Chemische Bindung: Good Vibrations: Eine chemische Bindung neuen Typs
Seit Doktor Faustus hat die Wissenschaft gewisse Fortschritte gemacht – was aber die Welt im Innersten zusammenhält, ist bis heute nicht vollständig geklärt. Selbst bei den seit Jahrzehnten gut untersuchten chemischen Bindungen sind noch Überraschungen möglich, wie ein internationales Forscherteam um Donald Fleming von der University of British Columbia mit dem Nachweis eines neuen Bindungstyps zeigt. Die neu entdeckte Schwingungsbindung kehrt das Prinzip bisheriger Bindungstypen komplett um.
Quantenmechanische Stabilisierung
Eine chemische Bindung kann eigentlich alles Mögliche sein. Grundbedingung ist lediglich, dass die Gesamtenergie des Systems im gebundenen Zustand absinkt und diesen dadurch stabilisiert. Dieser Energiegewinn kommt bei bisherigen Bindungen aus einer von zwei Quellen: entweder aus der Energiedifferenz zwischen gebundenen und ungebundenen Elektronenzuständen oder aus der potenziellen Energie geladener Teilchen in elektrischen Feldern. Doch es geht auch anders.
Fleming und seine Kollegen zeigen das jetzt an einem sehr kurzlebigen, sehr exotischen Molekül: Sie ließen ein Brommolekül mit einem Myoniumatom reagieren. Das besteht aus einem Antimyon als Kern und einem Elektron, verhält sich also wie eine extrem leichte Variante des Wasserstoffatoms. Das Überraschende geschieht, wenn das Myonium in der Mitte zwischen den Bromatomen liegt – dann nämlich bildet es eine Bindung mit den beiden anderen Atomen. Und das sollte es im Grunde nicht: Eigentlich müsste es sogar von dort vertrieben werden, denn die potenzielle Energie wird genau dort maximal.
Kompensiert wird dieser Energiehügel jedoch durch einen anderen Beitrag, der sonst keine Rolle spielt: der Nullpunktenergie. Das ist die Energie jener Schwingungen, die ein quantenmechanisches System auch dann ausführt, wenn es am absoluten Temperaturnullpunkt ist und eigentlich nicht mehr schwingen sollte. Diese Nullpunktenergie sinkt im linearen Radikal Br-Myonium-Br stark genug ab, um den Anstieg der potenziellen Energie zu kompensieren. Daher bezeichnen die Entdecker die neue Bindung als Schwingungsbindung.
Exotisch oder einflussreich?
Die eigentlichen Experimente fanden bereits 2011 statt – dabei wiesen Fleming und sein Team das gebundene Myonium spektroskopisch nach. Doch es dauerte noch drei Jahre, um anhand moderner Computermodelle tatsächlich zu zeigen, dass es sich um eine Schwingungsbindung handelt. Der Trick funktioniert nur deswegen, weil das Myonium sehr leicht und Brom sehr schwer ist – je größer die Differenz, desto stärker der Effekt der Nullpunktenergie. Die schwereren Analoga des Moleküls, die statt dem Myonium Wasserstoff oder Deuterium enthalten, zeigen den Effekt nicht – bei ihnen ist die Nullpunktenergie schon zu klein, um den Hügel potenzieller Energie zwischen den schweren Atomen einzuebnen.
Solche Bindungen sind extrem kurzlebig – stabile Moleküle auf der Basis der Nullpunktenergie wird es nicht geben. Allerdings könnten auf diese Art stabilisierte Zustände die Existenz von Übergangszuständen in chemischen Reaktionen beeinflussen und damit Ablauf und Ergebnisse dieser Reaktion bestimmen, insbesondere wenn sehr schwere und sehr leichte Atome beteiligt sind. Ob diese Schwingungsbindungen tatsächlich so exotisch sind, wie es derzeit den Anschein hat, ist also noch nicht sicher.
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