Klimawandel: Meeresspiegel wird stärker steigen als bislang gedacht
Selbst wenn die ganze Welt sofort aufhörte, fossile Brennstoffe zu nutzen, würde der grönländische Eisschild in den kommenden Jahrzehnten immer noch etwa 110 Billionen Tonnen Eis verlieren. Zu dieser Erkenntnis kommt ein internationales Team aus Glaziologen in einer Studie, die sie jetzt im Fachmagazin »Nature Climate Change« veröffentlicht haben. Ein durchschnittlicher globaler Meeresspiegelanstieg von mindestens 27 Zentimetern sei damit unausweichlich, rechnen die Autoren vor.
Seit den 1980er Jahren verliert Grönland auf Grund von Oberflächenschmelze und Eisabfluss mehr Eis, als es durch die Ansammlung von Niederschlägen gewinnt. Das führt zu einem Ungleichgewicht und einem langsamen Abtauen des Eisschildes. Mit Hilfe von ausgefeilten Klimamodellen und Simulationen des Schmelzprozesses versuchen Forscherinnen und Forscher bereits seit Längerem vorherzusagen, wie sich der Grönlandschelf künftig entwickelt und welche Auswirkungen dies im Zeitverlauf hat. So gilt der schrumpfende Eisschild als ein entscheidender Klimakipppunkt, da die weiße, schneebedeckte Oberfläche derzeit noch Sonnenlicht reflektiert. Je kleiner die Fläche jedoch wird, desto mehr Licht wird von dunkleren Flächen absorbiert – das heizt den Planeten weiter auf.
Veränderungen an der Schneegrenze des Eisschildes untersucht
Bisherige Modelle gelten jedoch als fehlerbehaftet, da die Wechselwirkungen zwischen Land, Atmosphäre und Ozean darin nur ungenau berücksichtigt sind. Der Hauptautor der neuen Studie, Jason Box vom Nationalen Geologischen Dienst in Dänemark und Grönland (GEUS), und seine Kollegen verfolgten deshalb in Ergänzung einen anderen Ansatz. Sie ermittelten mit Messungen vor Ort und über Satellitenbilder die Eismenge, die durch die Erderwärmung in den vergangenen Jahren instabil geworden ist. Sie griffen zudem auf Klimadaten aus den Jahren 2000 bis 2019 zurück. So zeigen sie, dass der Schmelzwasserabfluss die Hauptursache für die jährlichen Schwankungen im Massenhaushalt des grönländischen Eisschildes ist.
Die Forscher haben vor allem die Veränderungen an der so genannten Schneegrenze des Eisschildes untersucht: Wo auch im Sommer Schnee auf dem Eis liegt, der Sonnenlicht gut reflektiert, befindet sich das Eis in einem Gleichgewicht. Wo hingegen das blanke Eis zu sehen ist, das deutlich dunkler wirkt, ist das Abschmelzen im Sommer höher als der Zugewinn durch Schnee im Winter, und das Eis befindet sich im Ungleichgewicht. Außerdem schmilzt das Eis nicht überall auf der Oberfläche gleichmäßig, sondern vor allem entlang der Ränder in den wärmeren unteren Lagen.
Ein Nachteil dieser Methode sei allerdings, dass sie keinen Zeitrahmen für die Entwicklungen angibt. »Um die von uns ermittelten Zahlen zu erhalten, mussten wir den Zeitfaktor bei der Berechnung außer Acht lassen«, sagte Box laut einer Mitteilung des GEUS. »Aber unsere Beobachtungen deuten darauf hin, dass der größte Teil des erwarteten Meeresspiegelanstiegs noch in diesem Jahrhundert stattfinden wird.«
Die 27 Zentimeter, um die der Meeresspiegel auf jeden Fall steigt, sind allerdings nur eine Minimalannahme. »Realistisch betrachtet wird sich die Zahl in diesem Jahrhundert mehr als verdoppeln«, sagte Box. »In dem vorhersehbaren Szenario, dass sich die globale Erwärmung fortsetzen wird, wird der Beitrag des grönländischen Eisschildes zum Anstieg des Meeresspiegels weiter zunehmen.« Um herauszufinden, wie diese Entwicklung aussehen könnte, legten die Forscher ihren Berechnungen die Daten des Jahres 2012, das die höchste bisher gemessene Schmelzrate aufwies, zu Grunde und nahmen an, dass diese Bedingungen Jahr für Jahr andauern. In diesem Fall würde das Abschmelzen des grönländischen Eisschildes zu einem Meeresspiegelanstieg von mehr als 78 Zentimetern führen. In einem Bericht aus dem Jahr 2021 war der Weltklimarat IPCC in seinem Szenario mit dem höchsten Treibhausgasausstoß noch von einem Anstieg des Meeresspiegels aufgrund des schmelzenden Grönlandeises um ›nur‹ 18 Zentimeter bis zum Ende des Jahrhunderts ausgegangen.
Grönland ist besonders stark vom Klimawandel betroffen, da sich die Arktis bereits deutlich stärker erwärmt hat als jede andere Region der Erde. Das dänische Polar Portal berichtete im März auf Twitter , dass die grönländische Eisdecke seit dem Jahr 2002 rund 4700 Milliarden Tonnen Eis verloren habe – genug, um die gesamten USA einen halben Meter unter Wasser zu setzen.
Korrektur: Fälschlicherweise war im Text zunächst davon die Rede, dass das grönländische Eisschild in den nächsten Jahrzehnten um 110 Billiarden Tonnen schrumpfen würde; richtig sind 110 Billionen Tonnen.
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