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Großübung »Magnitude«: Auf den Katastrophenfall vorbereiten

Bei einer internationalen Großübung in der Rhein-Neckar-Region proben hunderte Einsatzkräfte, wie sie auf ein Starkbeben reagieren müssen. Ist Deutschland für den Ernstfall gewappnet?
Ein Mitglied der Rettungshundestaffel läuft mit einem Hund über Trümmer
Bis heute können Seismologen Erdbeben nicht vorhersagen. Übung für den Ernstfall ist daher alles, so wie hier bereits im Februar 2023.

Am morgigen Donnerstag, 24. Oktober, wird eine Katastrophe über Deutschland hereinbrechen. Ein schweres Erdbeben der Magnitude 6,9 trifft die dicht besiedelte Rhein-Neckar-Region. Der Erdstoß wird um 5.51 Uhr in der Früh beginnen und 16 Sekunden dauern. Das Epizentrum liegt zwischen Karlsruhe und Heidelberg. In 10 Kilometer Tiefe wird die Erde so stark vibrieren, dass ihre Oberfläche auf einer Länge von 40 Kilometern aufreißt. Das Beben wird in Teilen Nordbadens und Südhessens Straßen, Brücken und Häuser zerstören. In Karlsruhe, Heilbronn, Heidelberg und Mannheim kollabieren Gebäude. Auch in Frankreich und der Schweiz verursacht der Erdstoß große Schäden.

Natürlich wird sich diese Jahrtausendkatastrophe nicht in Wirklichkeit ereignen. Sie existiert nur im Drehbuch einer internationalen Großübung, die am Donnerstagmorgen in Mannheim und in Mosbach im Odenwald beginnt. Die Naturkatastrophe namens »Magnitude« ist ein minutiös geplantes Schreckensszenario der Europäischen Union, mit dem man sich auf den schlimmsten Fall vorbereiten will. Wie genau die Übung aussehen wird, ist noch geheim. Ob Europa ein solches Unglück bewältigen könnte, wird sich zeigen. Aber der Aufwand ist groß: Insgesamt reisen 850 Rettungskräfte aus zahlreichen europäischen Nachbarländern an, darunter Experten für atomare, biologische und chemische Gefahren aus Griechenland. Vor allem auf dem Gelände in Mosbach, wo häufig Katastrophenübungen stattfinden, werden die Folgen des Bebens durchgespielt. Kostenpunkt: rund 1,4 Millionen Euro.

Tatsächlich ist ein Erdbeben mit derart verheerenden Folgen auch in Deutschland möglich. Risikozonen sind die Schwäbische Alb, der Oberrheingraben und die Eifel. Vor allem Baden-Württemberg gilt als Hotspot möglicher Erdbebenaktivität.

Starkbeben treten in Mitteleuropa etwa alle 1000 Jahre auf

Über die Vorgänge in der Erdkruste wacht in dem südwestlichen Bundesland der Seismologe Stefan Stange. Er leitet den Erdbebendienst und hat auch das Übungsbeben für »Magnitude« entworfen. Im Flur vor seinem Büro, nahe der Freiburger Altstadt gelegen, zeigt ein Bildschirm die jüngsten Erdbewegungen. Zwei Regionen sind in diesem Jahr besonders aktiv: die Grenzregion zur Schweiz und der Zollernalbkreis auf der Schwäbischen Alb. Rund um Basel und Albstadt erscheinen dutzende rote Punkte unterschiedlicher Größe auf der Erdbebenkarte, jeder steht für eine Erschütterung. Die meisten Beben sind nur kleine Wackler, die zwar von den empfindlichen Messgeräten registriert werden, die aber kein Mensch spürt. Deutlich wahrnehmbare Beben treten im Südwesten dennoch mehrmals im Jahr auf. Alle zehn Jahre kommt es zu mittelstarken Erdstößen, die Gebäude beschädigen. Katastrophale Beben seien dagegen sehr selten, sagt Stange. Ein großer roter Punkt auf der Erdbebenkarte blieb also bislang aus.

Das stärkste je mit Messgeräten erfasste Erdbeben in Deutschland erschütterte am 16. November 1911 Ebingen, heute ein Ortsteil von Albstadt. Der Erdstoß mit der Magnitude 6,1 beschädigte mehr als 6000 Häuser. Man spürte ihn von Norddeutschland bis in die Toskana. Anfang September 1978 rumpelte es noch einmal in der Region.

Sicher ist: Das nächste Jahrtausendbeben kommt. Nur wann?

Das schwerste bekannte Erdbeben in Mitteleuropa ist schon lange her – es ereignete sich im Spätmittelalter in Basel. Am 18. Oktober 1356 legte es die Stadt am Rhein in Schutt und Asche. Die Magnitude wird heute auf Werte zwischen 6,2 und 7,1 geschätzt. Zahlreiche Häuser stürzten ein, Schätzungen zufolge starben bis zu 2000 Menschen – eine vergleichsweise niedrige Zahl. Da zuvor zahlreiche Vorbeben die Stadt erschüttert hatten, waren bereits viele Einwohner geflohen.

Derart katastrophale Erdbeben treten in Mitteleuropa alle 1000 bis 3000 Jahre auf. Würde heute die Erde unter einer Stadt so stark beben wie damals in Basel, wäre je nach Tageszeit und Baunorm mit mehreren tausend Todesopfern und zehntausenden Verletzten zu rechnen, haben Schweizer Seismologen errechnet. Ein kleiner Prozentsatz der Häuser würde sofort einstürzen. Viele Gebäude wären stark beschädigt.

Sicher ist: Das nächste Jahrtausendbeben kommt. Nur wann? Das weiß kein Mensch. Bis heute können auch Seismologen Erdbeben nicht vorhersagen. Es kann morgen geschehen – oder erst in 3000 Jahren. Erdbeben sind speziell. Und sie sind die teuersten und tödlichsten Naturgewalten. Wirbelstürme und Fluten kündigen sich an, sogar Vulkanausbrüche lassen sich in gewissen Grenzen vorhersagen. Die Stöße aus dem Erdinnern hingegen tauchen ohne Vorwarnung auf. Das macht sie so gefährlich.

An Orten wie Kalifornien und am Bosporus leben die Menschen seit jeher in dem Bewusstsein, dass irgendwann ein verheerendes Erdbeben kommen wird. Ein »Big One« mit einer Magnitude von mehr als sieben ist auf lange Sicht unausweichlich. Je nach Tageszeit rechnen die Behörden dann mit zehntausenden Todesopfern. Solche Starkbeben sind in Mitteleuropa glücklicherweise unmöglich. Die Kehrseite davon ist, dass es hier zu Lande kein Bewusstsein für die Gefahr aus dem Untergrund gibt. In vielen der von seismischen Ereignissen häufig heimgesuchten Erdbebengebiete hingegen werden regelmäßig Übungen abgehalten. Dabei sind Katastrophenübungen wie die in Mosbach bei uns genauso notwendig. Den Einsatzkräften liefern sie wertvolle Erkenntnisse, die auch dann hilfreich sind, wenn andere Naturgewalten wie Hochwasser zuschlagen, die infolge des Klimawandels häufiger und stärker werden.

Doch während die Gefahr am Bosporus ständig präsent ist, wiegen sich die Deutschen in Sicherheit. Bei uns gibt es keine Vulkane, Hurrikans oder Tsunamis, keine gefährlichen Tiere, schon seit drei Generationen keinen Krieg – und deshalb auch keine Katastrophenkultur. Stößt den Deutschen etwas Schlimmes zu, sind sie überrascht.

Der Katastrophenschutz befindet sich im Aufbau

Erst mit den Anschlägen vom 11. September 2001, dem Elbe-Hochwasser 2002 und schließlich der Ahrtal-Flut 2021 ist das Gefühl der Sicherheit nicht mehr ganz so unerschütterlich. Der Katastrophenschutz befindet sich mittlerweile wieder im Aufbau. In Deutschland fällt dieser in erster Linie in die Zuständigkeit der Bundesländer und liegt derzeit zu 90 Prozent in der Hand von Ehrenamtlichen. Das funktioniert zwar bislang gut, aber das System hat Schwächen. Seine Achillesferse ist die Zahl der Freiwilligen, die in einem Katastrophenfall tatsächlich zur Verfügung stehen. Zudem ist das Geld knapp, und die Fortbildung der Helfer ist oft zeitlich schwierig. Dabei müssen im Ernstfall alle Rädchen gut ineinandergreifen.

Die Menschen hier verlassen sich auf einen Staat, der über viele Jahrzehnte hinweg signalisiert hat, dass keine Katastrophen zu befürchten sind

Obendrein hat Deutschland ein gespaltenes Verhältnis zur Vorbereitung auf Katastrophen. Wer etwa Wasser und Konserven im Keller lagert, wird schnell zum hysterischen Prepper abgestempelt.

Nach dem Ende des Kalten Krieges hätten die Deutschen verlernt, auf Katastrophen vorbereitet zu sein, sagt Geograf Daniel Lorenz. Er erforscht in der so genannten Katastrophenforschungsstelle, einer einzigartigen Arbeitsgruppe an der FU Berlin, warum sich die Deutschen so unerschütterlich fühlen. Die Friedensdividende hätte sich auch auf den Katastrophenschutz ausgewirkt, der in der Folge zusammengestrichen und als unnötig angesehen wurde, sagt er. Die Bevölkerung habe sich in Sicherheit gewiegt und würde sich auf einen Staat verlassen, der über viele Jahrzehnte hinweg signalisiert habe, es seien keine Katastrophen zu befürchten. Tatsächlich haben die Deutschen seit dem Zweiten Weltkrieg keine wirklich schweren Krisen mehr erlebt.

Die mit dem Katastrophenschutz befassten Stellen und ihre ehrenamtlichen Helfer haben deshalb eine schwierige Aufgabe. Sie sollen uns auf das Eintreten von Situationen vorbereiten, von denen die meisten nichts hören wollen. Sie sollen das Land krisenfest machen – aber bitte keine Untergangssirenen heulen lassen. Zuweilen fallen auch Politiker den Katastrophenschützern in den Rücken. Als das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) vor zwei Jahren eine Broschüre mit Empfehlungen herausgab, welche Notvorräte in jeden Haushalt gehören, wies Innenministerin Nancy Faeser (SPD) die eigene Behörde zurecht, man solle die Menschen doch nicht unnötig verunsichern.

Dabei liegen die Vorteile einer gut aufgeklärten Bevölkerung auf der Hand. Wer geübt hat, auf Krisen zu reagieren, betreibt Vorsorge und trägt im Schadensfall ein geringeres Risiko. Eigentlich muss verantwortungsvolle Politik regelmäßig bewerten, wie verletzlich oder strapazierfähig die Bevölkerung ist. Eine Gesellschaft kann trainieren, mit Naturgefahren umzugehen und sie zu managen. Wer dies unterlässt, ist verwundbarer.

Der Staat reagiert darauf im besten Fall, indem er sich wappnet. Insofern ist die Erdbeben-Großübung eine Chance, krisenfester zu werden. Zumal die Gefahr oft nicht nur von dem unmittelbaren Naturereignis ausgeht, sondern auch von den dadurch angerichteten Zerstörungen, wie sie beispielhaft in der Übung simuliert werden. Strom und Internet fallen aus. Die Kommunikation bricht zusammen. Gasleitungen bersten. Häuser brennen. Verkehr und Wasserversorgung kollabieren. Im Mannheimer Rheinhafen kommt es zu einem Chemieunfall. Solche Sekundärgefahren können eine Naturkatastrophe erst richtig gefährlich machen.

Gute Kommunikation rettet Leben

Worauf kommt es dann an? Zivilschützer sind sich einig: Es ist die Kommunikation. Sie muss so schnell wie möglich wieder hergestellt werden. Und es muss richtig kommuniziert werden. Transparent und vertrauenswürdigend, empfiehlt Daniel Lorenz, gerade in Zeiten zunehmender Polarisierung. Entscheidend sei eine so genannte One-Voice-Policy: Eine einzige Behörde solle zu den Menschen sprechen. Sie müsse sagen, was man weiß und was nicht – und welche Schritte unternommen werden. Panik und antisoziales Verhalten seien im Krisenfall tatsächlich die absolute Ausnahme, betont Lorenz. Menschen hätten die Tendenz, die Rollen, die sie im Alltag einnehmen, auch im Krisenfall auszufüllen.

Wie unterschiedlich Menschen auf Katastrophen reagieren, hat der Sicherheitsethiker Marco Krüger von der Universität Tübingen untersucht. Es gebe Menschen mit einer Vollkasko-Mentalität, die keine Vorbereitungen treffen und alle Verantwortung beim Staat sehen. Außerdem gebe es welche, die sich stillschweigend anpassen und sich um sich selbst, mitunter sogar um ihr Umfeld kümmern. Und dann sind da die Leute, die mit anpacken wollen. Manche stellen im Ernstfall eigeninitiativ Helfergruppen auf die Beine. Auch er sagt: Solidarität überwiegt.

Allerdings gehe der Staat in seinen Vorbereitungen auf Katastrophenfälle von sehr homogenen Bürgern aus. Die Bedürfnisse von Menschen, die keine sozialen Netzwerke haben und sich nicht allein versorgen können, würden beispielsweise in den Notunterkünften von den Katastrophenschutzorganisationen noch nicht systematisch berücksichtigt, sagt Krüger. Das alles zeigt: Wie groß die Katastrophe ist, wenn eine Naturgewalt zuschlägt, liegt auch an uns.

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