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Epigenetik: Grüne Traditionspflege

Lektionen, die das Leben lehrt, an die Nachkommen weiterzugeben - dazu dienen Sprache, Kultur und Pädagogik. Alles Dinge, die einer Pflanze nicht zugeschrieben werden. Kann ganz normales Grünzeug trotzdem umweltbedingt eine Entscheidung treffen und der nächsten Generation mitteilen?
Die Ackerschmalwand kann mehr als gedacht
Pflanze sein hat Vor- und Nachteile: Man hat per Sonnenschein auch ohne Jagd-, Sammel- oder Ernte-Notwendigkeit immer gut zu futtern; und Wind oder Insekt nehmen einem die Partnersuche und damit den anstrengenden Teil der Fortpflanzungsmühsal ab. Auf der anderen Seite kann man aber etwa sein Lebensumfeld nicht problemlos wechseln, sobald die Nachbarschaft den Bach runter geht: Ein verwurzeltes Durchschnittsgrünzeug ist wenig mobil – auch im Angesicht näher kommender Gefahr. Waldbrände, herangrasende Schafe oder in der Nähe havarierende Atomkraftwerke müssen an Ort und Stelle mit Glück und Zähigkeit ausgesessen werden.

Zur Kompensation haben Pflanzen ihrer Zähigkeit im Laufe der Evolution mit allerlei Anpassungen nachgeholfen. Harte Strahlung – Stichwort Atomkraftwerk – beantworten sie etwa mit einem Notprogramm, das ihre genetische Flexibilität erhöht. Ein Beispiel lieferte Grünzeug, das in der Nähe des seit 1986 schlagartig global bekannten Ortes Tschernobyl heranwuchs: Je mehr harte Strahlung Pflanzen abbekommen haben, desto ausgiebiger machten sie von einem als "homologe Rekombination" bezeichneten genetischen Durchmischungsmechanismus Gebrauch – offensichtlich einem Notprogramm.

Bei der "somatischen" Form dieser Rekombination tauschen die zwei Kopien des Erbgutes, die jede Zelle des Pflanzenkörpers eingelagert hat, ihre Allele, also jene Version der homologen Gene, die teilweise ein wenig unterschiedlich sind, dabei aber für die gleichen Proteine kodieren. Der Sinn dieser Aktion ist nicht im Detail verstanden – sicher wächst hierbei aber die Mannigfaltigkeit der zu erwartenden Eiweißprodukte, was die Wahrscheinlichkeit erhöhen dürfte, auf schnell wechselnde Umweltbedingungen neue, überzeugendere Antworten liefern zu können. Kurz: Die Pflanze, die sich einer plötzlich veränderten Umwelt gegenübersieht, ändert sich mit – ungezielt zwar, aber immerhin wohl mit der Chance, mit dem Wandel Schritt zu halten und länger zu überleben.

Als sicher ist auch lang angenommen worden, dass die Pflanze dabei nur für sich selbst kämpft, nicht aber für die Weiterentwicklung ihrer Art. Anders als bei Tieren entstehen ihre Keimzellen – die Erbgut in die nächste Generation weiter tragen – aber auch bei postpubertären Pflanzen noch aus ganz bestimmten Körperzelllinien, und so könnten Veränderungen und Rekombinationen in deren Erbgut, die erst während des Pflanzenlebens dort eingebaut werden, sich auch auf Kinder und Enkel verpflanzen. Näheres untersuchten auch Barbara Hohn von der Universität Basel und ihre Kollegen.

Die Schweizer Forscher hatten Ackerschmalwand-Pflanzen gestresst (zum Beispiel mit ein paar Dosen harter UV-Strahlung), deren Reaktion darauf beobachtet (die Pflanzen rekombinierten, wie erwartet, zunehmend wild homolog einen bestimmten, überwachten Erbgutschnipsel) – und dann überprüft, ob die Nachkommen der Gestressten umweltbedingt geänderte Verhaltensrepertoires übernehmen.

Sie taten es: die Töchter, Enkel-, Ur- und Ur-ur-Enkel der Bestrahlten Arapidopsis-thaliana-Individuen übernahmen alle die erhöhte Tendenz der Ahnen, den überwachten Genabschnitt homolog hin und zurück zu rekombinieren. Die Nachkommen hielten am verstärkten Erbgutmixen als Lebensmaxime auch dann fest, wenn sie selbst gar nicht bestrahlt wurden.

Was passiert hier? Augenscheinlich wird hier eine durch die Umwelt ausgelöste Verhaltensantwort (die verstärkte Rekombinationsrate) auf die nächste Generation vererbt – ohne dass dabei aber Gene tatsächlich verändert werden, denn beide fast identische Kopien wurden nur ja nur hin- und hergetauscht.

Eine Beobachtung wie diese hätte im 19. Jahrhundert niemanden überrascht, als die Evolutionstheorie von Jean-Baptiste Lamarck noch Anhänger hatte. Zur Erinnerung: Lamarckisten hatten auch geglaubt, der Hals einer Giraffe sei von einer Generation zur nächsten länger geworden, wenn sich die Giraffe im Leben immer nach höheren Blättern gereckt hatte. Die zugrunde liegende "Vererbung erworbener Eigenschaften" war erst nach Charles Darwin zunehmend überholt – mit dem wachsenden Erfolg der auf seinen Beobachtungen beruhenden Evolutionstherorie.

Die Forscher erkannten an ihren verstrahlten Arabidopsen nun einen Neo-Lamarckistischen Spezialfall, der bei genaueren Untersuchungen zunehmend häufig in der Natur offenbart wird: die Vererbung von Eigenschaften – eventuell auch erworbener – mit Hilfe so genannter epigenetischer Faktoren. Die Weitergabe von Informationen geht dabei nicht mit Sequenzänderungen des Erbträgers DNA einher. Epigenetischen Einfluss kann etwa die nichtsequenzbeeinflußende Methylierungsmarkierung von DNA sein, die dann bestimmte Gene häufiger, andere seltener zur Ablesung bestimmt. Epigenetisch wirken kann etwa auch RNA – sie oder das veränderte Methylierungsmuster müssen allerdings in die Keimzellen gelangen und mit diesen in die nächste Generation.

Erstmal bei Pflanzen beschreiben Hohn und Co somit Grundlagen eines Transgenerationen"Gedächtnisses". Unklar bleibt allerdings noch der Nutzen dieser von Arabidopsis zu Arabidopsis weitergereichten Lebensweisheiten – denn einen wirklichen Vorteil des häufigeren Rekombinierens, etwa eine damit erhöhte UV-Resistenz, konnten die Forscher nicht nachweisen. Sie nehmen diesen in Ermangelung eindeutiger Beweise daher zunächst einmal einfach an. Dagegen spricht bislang schließlich auch nichts.

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