Identität: Sind wir viele?
Wer bin ich? Auf die Frage nach der eigenen Identität haben wohl die wenigsten eine einfache Antwort parat. Fachleute tun sich schwer damit zu definieren, was »Identität« eigentlich ist. Laut Wörterbuch handelt es sich um die als »Selbst« erlebte innere Einheit der Person. Das klingt zunächst so, als hätte jeder Mensch eine Art Kernidentität. Ob sie sich je nach Situation verändert oder konstant bleibt, ist in der Psychologie allerdings umstritten.
Ein Punkt, bei dem sich die Forschenden einig sind: Unsere Identität verändert sich im Lauf des Lebens. Sie ist nicht statisch, sondern flexibel. Und wie veränderlich sie ist, unterscheidet sich von Mensch zu Mensch. Ein weiterer Punkt, auf den sich die Fachleute einigen können: Identität findet immer im Austausch mit der Umwelt statt, in der Identifikation mit anderen und in Abgrenzung von ihnen.
Der Erste, der den Identitätsbegriff populär machte, war der Psychoanalytiker Erik H. Erikson (1902–1994). Gemeinsam mit seiner Frau Joan entwickelte er das Stufenmodell psychosozialer Entwicklung. Demnach durchläuft der Mensch in seinem Leben bestimmte Entwicklungsstufen, auf denen er jeweils mit typischen psychosozialen Krisen konfrontiert ist. Erikson war der Ansicht, dass das Individuum diese Krisen bewältigen muss, um so seine Selbstauffassung erweitern zu können. Den Kern der Identität bildet ihm zufolge die Fähigkeit des Ichs, angesichts eines wechselnden Schicksals Gleichheit und Kontinuität aufrechtzuerhalten. Erikson spricht dabei meist von der Ich-Identität, aber auch davon, dass das Individuum eine soziale Identität herstellen muss.
Seit Eriksons ersten Definitionen hat sich das Verständnis von Identität noch oft gewandelt. In seinem Buch »Reflexive Sozialpsychologie« spricht Heiner Keupp, Sozialpsychologe und emeritierter Professor der Ludwig-Maximilians-Universität München, von den verschiedenen »Identitätsformationen« der vergangenen Jahrzehnte. In den 1950er und 1960er Jahren etwa habe die Identität eher als Gehäuse gedient. Äußere Kriterien wie Alter, Geschlecht, Beruf und soziale Schicht hätten die Identität bestimmt und so recht eindeutig und statisch definiert.
Ab den 1970er Jahren emanzipierten sich die Menschen vom starren gesellschaftlichen Korsett und orientierten sich nach innen. Seit den späten 1990er Jahren ist man laut Keupp in einer neuen Phase angekommen, in der sowohl das Innen als auch das Außen eine Rolle spielen und die Identität eher als Prozess verstanden wird. Demnach ist unsere Identität vieldeutig und offen.
»Wir haben mehr als nur eine Identität, wir haben ein inneres Team«Eric Lippmann, Psychologe an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften
Die große Frage bleibt aber weiterhin: Gibt es eine Konstante, eine Kernidentität, in die verschiedene Aspekte integriert werden? Und wenn das so wäre, spielen wir in den Situationen, in denen wir von unserer Kernidentität abweichen, uns und anderen etwas vor? Oder verfügt jeder Mensch über eine Reihe von Identitäten, zwischen denen er je nach Kontext hin und her wechselt?
»Wir sind viele«, sagt Eric Lippmann. Er ist Professor für angewandte Psychologie an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften, mit Schwerpunkt unter anderem auf Coaching und Change Management. Sein Buch über »Identität im Zeitalter des Chamäleons« sei entstanden, weil Fragen rund um das Thema Selbstfindung so oft in Beratungsgesprächen Thema waren, erzählt er.
Das Problem der einheitlichen Identität verdeutlicht sich laut Lippmann zum Beispiel, wenn man das Umfeld einer Person nach deren Identität befragt. Nennen wir diese Person Emma. Fragen wir zehn Menschen in Emmas Umfeld, wer Emma ist und was ihre Identität ausmacht, erhalten wir mit hoher Wahrscheinlichkeit zehn verschiedene Antworten. So wird eine Kollegin Emma anders beschreiben als ihre beste Freundin.
»Ich denke, wir haben mehr als nur eine Identität, wir haben ein inneres Team«, sagt Lippmann. Je nach Situation würden sich unterschiedliche Stimmen aus dem Inneren einer Person zu Wort melden. »Diese Stimmen sind ein Ergebnis aus der Entwicklung eines Menschen, aus Erziehung, den Eltern, Stimmen, die man gehört und gesammelt hat«, erklärt Lippmann. Sie entstehen in lebenswichtigen Episoden und begleiten die Menschen oft durch ihr ganzes Leben.
»Die Identität kann im Lauf des Lebens an Komplexität gewinnen, aber auch wieder verlieren«Jürgen Straub, Sozialwissenschaftler an der Ruhr-Universität Bochum
Jürgen Straub ist da anderer Meinung. Er ist Psychologe, Sozialwissenschaftler und Inhaber des Lehrstuhls für Sozialtheorie und Sozialpsychologie an der Ruhr-Universität Bochum. »Wir verfügen über eine Identität, die sich aus verschiedenen Aspekten zusammensetzt. Sie kann im Lauf des Lebens an Komplexität gewinnen, aber auch wieder verlieren«, erläutert Straub. Diese Identität bestehe aus Überzeugungssystemen wie zum Beispiel der politischen Einstellung, aus denen sich wiederum Rollen entwickeln würden. Er glaubt: Menschen haben eine Identität, verschiedene Rollen, und sie verändern sich mit der Zeit.
Straub sieht, ganz in Eriksons Tradition, die Herausforderung darin, die Veränderungen und widersprüchlichen Erfahrungen in verschiedenen Kontexten und Situationen irgendwie unter einen Hut zu bringen. »Wie gelingt es einer Person, ganz unterschiedliche Verfassungen, Rollen, Entwicklungsaufgaben miteinander zu vereinbaren? Diese Frage ist eines der Hauptprobleme in unserer Gesellschaft«, sagt Straub.
Wenn wir wechseln, dann eher zwischen Rollen oder Überzeugungssystemen als zwischen Identitäten, erläutert der Psychologe. »Wenn ich höre, dass wir Identitäten wechseln, dann denke ich an die multiple Persönlichkeitsstörung.« Doch dabei handelt es sich um eine psychische Störung, bei der Menschen sehr schnell zwischen verschiedenen Persönlichkeiten hin und her wechseln. Befinden sie sich gerade in einem bestimmten Zustand, können sich Betroffene oft nicht daran erinnern, was die jeweils anderen Persönlichkeiten gesagt oder getan haben. Zwar könne sich auch bei gesunden Menschen die Identität wandeln. Aber wenn Veränderungen passieren, sei das ein meist langsamer und mühsamer Prozess, sagt Straub. »Sich von Sachen lösen, die zur eigenen Identität gehören, kann sehr schwer sein.«
Ihm zufolge wechselt man vielmehr die soziale Rolle. Dabei handelt es sich per Definition um ein Set von erwarteten Verhaltensweisen, mit denen sich eine Person in einem bestimmten sozialen Kontext konfrontiert sieht. Die Erwartungen können sich entsprechend unterscheiden: Eine Person kann Mutter, Ärztin, Nachbarin und beste Freundin sein, und das alles an ein und demselben Tag.
Gibt es also eine Elternidentität und eine Ärztinnenidentität, zwischen denen die Person wechseln kann? Existieren sie nur als Facetten, die in eine allumfassende Identität integriert sind? Oder handelt es sich eher um Rollen, die sie als Mutter, als Ärztin und Freundin spielt? Eine abschließende Antwort gibt es nicht, und vielleicht ist das auch gar nicht entscheidend. Es könnte sein, dass die unterschiedlichen Begriffe eigentlich dasselbe meinen, nämlich die Vielschichtigkeit eines Menschen.
Wie man eine wechselnde Identität beobachtet
Wichtiger könnte vielmehr sein, wie ein solcher Wechsel vor sich geht. Dieser Frage ist Miriam Koschate-Reis, Professorin für computergestützte Sozialpsychologie an der University of Exeter, mit ihrem Team nachgegangen. Koschate-Reis vertritt die Ansicht, dass jeder mehrere soziale Identitäten hat, die aber nicht immer gleichzeitig aktiv sind. Der Wechsel zwischen ihnen funktioniere ähnlich wie der zwischen Aufgaben, schrieb sie 2022 zusammen mit ihrer Doktorandin Anna Zinn und weiteren Kollegen im »Journal of Experimental Social Psychology«. Man springe hin und her, doch wirklich gleichzeitig könne man weder mehrere Aufgaben bearbeiten noch mehrere Identitäten ausleben.
Zu untersuchen, ob und wie ein solcher Wechsel stattfindet, ist schwierig. »Wir gehen davon aus, dass solche Identitätswechsel sehr schnell und unbewusst geschehen«, sagt Miriam Koschate-Reis. Um diese Vorgänge sichtbar zu machen, verwendeten die Forschenden indirekte Messmethoden wie den Impliziten Assoziationstest (IAT). Dabei handelt es sich um ein Messverfahren aus der Sozialpsychologie, entwickelt Ende der 1990er Jahre, das unbewusste Einstellungen erfassen soll. Vereinfacht gesagt misst der Test anhand von Reaktionszeiten, wie stark zwei Konzepte im Gedächtnis einer Person assoziiert sind, zum Beispiel das Wort »Kompetenz« mit dem Bild eines Mannes oder einer Frau. Je schneller die Reaktion, desto enger die Verbindung, und das lässt Rückschlüsse auf die unbewusste Einstellung gegenüber Männern und Frauen zu.
Koschate-Reis und ihr Team nutzten den IAT allerdings, um den Wechsel zwischen Selbstkategorisierungen nachzuweisen, hier etwa die Zugehörigkeit zu einer Gruppe von Jung oder Alt, einer Ingroup oder einer Outgroup. Fazit: Menschen können schnell und ohne große Anstrengung ihre soziale Identität wechseln und eine neue annehmen. »Lange Zeit konnten wir den Wechsel zwischen Identitäten nicht richtig untersuchen, aber der IAT und andere Methoden, beispielsweise die Analyse von Sprachdaten mit Hilfe künstlicher Intelligenz, ermöglichen uns nun viel mehr Forschung auf diesem Gebiet«, berichtet die Sozialpsychologin.
»Einige Mütter hatten von Tag eins an eine Elternidentität, andere erst im letzten Trimester«Miriam Koschate-Reis, Sozialpsychologin an der University of Exeter
Mittels Sprachdaten untersuchten Koschate-Reis und Kollegen zum Beispiel, ob der Wechsel zur Elternidentität im Schreibstil zu erkennen ist. Dazu trainierten sie zunächst ein mathematisches Modell mit Daten aus einem Elternforum und einem feministischen Forum darauf, Texte der beiden Foren zu unterscheiden. Dann untersuchten sie anhand anderer Texte, die werdende Mütter in Online-Foren schrieben, wann deren Elternidentität entstand.
Einige hätten demnach von Tag eins an eine Elternidentität gehabt, andere erst im letzten Schwangerschaftstrimester, erzählt Koschate-Reis. »Was interessant war: Vor allem diejenigen Frauen, die sehr spät eine Elternidentität entwickelten, berichteten später von Symptomen einer postpartalen Depression.« Der für eine Elternidentität typische Schreibstil sei dann wieder verschwunden. Als eine mӧgliche Erklärung sieht Koschate-Reis konkurrierende Identitäten, beispielsweise eine starke Arbeitsidentität. Dann könne es schwieriger sein, eine Elternidentität zu entwickeln.
Eine Erkenntnis, die zur Frage führt: Wie stark können einzelne Identitäten oder auch Aspekte unseres Selbst miteinander in Konflikt stehen? »Unsere Identität vereint häufig recht widersprüchliche Aspekte und wird dadurch zunehmend komplexer«, sagt Jürgen Straub. Das kommt unter anderem daher, dass für verschiedene Rollen und Kontexte verschiedene Regeln gelten und wir uns entsprechend verhalten. So kann ein Mann als Chef seine Mitarbeiter bei jedem Fehler rügen, aber zu Hause seinen Kindern alles durchgehen lassen.
Widersprüche müssen nicht schlecht sein, im Gegenteil: Wenn jemand viele verschiedene Aspekte in sich vereint, spricht die Sozialpsychologie von hoher Selbstkomplexität. Studien zeigten, dass sie die Selbstkontrolle stärkt und die Gefühlswelt stabilisiert. Ein komplexes Selbst wirkt wie ein Puffer: Läuft es in einem Lebensbereich schlecht, können die übrigen Identitäten stützen und ausgleichen. Mit einem solchen vielfältigen inneren Team ist man für das Auf und Ab des Lebens gut gerüstet.
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