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g-Faktor des Myons: Ein großes Rätsel der Teilchenphysik scheint gelöst

Das magnetische Moment des Myons fiel in Experimenten deutlich größer aus als theoretisch vorhergesagt. Neue Berechnungen passen nun endlich zu den experimentellen Messungen.
Künstlerische Darstellung des Higgs-Mechanismus
Das magnetische Verhalten des Myons warf lange Zeit Fragen auf. Doch nun könnte es eine Lösung geben.

Die Teilchenphysik beschreibt unser Universum extrem gut. Manchmal sogar zu gut, urteilen Fachleute. Unstimmigkeiten sind nötig, um die Welt um uns herum besser zu verstehen – denn unsere bisherigen Modelle sind nicht vollständig, wie das Ausbleiben einer alle Theorien in sich vereinenden Weltformel verdeutlicht. Daher sehen Forscherinnen und Forscher Abweichungen zwischen Theorie und Experiment nicht unbedingt als Problem an, sondern eher als Gelegenheit, Hinweise auf neue Physik zu erhalten.

Eine solche Abweichung zeigt sich vermeintlich im Verhalten des Myons, des »schweren Bruders« des Elektrons. Es ist ebenfalls ein Elementarteilchen, besitzt wie das Elektron eine elektrische Ladung, kann an radioaktiven Zerfallsprozessen beteiligt sein, seine Masse aber ist etwa 200-mal größer. 2021 wiesen Myon-Messungen am Teilchenbeschleuniger des Fermilab in Illinois Unstimmigkeiten zu theoretischen Vorhersagen auf. Der Magnetsinn der Myonen fiel in den Experimenten größer aus, als es die Modelle vorhersagen. Physikerinnen und Physiker auf der ganzen Welt waren fasziniert; vielleicht hatten sie nun endlich handfeste Hinweise auf bisher unbekannte physikalische Prozesse gefunden.

In den folgenden Jahren wurden die Ergebnisse immer weiter verfeinert – sowohl auf experimenteller als auch auf theoretischer Seite. Doch nun scheint ein computergestütztes Ergebnis, das eine Forschungsgruppe unter der Leitung des Physikers Zoltan Fodor von der Pennsylvania State University auf dem Preprint-Server ArXiv veröffentlicht hat, bis zur zwölften Nachkommastelle mit den Laborwerten zusammenzupassen. Wie die Forschenden beschreiben, kann offenbar die geheimnisvollste aller Grundkräfte, die starke Kernkraft, das Rätsel um den Magnetsinn des Myons lösen.

Das erscheint auf den ersten Blick überraschend, da die starke Kernkraft auf Atomkerne wirkt. Sie bindet Quarks und Gluonen aneinander und hält so Neutronen und Protonen zusammen. Elementarteilchen wie Elektronen und Myonen sind davon nicht betroffen. Doch ein seltsamer Quanteneffekt, der als Vakuumpolarisation bekannt ist, könnte dafür sorgen, dass die starke Kernkraft auch die Eigenschaften von Myonen beeinträchtigt. Genau das haben die Forschenden um Fodor untersucht.

Ein Feuerwerk voller Teilchen und Antiteilchen

Laut Quantenphysik gibt es keinen leeren Raum. Immerzu entstehen Teilchen-Antiteilchen-Paare aus dem Nichts und vernichten sich sogleich wieder. Das führt dazu, dass selbst das Vakuum von Partikeln bevölkert ist, was als Vakuumpolarisation bekannt ist. Diese ständig auftauchenden, kurzlebigen Teilchen lassen sich nicht direkt nachweisen – aber ihre Auswirkungen sind durchaus spürbar: unter anderem in den magnetischen Eigenschaften des Elektrons und des Myons.

Bis auf das Higgs-Boson besitzen alle Elementarteilchen einen Spin. Das ist eine quantenmechanische Eigenschaft, die man sich wie eine Art intrinsischen Magneten vorstellen kann, der entweder mit dem Nordpol nach oben oder unten zeigt. Damit haben die Teilchen auch ein magnetisches Moment, das in der Teilchenphysik als g-Faktor bezeichnet wird. Lässt man Effekte wie die Vakuumpolarisation außer Acht, dann entspricht der g-Faktor des Myons und des Elektrons einem Wert von 2.

Da jedoch in der unmittelbaren Umgebung von Elektronen und Myonen immerzu elektrisch geladene Teilchen-Antiteilchen-Paare mit Spin auftauchen, beeinflussen sie deren magnetische Momente. Im Fall des Elektrons lässt sich die dadurch entstehende Abweichung mit einer erstaunlichen Präzision bis zur 13-ten Nachkommastelle angeben – tatsächlich handelt es sich dabei um eine der exaktesten Übereinstimmungen zwischen Theorie und Experiment überhaupt.

Während sich Elektronen also sehr gut untersuchen lassen, ist es bei Myonen schwieriger. Da die Teilchen erheblich schwerer sind, zerfallen sie schon nach zwei millionstel Sekunden in andere Partikel. Man muss Myonen daher an Teilchenbeschleunigern erzeugen, in Vakuumröhren einfangen und hat dann bloß wenige Nanosekunden zur Verfügung, um sie zu vermessen. Diese experimentelle Herausforderung ist der Grund, warum es so lange gedauert hat, bis der g-Faktor des Myons präzise im Labor bestimmt werden konnte. Und das, obwohl die Fachleute sehr neugierig waren: Denn durch die große Masse reagiert das Teilchen viel empfindlicher auf Beiträge neuer Physik.

Und die Messungen schienen die Hoffnungen zu bestätigen: Die experimentellen Ergebnisse wichen bereits auf der achten Nachkommastelle von den theoretischen Resultaten ab. Auch wenn das vernachlässigbar klein klingt, stellte es für die Teilchenphysik ein großes Problem dar. Gab es vielleicht neuartige, noch unbekannte physikalische Prozesse, die den g-Faktor des Myons beeinflussen?

Die Rolle der starken Kernkraft

Vermutlich nicht, sagen nun Fodor und sein Team. Die Forschenden haben mit aufwändigen computergestützten Methoden untersucht, wie die starke Kernkraft auf den Magnetsinn des Myons wirkt. Denn in den bisherigen Berechnungen zur Vakuumpolarisation wurden nur Korrekturen der elektromagnetischen Kraft und der schwachen Kernkraft berücksichtigt (also durch kurzlebige Elektron-Positron-Paare oder Myon-Antimyon-Paare zum Beispiel). Für den g-Faktor des Elektrons scheint das auch gut zu funktionieren. Beim schweren Myon könnten aber auch komplexere Prozesse eine Rolle spielen, etwa die Entstehung von Quark-Antiquark-Paaren, die der starken Kernkraft unterliegen. Da Quarks ebenfalls über Spin und elektrische Ladung verfügen, könnten diese in der Nähe des Myons dessen magnetisches Moment beeinflussen.

Allerdings sind Prozesse, die mit der starken Kernkraft zusammenhängen, sehr schwer zu untersuchen. Die Kraft macht ihrem Namen alle Ehre: Sie ist etwa 100 Billionen Billionen Billionen Mal stärker als die Schwerkraft und zirka 100-mal stärker als die elektromagnetische Kraft, hat jedoch nur eine sehr kurze Reichweite – der Grund dafür, weshalb wir sie im Alltag nicht spüren.Aus dem Grund scheitern herkömmliche Berechnungsmethoden in diesem Bereich meistens. Eine Lösung, mit der enormen Stärke der stärksten aller Grundkräfte umzugehen, bietet die so genannte Gitter-QCD (QCD steht für »Quantenchromodynamik«, die Quantenfeldtheorie der starken Kernkraft). Bei dem Ansatz unterteilt man Raum und Zeit in endlich viele Gitterpunkte und simuliert die Wirkung von Quarks und Gluonen auf diesem Gitter.

»Die Übereinstimmung zwischen Experiment und Theorie mit einer derartigen Präzision ist ein bemerkenswerter Erfolg für das Standardmodell der Teilchenphysik«Zoltan Fodor et al., Physiker

Gitterbasierte Methoden haben viele Vorteile. Zum Beispiel ist es so möglich, die Gleichungen der starken Kernkraft direkt zu testen – ohne diese wie bei anderen theoretischen Ansätzen vereinfachen zu müssen. Und durch die Aufteilung der Raumzeit in endlich viele Punkte tauchen im Gegensatz zu anderen Modellen keine problematischen Unendlichkeiten auf, die aufwändig entfernt werden müssen. Allerdings führt das Raumzeit-Gitter auch zu Problemen. Da unsere Raumzeit kontinuierlich ist, können sich durch begrenzte Gitter-QCD-Berechnungen Abweichungen von der Realität ergeben, die nicht immer kalkulierbar sind.

Einen solchen gitterbasierten Ansatz hatte die Forschungsgruppe um Fodor (aber auch andere Teams) bereits 2022 präsentiert, damals waren diese jedoch noch mit großen Ungenauigkeiten behaftet. Nun ist es der Arbeitsgruppe von der Pennsylvania State University gelungen, weitere Rechenressourcen einzutreiben und damit deutlich feinere Raumzeit-Gitter zu simulieren. »Wir stellen eine neue Berechnung vor, welche die Unsicherheiten im Vergleich zu unseren früheren Arbeiten um 40 Prozent reduziert«, schreiben die Forschenden.

Der Physiker Gernot Münster von der Universität Münster, der ebenfalls an Gitter-QCD forscht, aber nicht an der aktuellen Studie beteiligt war, urteilt anerkennend: »Alle Aspekte des äußerst aufwändigen Projektes wurden in höchst sorgfältiger Weise bearbeitet.« Der Einfluss der starken Kernkraft, den das Team um Fodor modellierte, passe nun sehr gut mit den experimentellen Beobachtungen zusammen. Das magnetische Moment des Myons fiel in den neuen Berechnungen größer aus als in bisherigen theoretischen Ansätzen, wodurch es bis zur zwölften Nachkommastelle mit den Messergebnissen übereinstimmt. »Es gibt also hieraus keine Hinweise auf neue Physik jenseits des Standardmodells«, sagt Münster. Das Team um Fodor fasst das positiv auf: »Die Übereinstimmung zwischen Experiment und Theorie mit einer derartigen Präzision ist ein bemerkenswerter Erfolg für das Standardmodell der Teilchenphysik«, schließen sie in ihrer Veröffentlichung.

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