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Erdbeben in der Türkei: Gigantische »Schraubzwinge« lässt die Erde beben

Das Erdbeben in der Südtürkei im Februar 2023 ist das schwerste, das dort je beobachtet wurde. Hinter der Katastrophe steckt ein geologischer Zangengriff, der immer wieder heftige Erschütterungen auslöst.
Eingestürztes Gebäude in Iskenderun nach dem Beben vom 6.2. mit Rettungskräften.
Rettungskräfte durchsuchen ein eingestürztes Gebäude in Iskenderun. Ein Grund für die schweren Verwüstungen ist, dass das Beben für die Region ungewöhnlich heftig war.

Im Februar 2023 traf eine schwere Erdbebenserie die Türkei und Syrien. Den Auftakt bildete in der Nacht zum 6. Februar eine Erschütterung mit einer Stärke von 7,8 in der bevölkerungsreichen Grenzregion zwischen den beiden Staaten. In dem vom Erdbeben betroffenen Gebiet liegt unter anderem die Großstadt Gaziantep mit rund zwei Millionen Einwohnern. In Syrien hat der Bürgerkrieg rund vier Millionen Flüchtlinge in die Grenzregion getrieben.

Erste Fotos und Videos aus der Region zeigten schwere Schäden an Gebäuden. Das Beben war das stärkste in der Türkei seit dem etwa gleich starken Erzincan-Beben von 1939 und das stärkste jemals beobachtete Erdbeben in der Grenzregion zu Syrien. Zusätzlich fand es in lediglich 18 Kilometer Tiefe statt, und je geringer die Entfernung zur Erdoberfläche, desto stärker sind dort die Erschütterungen. Hinzu kommen ungewöhnlich heftige Nachbeben. Eines davon, das zehn Stunden nach dem ersten Schlag etwas weiter nördlich entlang der Verwerfung auftrat, war mit einer Stärke von 7,5 für sich genommen ebenfalls stärker als alle historischen Beben in der Region.

Ursprung des Bebens ist eine lange bekannte Grenze zwischen zwei Teilen der Erdkruste – die Ostanatolische Verwerfung, eine von zwei großen Erdbebenzonen in der Türkei. »Das Erdbeben hat seinen Ursprung am Südwestende der Ostanatolischen Verwerfung, nahe der Verbindung zur in Nord-Süd-Richtung verlaufenden Totes-Meer-Transformstörung«, erklärt Roger Musson vom British Geological Survey gegenüber dem britischen Science Media Center. Dort gleiten die Anatolische und die Arabische Erdplatte mit einer Geschwindigkeit von fünf bis zehn Millimetern pro Jahr aneinander entlang.

Hinter dem Beben steckt Afrikas Kollision mit Eurasien

Dabei verhaken sich die Gesteine der Verwerfung, und Spannung baut sich auf. Wird sie zu groß, bricht das Gestein an einer Stelle. Der Bruch breitet sich mit Schallgeschwindigkeit entlang der Verwerfung aus, und die Spannung wird als Erdbebenenergie freigesetzt. Je länger der gebrochene Teil der Verwerfung, desto mehr Energie setzt das Beben frei.

Ein möglicher Grund für die Schwere des Bebens ist deswegen die mit rund 400 Kilometern ungewöhnlich lange Bruchzone. Nur bei wenigen historischen Beben an Transformstörungen habe man so eine lange Bruchzone beobachtet, schreibt der Seismologe Martin Mai von der King Abdullah University of Science and Technology in Saudi-Arabien.

Außerdem ist die Gefahr nach der ersten Erschütterung keineswegs vorbei, wie das schwere Nachbeben am Vormittag des 6. Februar zeigte. Der erste Bruch baut keineswegs die gesamte Spannung in der Verwerfung ab. »Es gibt weiterhin Nachbeben des heutigen Ereignisses«, sagt Musson, »eines mit einer Magnitude von 6,7 trat lediglich elf Minuten nach dem ersten Beben auf.«

In der geologischen Schraubzwinge | Von Süden rammt die Arabische Platte gegen Eurasien. Die kleine Anatolische Platte weicht dem Druck nach Westen aus. Dabei gleitet sie entlang zweier Störungszonen, die immer wieder Erdbeben erzeugen.

Die Ostanatolische Verwerfung ist ein Teil jener gigantischen Kollisionszone zwischen der Afrikanischen Platte im Süden und der Eurasischen Platte im Norden. Zwischen den zusammenstoßenden Kontinenten reiben sich diverse kleinere Bruchstücke der Erdkruste aneinander. Die Anatolische Platte, auf der die Zentraltürkei liegt, ist eins von ihnen, eine anderes die Arabische Platte, die entlang der Ostanatolischen Verwerfung an sie angrenzt. Diese Störungszone verläuft vom nordöstlichsten Zipfel des Mittelmeers Richtung Nordosten und verbindet zwei Zonen, in denen Teile der Erdkruste frontal miteinander kollidieren.

An ihrem Südende zieht sich nach Westen ins Mittelmeer hinein der Zypernbogen. Dort taucht Meeresboden unter die Anatolische Platte ab und hebt Zypern in die Höhe. An ihrem Nordende in Anatolien geht die Ostanatolische Verwerfung in die nach Südosten in den Iran reichende Zagros-Kollisionszone über, in der die Erdkruste durch die nach Norden drückende Arabische Platte zu einem mächtigen Faltengebirge aufgetürmt ist.

Eine gigantische Schraubzwinge

Außerdem trifft die Verwerfung dort auf die zweite gefährliche Erdbebenzone der Türkei: die Nordanatolische Störung, die sich in einem großen Bogen nach Nordwesten über Istanbul und durch das Marmarameer zieht. Die beiden große Verwerfungen sind der nördliche und östliche Rand der Anatolischen Platte. Sie bilden ein nach Osten zeigendes Dreieck, das die Ursache der schweren Erdbeben in der Region verrät.

Die Anatolische Platte mit der Türkei darauf befindet sich in einer gigantischen geologischen Schraubzwinge. Im Norden liegt die riesige Eurasische Platte, von Süden drückt als Teil Afrikas die Arabische Platte heran. Die vergleichsweise kleine Anatolische Platte, auf der der Großteil der Türkei liegt, wird von diesen beiden großen Fragmenten der Erdkruste in die Zange genommen. Sie weicht dem Druck aus, indem sie aus dieser geologischen Schraubzwinge zur Seite herausflutscht. Und diese Bewegung erzeugt immer wieder schwere Erdbeben in der Türkei.

Fachleute befürchten, dass es tausende Tote geben könnte, denn viele Gebäude sind eingestürzt oder schwer beschädigt. Dabei hatte ein schweres Beben der Stärke 7,6 im Jahr 1999 in Izmir, bei dem etwa 18 000 Menschen starben, schon zu härteren Bauvorschriften geführt. »Im Jahr 2004 erließ die türkische Regierung ein neues Gesetz, laut dem neue Gebäude nach modernen erdbebensicheren Standards gebaut werden müssen«, erklärt Joanna Faure Walker, Leiterin des Instituts für Risiko- und Katastrophenreduktion des University College London. »Nach diesem neuen Ereignis wird es wichtig sein zu prüfen, ob diese Vorschriften bei allen seither errichteten Gebäuden eingehalten wurden und ob die Vorgaben ausreichen.« Auch müsse man prüfen, wie man ältere Gebäude besser schützt.

Zuerst allerdings standen die Rettungsarbeiten an – und die müssen schnell gehen. Die ersten 24 Stunden sind entscheidend dafür, Überlebende zu bergen, denn nach etwa zwei Tagen sinkt die Wahrscheinlichkeit deutlich, dass die Opfer unter den Trümmern noch leben. Allerdings behinderten das kalte Wetter, die durch die bisherigen Beben angerichteten Zerstörungen und die anhaltende Gefahr starker Nachbeben die Rettungsarbeiten. Nicht zuletzt erschweren die seit Jahren andauernden Kämpfe in Syrien, an denen auch die Türkei beteiligt ist, die Bewältigung der Katastrophe.

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