Ökologie: Graslandschaften, die unterschätzten Alleskönner
Von den Prärien Nordamerikas über die Steppen Zentralasiens bis zu afrikanischen Savannen und europäischen Weiden: Grasland bestimmt in vielen Regionen der Erde das Landschaftsbild. Es hat, je nach Klima, viele Gesichter und ebenso viele Namen. Auf 52 Millionen Quadratkilometern erstrecken sich auf allen Kontinenten außer der Antarktis Lebensräume, die als Grasland bezeichnet werden. Damit bedecken sie 40 Prozent der Landmasse und beherbergen einen großen Teil der Artenvielfalt dieses Planeten. Manche Tierarten durchqueren sogar ganze Kontinente, um zu jeder Jahreszeit von sattem Grün zu profitieren: Weißstörche jagen im Sommer auf europäischen Wiesen und im Winter in den afrikanischen Savannen.
Trotz seiner Omnipräsenz auf fast allen Erdteilen spielt Grasland in der Naturschutzdebatte im Vergleich mit anderen Lebensraumtypen eine eher untergeordnete Rolle. Während der Schutz der Wälder – die mit rund 30 Prozent sogar eine kleinere Fläche der Erde bedecken – seit einigen Jahren große Priorität im Kampf gegen den Klimawandel hat, erfährt die ökologische Bedeutung von grasbewachsenem Offenland für Natur, Mensch und Klima bisher selten eine prominente Würdigung.
Das wollen Expertinnen und Experten für Grasland-Ökosysteme und die Herausgeber des renommierten Wissenschaftsjournals »Science« ändern. In vier großen Übersichtsartikeln fassen sie unter dem Titel »Der verkannte Wert der Gräser« in einer Sonderausgabe des Magazins den aktuellen Forschungsstand zu diesen vielfältigen Ökosystemen zusammen, die überall auf der Erde – in Form von Seegraswiesen sogar in den Ozeanen – eine überlebenswichtige Rolle für viele Lebensformen spielen. »Grasland schafft und stabilisiert fruchtbaren Boden, speichert Kohlenstoff, erzeugt Sauerstoff und bietet Lebensraum für Tiere, Baumaterial und Nahrung«, schreiben »Science«-Herausgeberin Bianca Lopez und ihre Kolleginnen im Editorial.
Tatsächlich sind Graslandschaften ganz ähnlich wie Wälder wahre Alleskönner. Sie sind Hotspots der Artenvielfalt, existenzielle Lieferanten von Lebensmitteln, prägende Orte für viele Kulturen und – nicht zuletzt – bedeutende Verbündete im Kampf gegen den Klimawandel. »Grasland speichert etwa ein Drittel der globalen terrestrischen Kohlenstoffvorräte und kann als wichtige Kohlenstoffsenke im Boden dienen«, schreiben Yongfei Bai und Francesca Cotrufo in einem Beitrag zur Rolle dieses Lebensraums für den Klimaschutz.
Die enorme Speicherkapazität illustriert, wie wichtig es ist, Grünlandwirtschaft als Bodennutzungsform zu erhalten, um Kohlenstoff dauerhaft zu binden. Denn immer noch werden Wiesen und Weiden im großen Maßstab in Acker umgewandelt oder zugebaut. Den beiden Forschern von der Chinesischen Akademie der Wissenschaften und der Colorado State University zufolge könnte die »Ökosystemleistung«, die solche Flächen erbringen, weil sie organischen Kohlenstoff speichern, durch Renaturierung sogar deutlich ausgebaut werden. Auch die europäischen Staaten könnten dieses Potenzial für zusätzlichen natürlichen Klimaschutz noch deutlich stärker nutzen und erschließen, schreiben sie.
In der Bewahrung des Graslands sehen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler eine Win-win-Situation für Klima- und Naturschutz: Um die natürlichen Klimaschutzfähigkeiten besser nutzen zu können, müsse die Artenvielfalt in den Graslandschaften gestärkt werden. »Neuere Studien zeigen, dass die Pflanzenvielfalt die Speicherung von organischem Kohlenstoff im Boden erhöht, indem sie den Kohlenstoffeintrag in die unterirdische Biomasse steigert«, erläutern sie. Einfache, praktische Maßnahmen wie etwa die Viehdichte auf Weiden zu verringern, könnten die Artenvielfalt erhöhen und damit »preiswerte und kohlenstoffreiche Optionen für natürliche Lösungen zur Bekämpfung des Klimawandels im globalen Grünland bieten«, so die Forscher.
Von der Wiege der Menschheit zur ökologischen Krisenregion
Von einer Aufwertung dieses »ökologischen Kapitals« sind die globalen Graslandschaften indes trotz ihrer überragenden Bedeutung auch für den Menschen weit entfernt, machen die US-Wissenschaftlerinnen Caroline Strömberg und Carla Staver in ihrer Arbeit zu der Entstehungsgeschichte und den gegenwärtigen Problemen von Grasland-Lebensräumen deutlich. Die Biologinnen erinnern daran, dass auch unsere Geschichte eng mit grasbewachsenen Lebensräumen verbunden ist. Denn es waren die Savannen, in denen sich vor zwei Millionen Jahren der moderne Mensch entwickeln konnte. Und erst die Domestizierung einiger der mehr als 10 000 Arten von Gräsern wie Weizen und Gerste ermöglichte vor etwa 10 000 Jahren überhaupt das Entstehen landwirtschaftlicher Gesellschaften und damit die moderne Zivilisation. Heute sind es ein halbes Dutzend kultivierter Grasarten, die neben Mais und Reis als die wichtigsten Grundnahrungsmittel auf der Erde das Überleben der Menschheit sichern. Auch die Viehzucht sei ohne Grasland nicht denkbar, heben Strömberg und Staver die Bedeutung dieses Lebensraumtyps hervor.
Besonders gefährdet und wenig geschützt
Die Autorinnen werfen auch einen Blick darauf, welchen Gefährdungen die unterschiedlichen Graslandschaften weltweit ausgesetzt sind. Wie Strömberg und Staver feststellen, sind diese Ökosysteme wegen einer veränderten Landnutzung besonders stark von Übernutzung, Klimawandel und direkter Zerstörung betroffen. Gleichzeitig zählten sie fast überall zu den am wenigsten geschützten Lebensräumen.
In der Folge sind bereits 90 Prozent der ursprünglichen Graslandschaften in gemäßigten Klimaregionen in landwirtschaftlich genutzte Flächen oder menschliche Siedlungsgebiete umgewandelt worden. Nur ein Prozent der verbliebenen Flächen ist den Autorinnen zufolge derzeit vor Bebauung geschützt. »Während die Regenwälder im Amazonasgebiet die Aufmerksamkeit der Medien auf sich gezogen haben, ist die anhaltende Bedrohung der Savannen, insbesondere in Afrika, Südamerika und Asien, durch Aufforstung, Brandrodung und Landumwandlung unbemerkt geblieben«, beklagen sie. Dabei seien die Auswirkungen einer weiteren Zerstörung auf die biologische Vielfalt von Savannen, Prärien, Wiesen- und Weidelandschaften verheerend. Strömberg und Staver erwarten, dass in den nächsten Jahrzehnten 40 Prozent aller an Graslandschaften angepassten Wirbeltierarten verloren gehen. »Damit steht das Schicksal der evolutionär alten Graslandbiome auf dem Spiel, mit fatalen Folgen für ihre unterschiedlichen Lebensgemeinschaften«, lautet die wenig optimistische Bilanz.
»Gräser könnten Lösungen für viele unserer aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen bieten, wenn wir ihre Vielfalt und ihren Wert nur voll anerkennen würden«Bianca Lopez, Pamela J. Hines und Caroline Ash, »Science«-Redakteurinnen
Wie wichtig der Erhalt der wenigen noch bestehenden intakten Regionen ist, beleuchten Elise Buisson und Kollegen in einem Beitrag zu den Chancen, zerstörte Grasland-Habitate zu renaturieren. Jüngste Forschungsergebnisse deuteten nämlich darauf hin, dass sich Grasland nur langsam und manchmal gar nicht von Störungen erhole, schreiben sie. Gleichzeitig gebe es große Wissenslücken in der Forschung zu diesem Bereich. »Zu Beginn des gerade von den Vereinten Nationen ausgerufenen Jahrzehnts der Wiederherstellung von Ökosystemen sind Fortschritte in der Wissenschaft und Praxis der Grünlanderneuerung von entscheidender Bedeutung, wenn wir den Rückgang der biologischen Vielfalt bekämpfen wollen«, bilanzieren die Wissenschaftler.
Deutschland ist kein Musterschüler beim Grünlandschutz
Auch in Europa und in Deutschland sind Graslebensräume stark unter Druck. Im von der EU-Kommission im Sechs-Jahres-Turnus herausgegebenen Bericht zum Zustand der Natur in Europa schneidet Grünland mit am schlechtesten ab. Im nationalen deutschen Bericht ist die Situation sogar noch verheerender: Nur den schmelzenden Gletschern geht es als Lebensraum hier zu Lande noch schlechter. Weil Deutschland sich zu wenig um diesen nach der europäischen Fauna-Flora-Habitat-Naturschutzrichtlinie (FFH) besonders geschützten Lebensraum kümmert, hat die EU-Kommission vor dem Europäischen Gerichtshof Klage gegen die Bundesrepublik eingereicht. Nach EU-Recht darf sich der Zustand der geschützten Arten und Lebensräume in diesen Gebieten nicht verschlechtern. In den deutschen FFH-Gebieten sind nach Berechnungen der EU-Kommission in den letzten Jahren jedoch rund 18 000 Hektar Wiesen zerstört worden. Schuld daran seien die Umwandlung von Grünland in Acker, die Überdüngung und ein zu hoher Pestizideinsatz.
Mehr wissenschaftliche Forschung und eine höhere Wertschätzung für einen Lebensraum, der uns alle unmittelbar umgibt und betrifft, darin sehen die Autoren und Autorinnen der »Science«-Sonderausgabe den Schlüssel zur Bewahrung von Steppen, Wiesen und Savannen – und damit eines zentralen Teils der biologischen Vielfalt der Erde. »Gräser könnten Lösungen für viele unserer aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen bieten, wenn wir ihre Vielfalt und ihren Wert nur voll anerkennen würden«, lautet das Fazit der »Science«-Redakteurinnen.
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