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Sportwetten, Onlinepoker, Lotterien: »Glücksspielsüchtige führen ein Doppelleben«

Etwa 1,4 Millionen Menschen in Deutschland sind glücksspielsüchtig. Die Folgen für Familien und die öffentliche Gesundheit sind erheblich, warnt der Bremer Psychologe Tobias Hayer im Interview. Er fordert, dass der Staat endlich eingreift.
Das Foto zeigt ein erleuchtetes Wettbüro in einer nächtlichen Straße. Durch die offene oder gläserne Tür sieht man Monitore mit einer Sportübertragung.
Schwelle ins Unglück? Wer den Weg ins Wettbüro nimmt, hofft auf Nervenkitzel und Gewinn. Für etliche ist es aber auch der Einstieg in eine folgenschwere Sucht.

Herr Hayer, Sie kommen aus Bremen, sind Sie auch Fußballfan?

Ich bin als gebürtiger Bremer natürlich Werder-Anhänger. Aber wenn ich Fußball sehe, nehme ich mittlerweile mehr Werbung für Sportwetten wahr als Fußball.

Was denken Sie dann?

Ich denke an die Kommerzialisierung des Fußballs im Allgemeinen, aber natürlich auch an mein eigenes Forschungsthema: Glücksspielsucht. Wir beschreiten hier gerade einen Irrweg. Es wird so massiv, so omnipräsent, so breit Werbung für Glücksspiel betrieben. Das halte ich gesundheitswissenschaftlich und gesundheitspolitisch für eine massive Fehlentwicklung.

Tobias Hayer | Der promovierte Psychologe forscht an der Universität Bremen zu den Folgen des Glücksspiels.

Viele Fußballstars haben da keine Hemmungen. Sie werben ungeniert für Sportwetten.

In der Champions League werden wir ständig mit Werbung bombardiert, auch bei der Europameisterschaft 2024 war das der Fall. Wenn Idole wie Oliver Kahn, Rudi Völler, Jürgen Klopp oder Lukas Podolski für Sportwetten werben, hat das Produkt einen guten Leumund. Dann kann da ja gar nichts Riskantes, Gefährliches oder potenziell Schädliches dran sein. Sportwetten sind in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Aber: Die mit der expansiven Marktentwicklung verbundenen Schäden wie Spielsucht, Geldwäsche oder Spielmanipulation sind eben auch in der Mitte der Gesellschaft angekommen.

Aber Herr Hayer, wer ein bisschen zockt, ist doch nicht gleich süchtig.

Überhaupt nicht. Während wir beim Alkohol mittlerweile annehmen, dass jede Form des Konsums gesundheitliche Schäden nach sich ziehen kann, ist das beim Glücksspiel ein Stück weit anders. Die Mehrheit aller Bundesbürger spielt verantwortungsvoll, also kontrolliert, in Maßen, überschaubar und ohne Negativfolgen. Doch es gibt mittlerweile eine signifikante Minderheit, die buchstäblich Haus und Hof verzockt. Das reicht bis zur Privatinsolvenz, Beschaffungskriminalität und Suizidalität.

Hilfe für Betroffene

Wenn Sie selbst oder Angehörige von Spielsucht betroffen sind, können Sie sich an eine Beratungsstelle wenden. Geeignete Anlaufstellen in Ihrer Region finden Sie zum Beispiel beim Suchthilfeverzeichnis der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen e. V.

Unter 0800 1372700 erreichen Sie die kostenfreie Telefonberatung zur Glücksspielsucht der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung.

Im Fachmagazin »The Lancet« hat eine Expertengruppe sehr eindringlich vor den negativen Folgen von Glücksspiel für die gesamte Gesellschaft gewarnt. Weltweit seien 80 Millionen Menschen spielsüchtig, hieß es. Wie viele Menschen sind in Deutschland betroffen?

Die aktuelle Bevölkerungsumfrage dazu, der Glücksspielsurvey, spricht von etwa 1,4 Millionen Menschen in Deutschland, die an einer Glücksspielstörung leiden, das ist der offizielle Begriff für Glücksspielsucht. Bei diesen Menschen sind mindestens vier der neun Kriterien, die wir zur Bestimmung der Störung heranziehen, erfüllt. Weitere 3,5 Millionen Deutsche weisen zudem ein riskantes Glücksspielverhalten auf. Das sind Menschen, die erste Symptome einer Sucht zeigen. Bei ihnen sind weniger als vier Kriterien erfüllt, mindestens aber eins.

Welche Kriterien sind das?

Das sind Merkmale, die wir von den klassischen Suchterkrankungen kennen. Das Suchtmittel, hier das Glücksspiel, wird zum zentralen Lebensinhalt. Oder man spielt weiter, obwohl sich bereits Folgeschäden eingestellt haben. Dann gibt es natürlich Kontrollverlust, Dosissteigerung, Abstinenzunfähigkeit und zwei glücksspieltypische Symptome: Zum einen das Chasing-Verhalten, also dass man Verlusten hinterherjagt – wer verliert, zockt in der Hoffnung auf den großen Geldgewinn weiter. Und zum anderen das Bail-out – die Betroffenen verlassen sich darauf, dass andere Personen ihnen aus der finanziellen Misere helfen.

1,4 Millionen Glücksspielsüchtige. Das sind viel mehr Menschen als noch vor drei Jahren.

Vorsicht! Die Bevölkerungsumfrage wird seit 2007 durchgeführt, früher von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, seit 2021 aber von Kollegen aus Hamburg und hier in Bremen. Dieser Glücksspielsurvey, wie er heute heißt, hat zwar ein deutlich größeres Problemausmaß festgestellt, lässt sich jedoch nicht einfach vergleichen mit den Vorgängerstudien der Bundeszentrale, weil sich die Methodik geändert hat. Das heißt, wir können da keinen Trend herauslesen.

Wurde das Problem also bewusst großgerechnet?

So lautet der Vorwurf der Glücksspielanbieter. Die Zahlen würden überschätzt, heißt es. Aber die Befunde sind aus meiner Sicht wissenschaftlich valide. Ich bin auf Grund von Querverweisen aus der Fachliteratur und anderen Evidenzsträngen überzeugt, dass die Zahlen der Wahrheit recht nahekommen. Außerdem verkennt das ausschließliche Schielen auf glücksspielsüchtige Personen das gesamte Problemausmaß. Denn die Schäden, die mit Glücksspiel verbunden sind, treffen nicht nur die glücksspielsüchtigen Personen, sondern auch und vor allem ihr soziales Nahumfeld, die Familien beispielsweise. Die leiden ebenfalls sehr unter dieser Erkrankung.

Und sind überfordert. Häufig heißt es: Reiß dich doch zusammen!

Bei den klassischen Suchterkrankungen sind wir schon so weit, dass die Mehrheit der Bevölkerung das nicht als moralische Unzulänglichkeit wertet. Aber wenn jemand zu viel zockt, dann wird noch oftmals so getan, als ob diese Person charakterlich schwach oder persönlichkeitsgestört sei. An diesen Reaktionen sieht man, dass wir als Gesellschaft besser darin werden müssen, die Glücksspielsucht als Suchterkrankung zu verstehen. Das ist wichtig, denn sie ist mit sehr viel Leid verbunden.

»Man sieht einer glücksspielsüchtigen Person die Sucht nicht an. Keine Einstiche wie bei einem Junkie, keine Pupillenerweiterung wie bei Cannabis, keine Alkoholfahne«

Was macht die Spielsucht so schädlich?

Bei der Glücksspielsucht gibt es drei Besonderheiten. Erstens: Sie ist die teuerste Suchterkrankung; viele Betroffene sind massiv verschuldet. Zweitens: Man sieht einer glücksspielsüchtigen Person die Sucht von außen nicht an, es gibt keine offensichtlichen Warnhinweise. Keine Einstiche wie bei einem Junkie, keine Pupillenerweiterung wie bei Cannabis, keine Alkoholfahne. Das macht es Betroffenen noch einfacher, ihre eigene Erkrankung vor der Familie geheim zu halten. Sie bauen ein Lügengerüst auf, führen ein Doppelleben. Das führt uns zu drittens: Betroffene fallen oft extrem tief, bevor sie sich offenbaren. Sie sind in der Regel gute – und das meine ich nicht despektierlich – Schauspieler. Sie schämen sich für ihr Verhalten, leiden an Schuldgefühlen. Und bevor sie den Schritt wählen, die Wahrheit zu sagen, greifen sie nicht selten zum Mittel des Suizids. Wir sehen bei Glücksspielsüchtigen zumeist ein noch höheres Ausmaß an Suizidgedanken, Suizidversuchen und vollendeten Suiziden als bei anderen psychischen Störungen.

Wie leiden die Angehörigen unter der Glücksspielsucht? Und was können sie tun, damit es nicht zum Äußersten kommt?

Zunächst ist das Vertrauen und damit die Basis einer funktionieren Beziehung weg: Wenn jemand seine Suchterkrankung und einen Teil seines Lebens geheim hält, Haus und Hof verzockt, dann macht das was mit Familien und Lebenspartnern. Wie kann man uns so ruinieren, denken viele Angehörige. Sie brauchen dann selbst Entlastung, Aufklärung und Unterstützung. Doch zunächst sollten sie nicht mit Schuldvorwürfen oder leeren Drohungen um sich schmeißen, sondern verstehen, dass da jemand krank ist.

Das ist viel verlangt.

Absolut. Sie sind ja selbst vom Verlust der Existenzgrundlage bedroht. Das Geld fehlt an allen Ecken und Enden.

»Mitglieder von Sportvereinen verzocken sich häufiger als die Allgemeinbevölkerung. Viele Sportler gehen davon aus, dass sie den Ausgang von Spielen besser vorhersagen können«

Wer ist von Spielsucht besonders gefährdet?

Männer, eher jung, Migrationshintergrund – diese Trias zeigt sich in allen Studien. Zudem sind die Betroffenen häufig bildungsfern und kommen aus Haushalten, in denen wenig Geld zur Verfügung steht. Außerdem zeigen Studien, dass Kinder, die mit einem glücksspielsüchtigen Elternteil aufwachsen, ein mehrfach erhöhtes Risiko haben, später exzessiv zu zocken. Und wir wissen, dass sich Mitglieder von Sportvereinen häufiger verzocken als die Allgemeinbevölkerung. Viele Sportler gehen davon aus, dass sie den Ausgang von Spielen besser vorhersagen können. Sie bewegen sich in einem Umfeld, in dem Sportwetten mittlerweile einfach dazugehören.

Und die Wettanbieter wissen, wie sie ihre Klientel locken.

Es gibt mannigfaltige Strategien der Kundengewinnung und Kundenbindung. Zwei Beispiele: Zum einen sind Spielhallen und Wettvermittlungsstellen überzufällig häufig in den sozialen Brennpunkten angesiedelt. Zum anderen ist die Werbung für Sportwetten auf bestimmte Zielgruppen abgestimmt. Ich sehe sehr häufig sportbegeisterte junge Männer mit Migrationshintergrund in den Werbespots: Sie jubeln, manchmal mit Geldscheinen, sind auf der Gewinnerstraße. Dieser Gender-Gap schließt sich übrigens allmählich, zumindest einige Glücksspielanbieter schneiden ihre Produkte auch auf Frauen zu. Über neue Spielanreize, niedrigschwellige Angebote und hier vor allem Onlineangebote mit Zugriff ohne größere Hemmschwellen.

Niemand muss mehr in eine Spielhalle, um spielsüchtig zu werden. Ist Online der wachsende Markt?

Im »Lancet«-Beitrag ist von einer »digitalen Revolution« die Rede. Wir sind ständig online und kommen permanent mit Glücksspielangeboten in Berührung. Die Anbieter machen immer mehr Geld mit dem Onlinegeschäft. Daneben verschmelzen Gaming und Gambling immer mehr, es gibt zahlreiche Computerspiele mit Glücksspielelementen, die Menschen werden unkritisch an die Prinzipien des Glücksspiels herangeführt. Das sind besondere und neue Gefahren sowohl für die vulnerablen Personengruppen als auch für die gesamte Gesellschaft.

Wo bleibt die Fürsorgepflicht des Staates?

Das frage ich mich auch. In Deutschland und auch weltweit wird versucht, die Verantwortung für eine Suchterkrankung in erster Linie auf das Individuum zurückzuschieben. Jeder ist seines Glückes Schmied, jeder soll selbst entscheiden, ob er zockt. Das ist im Kern nicht falsch, aber: Leitsymptom einer Sucht ist der Kontrollverlust. Nicht ich kontrolliere mein Glücksspielverhalten, sondern das Glücksspiel kontrolliert mich. Und hier ist der Staat in der Verantwortung, Schranken einzuziehen und Gefahren abzumildern, die mit Glücksspiel einhergehen. Das Interesse des Gemeinwohls muss über den steuerlichen Interessen des Staates und den Geschäftsinteressen der Anbieter stehen. Aber da gibt es in Deutschland enorme Defizite.

»Der deutsche Staat nimmt mit Glücksspiel sehr viel Geld ein, 2022 waren es 6,2 Milliarden Euro. Das ist doppelt so viel Geld wie die Erträge aus alkoholbezogenen Steuern«

Inwiefern?

Der deutsche Staat nimmt mit Glücksspiel sehr viel Geld ein, 2022 waren es 6,2 Milliarden Euro. Das ist doppelt so viel Geld wie die Erträge aus alkoholbezogenen Steuern. Sie sehen: Glücksspielangebote sind für den Staat als Einnahmequelle wichtig und scheinbar in der derzeitigen Haushaltslage unverzichtbar.

Was müsste der Staat machen, wenn er das Problem ernsthaft in den Griff bekommen wollte?

Wir brauchen verstärkt Aufklärung und Sensibilisierung. Daneben sind im Vergleich zu den Einnahmen des Staates die unabhängige Forschung, die Prävention und das Hilfesystem ungenügend finanziell ausgestattet. Was es zudem braucht, sind Präventionsmaßnahmen, die sich schon bei anderen Suchterkrankungen bewährt haben: Verfügbarkeitsbeschränkung und Werberestriktionen. Ich verstehe nicht, warum wir die Erkenntnisse dieser suchtpolitisch sinnvollen Maßnahmen – ähnlich wie bei Nikotin und Alkohol – nicht auch für Glücksspiele umsetzen. Es ist höchste Zeit, dass der Staat endlich effektiv gegen die Glücksspielsucht vorgeht.

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