eine umfassende und genauere Zeitreihe möglichst vieler europäischer Megalith-Fundstellen mit Radiokarbonanalysen aufzustellen. Einen ersten ähnlichen Versuch hatte schon in den 1970er Jahren Colin Renfrew unternommen, der Pionier der Kohlenstoffdatierung. Mit deutlich verbesserter Analysetechnik konnte Paulssons Team nun aber viel mehr Fundstücke wesentlich exakter und sicherer datieren: Sie bestimmte so das Alter von 2410 Fundstellen anhand von zum Teil bereits früher untersuchten Proben im Kontext der Megalithbauten und von gleich alten Artefakten benachbarter Kulturen. Am Ende schälte sich dabei ein recht klares Bild heraus, so Paulsson: Offenbar entstanden die frühesten Megalithstrukturen im Nordwesten des heutigen Frankreich im frühen 5. Jahrtausend v. Chr. in nur rund 200 bis 300 Jahren. Als Vorläufer, die bloß hier zu finden sind, bieten sich auffällige prämegalithische Erdwerke an – somit womöglich die eigentlichen Urahnen der vielfältigen späteren Megalitharchitektur.
Vom Nordwesten des Kontinents aus verbreitete sich die Megalith-Idee dann allem Anschein nach in einer ersten Welle an den Küsten entlang, interpretiert Paulsson ihre Daten: Man findet im späten 5. und frühen 4. Jahrtausend vor der Zeitenwende Megalithbauten an der Atlantikküste und in küstennahen Regionen der Iberischen Halbinsel und des Mittelmeerraums. Erst noch etwas später boomten Megalith-Bauwerke dann auf den Britischen Inseln und Sardinien, um schließlich im 2. Jahrtausend Mitteleuropa und den skandinavischen Raum zu erreichen. Noch etwas später gab es einen letzten Boom der Megalith-Artefakte in Süditalien, auf kleineren Mittelmeerinseln und in Richtung Levante, bis die großen Megalithbauten dann um den Beginn des ersten vorchristlichen Jahrtausends endgültig in ganz Europa aus der Mode gekommen waren.
Eindeutig sei hier ein Muster von drei Ausbreitungswellen mit Ursprung in Nordwestfrankreich zu erkennen, meint Paulsson – und zwar über mögliche Seerouten. Dies könnte nahelegen, dass die maritime Expertise in der Jungsteinzeit deutlich ausgeprägter war, als man bisher vermutet hat. Vielleicht haben Megalith-Pioniere so ihr Knowhow und religiöse oder gesellschaftliche Vorstellungen in die Ferne getragen. Ganz ähnliche Ideen zur Erklärung archäologischer Gemeinsamkeiten hatten bereits Archäologen im 19. und frühen 20. Jahrhundert vertreten. Dabei hatten sie allerdings angenommen, dass die Megalithkultur vom Nahen Osten aus nach Europa vorgedrungen ist. Einer der differenzierteren Vertreter eines solchen Kultur-Diffusionismus war der berühmte Archäologe Gordon Childe, der seine Beiträge bereits in den 1950er Jahren, vor dem Aufkommen der Karbondatierung, formulierte. Paulsson sieht die älteren Spekulationen mit ihren Daten nun teilweise bestätigt – auch wenn der Megalithismus eher aus Nordwesteuropa in den Mittelmeerraum gelangt sei statt umgekehrt. In jedem Fall sei es angebracht, den europäischen Megalith-Horizont angesichts der neuen Daten und der möglichen maritimen Interaktionen wissenschaftlich noch einmal neu zu diskutieren.
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