Hämophilie: Das 3,5-Millionen-Dollar-Medikament
Nachdem die US-amerikanische Aufsichtsbehörde Food and Drug Administration (FDA) Ende November 2022 die erste Gentherapie für die genetisch bedingte Blutgerinnungsstörung Hämophilie B genehmigte, hat Mitte Dezember 2022 auch die Europäische Arzneimittel-Agentur (EMA) die bedingte Zulassung empfohlen. Eine einmalige Behandlung mit dem Präparat Hemgenix des US-Herstellers CSL Behring reicht aus – kostet allerdings 3,5 Millionen US-Dollar, etwa 3,3 Millionen Euro. Damit ist es das derzeit teuerste Medikament der Welt.
Hemgenix sorgt dafür, dass die Leber eines Betroffenen beginnt, fehlende Stoffe für die Blutgerinnung zu produzieren. Ein modifiziertes Virus bringt dazu DNA in die Leberzellen des Empfängers ein. Sie codiert ein an der Blutgerinnung beteiligtes Protein namens Faktor IX, das Menschen mit Hämophilie B nicht herstellen können. Daten aus klinischen Studien deuten darauf hin, dass die einmalige Verabreichung von Hemgenix Menschen mit mittelschwerer bis schwerer Hämophilie B acht Jahre lang und möglicherweise länger vor unkontrollierten Blutungen schützt, die lebensbedrohlich sein können.
Erhebliches Sparpotenzial
CSL Behring hält den Preis des Medikaments für gerechtfertigt. In einer Erklärung teilte das Pharmaunternehmen mit, dass Hemgenix selbst bei Kosten in Höhe von 3,5 Millionen US-Dollar dem US-Gesundheitssystem 5 bis 5,8 Millionen US-Dollar pro behandelter Person einsparen könnte, da es nachweislich die regelmäßigen Injektionen von Faktor IX verringert oder sogar überflüssig macht. Menschen mit Hämophilie B erhalten ein- bis zweimal pro Woche Faktor IX.
»Wie das Leben mit Hämophilie aussieht, hängt davon ab, wo man geboren wird«, sagt Glenn Pierce, Vizepräsident der gemeinnützigen Organisation World Federation of Hemophilia in Montreal, Kanada. »In den USA kostet die Behandlung eines Erwachsenen mit Hämophilie B durchschnittlich 700 000 bis 800 000 Dollar pro Jahr. Der hohe Preis von Hemgenix wird sich in relativ kurzer Zeit amortisieren, vorausgesetzt, dass die Behandlung anhält.«
Die Wissenschaftler befürchten jedoch, dass der Preis in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen nicht bezahlbar wäre. Hier leben die meisten Menschen mit Hämophilie und die Behandlung und Versorgung mit Faktor  IX ist oft unzureichend. »Wenn neue Technologien wie die Gentherapie auf den Markt kommen, können diejenigen, die am meisten davon profitieren würden, am wenigsten dafür bezahlen. Wir dürfen die Mehrheit der Welt nicht zurücklassen«, sagt Pierce. CSL Behring lehnte es ab, den Preis des Medikaments über seine öffentliche Erklärung hinaus zu kommentieren.
Viel versprechende Ergebnisse
Die jüngste klinische Studie mit Hemgenix, an der 54 Personen mit Hämophilie B teilnahmen, ergab eine Verringerung der Anzahl an Vorfällen starker Blutung um 54 Prozent pro Jahr, wobei 94 Prozent der Teilnehmer innerhalb von zwei Jahren nach Erhalt der Einzeldosis jegliche prophylaktische Therapie absetzen konnten. »Die Patienten beginnen sehr schnell damit, Faktor IX zu produzieren …, sieben bis acht Monate nach der einzigen Dosis hatte sich der Faktor-IX-Spiegel bei fast allen Patienten stabilisiert«, sagt Andrew Nash, Chief Scientific Officer von CSL Behring. Selbst die schwächste Reaktion, die in der klinischen Studie auftrat – ein Anstieg des Faktor-IX-Spiegels um zehn Prozent –, war ausreichend, um spontane Blutungen zu verhindern. Nach Verletzungen oder bei größeren Operationen kann es jedoch sein, dass die Patienten eine Auffrischung benötigen. »Wer im Bereich von 10 bis 40 Prozent liegt, kann bei schweren Traumata oder Operationen noch immer in Schwierigkeiten geraten, im Großen und Ganzen aber kann die Person die Hämophilie vergessen«, sagt Edward Tuddenham, beratender Hämatologe am University College London und Mitglied der Forschungsgruppe, die jenen viralen Vektor entwickelt hat, den CSL Behring lizenziert hat. Tuddenham und seine Kollegen konnten in einer achtjährigen Nachfolgestudie, welche auf eine klinische Studie zu einem ähnlichen Medikament für Hämophilie B folgte, zeigen, dass es gute Gründe gibt, Gentherapien als stabile und dauerhafte Behandlung zu betrachten. »Die Zulassung von Hemgenix ist ein wichtiger Meilenstein auf dem Weg zu einer vollständigen Heilung. Es sieht momentan so aus, als würden einige Patienten tatsächlich für viele Jahre geheilt«, sagt Pierce.
Immunreaktionen
Die Aufsehen erregende Genehmigung von FDA und EMA verdeutlicht, welche Schwierigkeiten die Entwicklung von Gentherapien für Hämophilie im Allgemeinen aufwirft. Nur 15 Prozent der Menschen mit Hämophilie haben Hämophilie B. Die meisten haben die A-Variante, welche durch einen Mangel an einem anderen Blutgerinnungsprotein, Faktor VIII, verursacht wird, das von einem anderen Gen codiert wird. Die Suche nach einer wirksamen Gentherapie für Hämophilie A gestaltet sich bisher problematisch, da für eine gute therapeutische Wirkung eine größere Steigerung der Faktor-VIII-Produktion erforderlich ist und einige Teilnehmer an klinischen Studien starke Immunreaktionen auf den viralen Vektor gezeigt haben, der zur Verabreichung des Gens verwendet wird. »Bei Hämophilie A lässt die Wirkung mit der Zeit offenbar nach, und [die Genexpression] hält womöglich nur acht Jahre an«, sagt Michael Makris, der an der University of Sheffield (UK) zu Hämostase und Thrombose forscht. »Sobald man eine adeno-assoziierte virale Gentherapie durchlaufen hat, bildet man Antikörper gegen den [viralen] Vektor, so dass man ihn nicht wiederverwenden kann.«
Am 24. August 2022 genehmigte die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) eine Gentherapie für Hämophilie A von BioMarin Pharmaceutical mit Sitz in San Rafael, Kalifornien. Nachdem der erste Antrag abgelehnt worden war, prüft die FDA nun den nächsten Anlauf von BioMarin. »Die Gentherapie ist zwar aufregend und viel versprechend, sollte aber nicht leichtfertig in Erwägung gezogen werden«, sagt Leonard Valentino, ehemals praktizierender Hämatologe und Geschäftsführer der US National Hemophilia Foundation – einer Hämophilie-Stiftung in New York City. »Wie bei jeder lebensverändernden Entscheidung kann es auch hier positive und negative Auswirkungen geben.«
Dieser Text ist ursprünglich unter dem Titel »Scientists welcome $3.5-million drug – but questions remain« bei »Nature« erschienen und wurde um die Informationen zur EMA-Zulassung ergänzt.
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