Häftlingsfreikauf: Wie die DDR Tausende von Kritikern verkaufte
Es waren gespenstische Bilder, die die greise DDR-Führung im Oktober 1989 inszenierte. Mit einem gigantischen Fackelzug beschwor sie zum 40. Jahrestag der Staatsgründung noch einmal Stärke und Einheit. Ein letztes Mal versuchten sich die SED-Granden an der Illusion eines gesunden, stolzen, der Zukunft zugewandten Landes – Ehrenparade Unter den Linden, Politprominenz aus dem sozialistischen Ausland, Fähnchen am Straßenrand. In Wahrheit gärte es bereits überall. Nur einen Monat später gab die Berliner Mauer dem Druck der friedlichen Revolution nach.
Mit dem Zusammenbruch des SED-Regimes endeten Mangelwirtschaft, Massenüberwachung, Bespitzelung sowie Beschränkungen der Meinungs-, Rede- und Reisefreiheit. Doch auch ein anderes, bis heute weniger bekanntes Kapitel der deutschen Geschichte ging zu Ende: der systematische Handel mit eigenen Staatsbürgern, den die DDR vor 60 Jahren aufnahm und noch bis ins Jahr der Wende betrieb.
Oberstes Ziel dieser Deals war die Beschaffung von Devisen. Die »Ware« saß in großer Zahl in den Gefängnissen der DDR, der Abnehmer im Westen: die Bundesregierung, die das Leid der politischen Häftlinge lindern wollte. Im Zuge dieses so genannten Häftlingsfreikaufs gelangten alles in allem rund 250 000 Menschen in den Westen, Dissidenten wie auch ihre Familienangehörigen. In die Gegenrichtung flossen Devisen in Milliardenhöhe. Als Gewinner dieses Geschäfts kann im Nachhinein wohl nur eine der beteiligten Seiten gelten.
Ein Volk wurde an der Flucht gehindert
Spätestens mit dem Bau der Mauer am 13. August 1961 hatte die SED ihr Land hermetisch abgeriegelt. Es war eine in sich schlüssige Konsequenz aus der nicht abebbenden Fluchtbewegung, die längst staatsgefährdende Ausmaße angenommen hatte. Allen voran Ärzte, Ingenieure und Pädagogen, ganze Abschlussjahrgänge waren durch die Löcher im Eisernen Vorhang geschlüpft, schildert Helmut Jenkis in seinem Buch »Der Freikauf von DDR-Häftlingen: Der deutsch-deutsche Menschenhandel«. In den ersten zwölf Jahren ihres Bestehens hatten etwa 2,7 Millionen Menschen die Deutsche Demokratische Republik verlassen. Mit dem Bau der Mauer war dieser Weg versperrt. Wer nun dem Staatssozialismus sowjetischer Prägung entkommen wollte, musste an den Grenzen Haft und Tod riskieren. Die Zahl der aus politischen Gründen Inhaftierten zwischen 1963 und 1989 wird auf etwa 100 000 geschätzt. Viele davon saßen wegen versuchter Republikflucht ein.
An politischen Häftlingen hatte es schon vor dem Mauerbau nicht gemangelt, auch wenn diese offiziell nicht so genannt werden durften. Bereits 1951 war in Westberlin die so genannte Rechtsschutzstelle gegründet worden: eine von der Bundesregierung beauftragte Anwaltskanzlei, die Menschenrechtsverletzungen in der DDR dokumentieren und Opfern des SED-Regimes juristisch beistehen sollte.
Durch die Mauer waren die Möglichkeiten dazu massiv geschwunden, denn es gelangten kaum noch Informationen in den Westen. Erschwerend kam hinzu, dass die Bundesregierung den offiziellen Kontakt mit der DDR-Regierung ablehnte, da sie den sowjetischen Satellitenstaat nach wie vor nicht anerkannte und sich selbst als einzig legitime Vertretung für die Interessen aller Deutschen im Westen wie im Osten begriff.
Die USA und Kuba lieferten das Vorbild
Der entscheidende Vorschlag, wie man den inhaftierten Dissidenten in der DDR helfen könnte, kam ausgerechnet aus der DDR. Dort hatte der Mauerbau zwar die Massenflucht gestoppt, jedoch nichts an deren Ursachen geändert. Die sozialistische Planwirtschaft führte zu Mangel an allen möglichen Gütern, im Winter 1962/63 mussten sogar Strom, Gas und selbst Wasser rationiert werden, wie der Historiker Jan Philipp Wölbern in seinem Buch »Der Häftlingsfreikauf aus der DDR 1962/63-1989: Zwischen Menschenhandel und humanitären Aktionen« berichtet. Gleichzeitig konnte die DDR mit ihrer schwachen Ostmark am internationalen Markt nicht bestehen. Es brauchte Devisen, und zwar dringend – zum Beispiel in Form von D-Mark aus dem eigentlich so verhassten Westen.
Einen Weg, wie aus dem Klassenfeind Profit geschlagen werden konnte, hatte eben erst Kuba vorgegeben. Nach der gescheiterten Invasion der Amerikaner in der Schweinebucht hatten die USA Nahrungsmittel, Medikamente und andere Dinge des täglichen Bedarfs im Wert von etwa 62 Millionen Dollar auf die Karibikinsel geschickt, um die Freilassung der etwa 1200 Gefangenen zu erwirken. In der BRD hatte der Handel zu einer öffentlichen Debatte geführt, ob die Bundesregierung nicht eine ähnliche Lösung mit der DDR finden könnte. Vorschläge dieser Art waren allerdings zuvor bereits innerhalb der Regierung mehrfach diskutiert und immer wieder verworfen worden.
Die Aussicht auf Deviseneinnahmen wog schwerer als alle Bedenken: 1963 beginnt die Stasi, ihre Fühler gen Westen auszustrecken
Bei der Stasi, dem Ministerium für Staatssicherheit in der Ostberliner Normannenstraße, war die Debatte jedenfalls mit großem Interesse verfolgt worden. Etwa zu dieser Zeit muss die Idee entstanden sein, aus inhaftierten Regimegegnern Kapital zu schlagen. Die Vorteile lagen auf der Hand. Ohne selbst einen nennenswerten finanziellen Aufwand treiben zu müssen, konnten hohe Devisensummen akquiriert werden. Gleichzeitig sparte man sich den Unterhalt von Häftlingen, entledigte sich bequem, sofern eine Abschiebung in die BRD erfolgte, potenzieller Unruhestifter und konnte sogar noch die Opposition schwächen.
Auf der anderen Seite barg der Plan aber auch Risiken. Die um ihre internationale Anerkennung bemühte DDR, die sich Fortschritt und Humanismus auf die Fahnen geschrieben hatte, konnte es sich nicht leisten, in den Verdacht des Menschenhandels zu geraten. Außerdem würde das SED-Regime durch die Ausweisung von Häftlingen seine Bemühungen unterminieren, die Menschen im Land zu halten. Und wäre es nicht letztlich ein Verrat an den eigenen Idealen, Regimegegner einfach abzuschieben, anstatt sie zu guten sozialistischen Staatsbürgern zu erziehen und von der Wahrheit der marxistisch-leninistischen Lehre zu überzeugen?
Offenbar wog die Aussicht auf satte Deviseneinnahmen schwerer als alle Bedenken, denn die Stasi entschloss sich, im Frühjahr 1963 die Fühler gen Westen auszustrecken und zu eruieren, ob in Bonn eine grundsätzliche Bereitschaft zum Freikauf von Häftlingen bestehe. Da die DDR in dieser Angelegenheit an möglichst großer Diskretion interessiert war und die BRD ohnehin offizielle Treffen scheute, musste der Kontakt über Mittelsmänner zu Stande kommen.
Auf Ostseite fand man in Rechtsanwalt Wolfgang Vogel (1925–2008) einen idealen Kandidaten. Dieser hatte als Vermittler bei dem berühmten Agentenaustausch auf der Glienicker Brücke am 10. Februar 1962 international für Schlagzeilen gesorgt: Dabei kam der sowjetische Spion Rudolf Abel gegen den amerikanischen Piloten Francis Gary Powers frei. Als Anwalt hatte Vogel zudem in der DDR immer wieder Regimegegner juristisch vertreten und galt im Westen darum als integrer Ansprechpartner. Dass er auch bestens mit der Stasi vernetzt war, für die er unter den Decknamen »Eva« und »Georg« als inoffizieller Mitarbeiter tätig gewesen war, kam erst nach der Wende heraus.
Die Bundesregierung erlaubte Verhandlungen
Im Zuge seiner Arbeit als Advokat hatte Vogel regelmäßig mit der Rechtsschutzstelle zu tun gehabt, wodurch sich insbesondere ein enger Kontakt zu dem Westberliner Rechtsanwalt Jürgen Stange entwickelte. Nach einem Gespräch mit Vogel trat dieser im Frühjahr 1963 an seine Kollegen von der Rechtsschutzstelle heran und teilte ihnen die Offerte aus Ostberlin mit. Nachdem es zu einer ersten erfolglosen Annäherung an den Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen, Rainer Barzel, gekommen war, wandten sich die Anwälte an den Verleger Axel Springer, der seine guten Kontakte in die Politik nutzte und bei Barzel plötzlich doch Gehör fand. Nach Rücksprache mit Bundeskanzler Konrad Adenauer hatte der CDU-Minister die Erlaubnis in der Tasche, mit der DDR in Verhandlungen zu treten. Diese sollten über die beiden Anwälte Stange und Vogel abgewickelt werden.
Das unmoralische Angebot war auch für die BRD von Anfang an mit Risiken und Bedenken verbunden. Zwar konnte man durch einen Freikauf das Leid einiger politischer Häftlinge in der DDR beenden und so auch noch einmal den Alleinvertretungsanspruch bekräftigen. Gleichzeitig ließ sich nicht leugnen, dass man sich an einem Menschenhandel mit einer Diktatur beteiligte. Zudem bestand die Gefahr, dass das SED-Regime die Zuwendungen aus dem Westen nutzen würde, um die Repressionen gegen die eigene Bevölkerung aufrechtzuerhalten oder gar zu erhöhen. Das galt es auf jeden Fall zu vermeiden. Überhaupt sollte es sich nach Ansicht der Verantwortlichen auf Westseite um eine möglichst einmalige oder zumindest begrenzte Aktion mit dem Ziel handeln, bei den schwersten und tragischsten Fällen Abhilfe zu schaffen, erklärt Jan Philipp Wölbern. Das galt vor allem für solche Häftlinge, die schon seit vielen Jahren in Haft waren oder noch eine lange Strafe zu verbüßen hatten.
Von 8 auf 900 in nur einem Jahr
Die erste der »besonderen Bemühungen der Bundesregierung im humanitären Bereich«, so die offizielle Sprechweise im Westen, wurde zwar erfolgreich abgeschlossen, war in ihrem Ergebnis aber recht ernüchternd. Von den ursprünglich angedachten 1000 Gefangenen blieben am Ende nur acht übrig, die gegen eine Gesamtsumme von 205 000 DM freigekauft wurden. Die Hälfte von ihnen wurde in die DDR entlassen und blieb damit im Würgegriff jenes Systems, das ihnen die Freiheit geraubt hatte.
Als Testballon war der erste Freikauf, der noch im Jahr 1963 erfolgte, jedoch ein großer Erfolg, denn er hatte bewiesen, dass Ost und West in dieser Frage konstruktiv zusammenarbeiten und zu einem Ergebnis kommen konnten. Die Abmachung bildete den Auftakt für weitere ähnliche Verhandlungen, die schon im darauf folgenden Jahr einsetzten und weiterhin über die Anwälte liefen. 1964 waren es bereits fast 900 Häftlinge, die von der BRD zum Preis von über 35 Millionen DM freigekauft wurden, ein Jahr später stieg die Zahl auf mehr als 1500 Haftentlassungen.
Auf Betreiben der BRD verständigte man sich darauf, keine Geldbeträge zu überweisen, sondern die Zahlungen in Form materieller Güter vorzunehmen – Rohstoffe, Nahrungsmittel wie Kaffee oder Speiseöl, Maschinen oder Fahrzeuge, die dann der Bevölkerung der DDR zugutekommen sollten. Für die Abwicklung war das Diakonische Werk der Evangelischen Kirche zuständig, die zuvor ebenfalls mehrere Menschen von der DDR freigekauft hatte.
Dem Regime im Osten gelang es leicht, die hinter den Warenlieferungen stehende Intention der Bundesregierung zu konterkarieren, indem es die gelieferten Güter auf dem internationalen Markt verkaufte und so die begehrten Devisen ergatterte. Für diesen Vorgang war Alexander Schalck-Golodkowski verantwortlich, eine der dubiosesten Figuren im Staatsapparat der DDR. Als Leiter des geheimen Bereichs »Kommerzielle Koordinierung«, kurz KoKo, im Ministerium für Außenhandel bestand seine Hauptaufgabe darin, jenseits der offiziellen und legalen Wege nach Möglichkeiten für die Beschaffung von Devisen zu suchen.
Zu diesem Zweck handelte die KoKo unter anderem mit geraubten Kunstgütern, beteiligte sich am Waffenhandel sowie am Schmuggel von Zigaretten, Kleidung und anderen Gegenständen. Zwar wurden von dem Geld, das Schalck-Golodkowski aus dem Häftlingsfreikauf herausbekam, auch verschiedentlich Bedarfsgüter für die Bevölkerung erworben, die in der DDR rar waren. Doch es diente ebenso der Finanzierung von Stasispitzeln und westlichen Luxusgütern für die SED-Kader, schreibt Helmut Jenkis. Der größte Teil wurde als Rücklage verwendet, um die Zahlungsfähigkeit der DDR zu gewährleisten.
Eine Preisliste vereinfachte die Verhandlungen
So entwickelte sich allmählich und ganz gegen die ursprüngliche Absicht der westdeutschen Politik ein stetiger Austausch von Waren gegen Menschen zwischen der BRD und der DDR. Auch die Verhandlungen liefen mit der Zeit immer reibungsloser. Gerade in den ersten Jahren wurde für jeden einzelnen Häftling, der sich auf einer der Wunschlisten der Bundesregierung befand, ein individueller Preis ausgehandelt. Da die DDR auch regelmäßig versuchte, dem Westen gewöhnliche Kriminelle oder politische Gefangene, deren restliche Haftstrafe nur noch wenige Tage dauerte, anzudrehen, kam es immer wieder zu Meinungsverschiedenheiten bei der Abrechnung, die sich laut Wölbern über Monate oder teilweise sogar Jahre hinzog. 1968 einigte man sich darum auf ein vierstufiges System, das – je nach Häftlingskategorie – Preise von 10 000, 20 000, 40 000 oder, für besonders schwere Fälle, 100 000 DM vorsah.
1973 ließ SED-Chef Erich Honecker dann der Bundesregierung über Rechtsanwalt Vogel ein Angebot zukommen. Demnach sollte der Großteil der Familienzusammenführungen, für die die BRD bisher ebenfalls gezahlt hatte, in Zukunft ohne Gegenleistung erfolgen. Kinder und enge Angehörige von ehemaligen Häftlingen, die in den Westen entlassen wurden, durften nun also frei nachziehen. Das sollte jedoch nicht für Ärzte, Ingenieure und andere Akademiker gelten, für die nach wie vor gezahlt werden musste. Außerdem schlug Honecker vor, sich von der bisherigen Kopfgeldpraxis weitgehend zu lösen und stattdessen eine jährliche Pauschale einzuführen.
Umstritten ist, ob die DDR mit gezielten Verhaftungen das »Angebot« steigerte
Die Bundesregierung ließ sich darauf ein, denn der Prozess wurde dadurch deutlich vereinfacht. 1977 kam es schließlich zu einer vollständigen Pauschalisierung. Von da an – bis 1989 – lieferte die Bundesregierung für jeden freigekauften Häftling Waren im Wert von genau 95 847 DM. Die jährlichen Gesamtausgaben der BRD für den Freikauf stiegen in den kommenden Jahren konstant an und erreichten 1984 mit 390 Millionen DM ihren Höhepunkt.
Ausgleich für den »volkswirtschaftlichen Verlust«
Während die BRD bei der Befreiung von politischen Gefangenen offenkundig kein schlechtes Gewissen zu haben brauchte, bedurfte es unter den Verantwortlichen in der DDR gewisser Rechtfertigungsstrategien. Auf Dauer verheimlichen ließ sich das heikle Thema ohnehin nicht. In Schalck-Golodkowskis Memoiren findet sich eine Passage, die verdeutlicht, wie SED-Funktionäre und überzeugte Regimeanhänger das offene Unrecht vor sich und der Weltöffentlichkeit zu entschuldigen versuchten: »Für mich war die DDR der bessere Staat, und ich sah in einem Ausreiseantrag auch einen Akt der Undankbarkeit«, schreibt der einstige KoKo-Leiter in seinen »Deutsch-deutschen Erinnerungen«. »Ich konnte für die, welche die DDR verlassen wollten, kein Verständnis aufbringen. (…) Unter denen, die es in die Bundesrepublik drängte, waren viele gut und teuer ausgebildete Ärzte, Ingenieure, Facharbeiter und andere qualifizierte Werktätige. Jeder Bürger, der über die Grenze ging, stellte für unsere Gesellschaft einen volkswirtschaftlichen Verlust dar.«
In diesem Sinn ließ sich das Lösegeld, das die Bundesrepublik zahlte, als Entschädigung für den »volkswirtschaftlichen Verlust« interpretieren, den die DDR dadurch erlitt, dass die teuer ausgebildeten Fachkräfte nun ihre Produktivität in die BRD einbrachten. Es handelte sich dabei laut Jenkis um ein im Arbeiter-und-Bauern-Staat gängiges Argumentationsmuster.
In den folgenden Jahren entwickelte sich die Praxis des Häftlingsverkaufs in der DDR zu einem geschäftsmäßig betriebenen Routinevorgang. Kein Konsens besteht bis heute in der Geschichtswissenschaft, ob die DDR vorsätzlich mehr Häftlinge »produzierte«, um das »Angebot« zu steigern. Zumindest für das Jahr 1984, in dem es zu einer regelrechten Verhaftungswelle kam, kann dies wohl angenommen werden. In diesem Jahr bot die DDR mehr Häftlinge an, als die BRD zu zahlen bereit war, schreibt Tobias Wunschik in »Honeckers Zuchthaus: Brandenburg-Görden und der politische Strafvollzug der DDR 1949–1989«. Die Wahrscheinlichkeit, als politischer Gefangener freigekauft und in den Westen entlassen zu werden, stieg in den 1980er Jahren auf fast 50 Prozent. Sofern sich der Name eines Gefangenen auf einer Liste der Bundesregierung befand, lag die Wahrscheinlichkeit sogar bei mehr als 80 Prozent. »In Untersuchungshaft genommene ›Staatsfeinde‹, deren Fall im Westen bekannt war und deren Verkauf keine ›Versagungsgründe‹ entgegenstanden, befanden sich bereits mit einem Bein in der Bundesrepublik«, schreibt Wölbern.
Die Prüfung, ob »Versagungsgründe« gegen einen Verkauf sprächen, sollte möglichst schon vor der Urteilsverkündung abgeschlossen sein. Wie Alexander Koch in »Der Häftlingsfreikauf. Eine deutsch-deutsche Beziehungsgeschichte« aufzeigt, hatte sich der Freikauf auch in der DDR längst herumgesprochen, so dass sich manche bewusst für politische Delikte verhaften ließen – in der Hoffnung, so in den Westen zu gelangen. Was vielen wohl nicht bewusst war: In den Gefängnissen der DDR herrschten teilweise unmenschliche Zustände.
Als Zentren des sozialistischen Menschenhandels hatte sich bei den Männern das Zuchthaus Cottbus, bei den Frauen das Gefängnis Hoheneck im Erzgebirge herausgebildet. Die Insassen, die oft in völlig überfüllte Zellen gepfercht wurden, mussten nicht nur Zwangsarbeit leisten, sondern wurden mitunter von grausamen Wärtern, die Spitznamen wie »Roter Terror« trugen, physisch und psychisch misshandelt. Überliefert sind zahlreiche tragische Einzelschicksale, wie das von Werner Greiffendorf, der sich 1978 mit 28 Jahren aus Verzweiflung selbst im Zuchthaus Cottbus verbrannte, weil er nicht von der Bundesrepublik freigekauft wurde.
Nach der Päppelanstalt ging es in den Westen
Diejenigen, die mehr Glück hatten und von der Bundesregierung ausgelöst wurden, gelangten in der Regel, nachdem sie einen Teil ihrer Haftzeit verbüßt hatten, in das größte Untersuchungsgefängnis der DDR nach Karl-Marx-Stadt, dem heutigen Chemnitz. Dort verlebten sie mitunter mehrere Wochen in der Ungewissheit, wann und wie es weitergehen würde. Der Aufenthalt in diesem Drehkreuz des DDR-Menschenhandels, in dem das Essen gut und die Wachen höflich waren, diente nicht zuletzt dazu, die Häftlinge vor ihrer Ausreise noch vorzeigbarer zu machen, schreibt Wölbern. Stasiintern war die Rede von der »Päppelanstalt«. Schließlich wurden die Gefangenen mit dem Bus über die Grenze in das Notaufnahmelager nach Gießen gebracht, wo die meisten das erste Mal einen Fuß auf den Boden der Bundesrepublik setzten und ein neues Leben begannen.
Zwischen 1963 und 1989 gelangten auf diesem Weg rund 33 000 Menschen und damit etwa jeder dritte politische Häftling in der DDR in die Freiheit. Ungefähr 215 000 Kinder und andere Angehörige durften ihnen im Rahmen der Familienzusammenführung folgen. Die Bundesrepublik zahlte in den 26 Jahren, in denen die Praxis des Häftlingsfreikaufs – über alle Regierungswechsel hinweg – andauerte, etwa drei Milliarden DM in Form von Warenlieferungen an den SED-Staat. Seit 1967 ermöglichte sie außerdem gut 200 000 Rumäniendeutschen die Ausreise in die BRD durch die Zahlung von über einer Milliarde DM an das Regime des Diktators Nicolae Ceaușescu.
Und die politische Bilanz? Letztendlich schadete der Verkauf der eigenen Staatsbürger nicht nur dem internationalen Ansehen der DDR, sondern trug auch zu ihrer inneren Zersetzung bei, bilanziert Alexander Koch. Der ungeschminkte Verrat an den eigenen Prinzipien durch die schonungslose Ökonomisierung und Ausbeutung des Menschen wirkte sich einerseits, allen Rechtfertigungsversuchen zum Trotz, demoralisierend auf die Anhänger des Regimes aus und gab andererseits allen Ausreisewilligen Hoffnung. Die eingenommenen Devisen konnten den wirtschaftlichen Zusammenbruch des Staats nicht verhindern, doch sie beschleunigten den moralischen. Die Bundesrepublik wiederum zahlte zwar viel Geld, konnte aber letztlich ihren Anspruch, der einzig rechtmäßige und demokratische deutsche Staat zu sein, untermauern. Sie stand am Ende vor der Weltgeschichte klar als der moralische Sieger da.
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