Luthers Thesenanschlag: Eine Hammer-Geschichte
Wahrscheinlich verlief der 31. Oktober 1517 ziemlich unspektakulär: Martin Luther, 33, Professor an der Universität Wittenberg und Prediger an der örtlichen Schlosskirche, verbrachte ihn wohl größtenteils in seiner Schreibstube, vor ihm ein Brief, in gelehrtem Latein verfasst. Es quält ihn, hören zu müssen, wie päpstliche Ablassprediger landauf, landab dem Volk gefährlich falsche Vorstellungen machen. "Sobald das Geld im Kasten klingt, die Seele in den Himmel springt!", dichtete der Ablassprediger Johann Tetzel. Das ließen sich viele Zeitgenossen nicht zweimal sagen – und zahlten für den Erlass von Sündenstrafen. Für Kirche und Papst eine lukrative Einnahmequelle.
Aus Sicht Luthers eine Katastrophe. Denn durch keinen noch so teuer erkauften Deal könne der Mensch die Gnade Gottes erlangen, davon ist er überzeugt. Wer nur auf Ablässe vertraut, dem drohe das Allerschlimmste. Darum könne er nicht länger schweigen, schreibt er nun an zwei seiner Vorgesetzten. Noch am Abend unterzeichnet er das Exemplar an Albrecht von Brandenburg, den Erzbischof von Mainz und Magdeburg. Ein weiteres geht an den Bischof von Brandenburg, Hieronymus Schultz. Zum Beleg der theologischen Richtigkeit seiner Kritik legt er ein Blatt mit 95 Thesen bei, wie an einer Universität üblich auf Latein als Disputationsthesen formuliert – als Grundlage einer wissenschaftlichen Diskussion – und den geistlichen Herren zur Kenntnisnahme anempfohlen.
Einzig der Brief an Albrecht ist erhalten. Er befindet sich heute im Stockholmer Reichsarchiv, datiert durch den Vermerk "Aus Wittenberg 1517, am Abend vor Allerheiligen". Das ursprünglich beigelegte Thesenblatt fehlt jedoch. Leider, denn es hätte wertvolle Informationen liefern können, wie es an jenem Tag in Luthers Leben weiterging.
Zwei Informanten
Folgt man der volkstümlichen Überlieferung, verließ Luther doch noch seine Studierstube. Getrieben von seinem Zorn auf die Ablassprediger und die Kirche, nagelte er mit wuchtigen Hammerschlägen sein kurz zuvor verschicktes Thesenpapier auch an die Pforte der Wittenberger Schlosskirche. Zum Zeichen, dass der Ablasshandel verwerflich und falsch ist. Dass sich diejenigen, die ihr Seelenheil erkauft zu haben glauben, in falscher Sicherheit wiegen. Und nicht zuletzt, dass der Reformator nun seinen Kampf gegen das Establishment in aller Öffentlichkeit führen wird.
Jahrhundertelang gab es für fromme Protestanten keinen Grund, an dieser Geschichte zu zweifeln. Für viele Experten hingegen gehört sie inzwischen aus vielerlei Gründen ins Reich der Legenden. Dabei gibt es durchaus handfeste Indizien für ihre Historizität. Den bislang besten Hinweis fanden Wissenschaftler erst 2006 in der Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek in Jena. Er stammt aus der Feder von Luthers treuem Weggefährten Georg Rörer. Dass viele Reden und Predigten Luthers bis heute überliefert sind, ist vor allem dem gebürtigen Deggendorfer zu verdanken. Im Jahr 1522 zum Studieren nach Wittenberg gekommen, etablierte sich der damals 30-Jährige schnell als oberster Protokollant der Reformation. Bei jeder Gelegenheit zeichnete er das Wort Luthers und seiner Mitstreiter auf. So gelangte er in den engeren Kreis der Reformatoren. Luther machte ihn 1525 nicht nur zum Diakon der Wittenberger Stadtkirche, sondern auch zu einem seiner engsten Vertrauten. Rörer stellte die neuesten Dokumente der noch jungen Bewegung zusammen, überarbeitete und veröffentlichte sie und sorgte somit für die Verbreitung der neuen Ideen. Ab 1537 übernahm er diesen Job sogar ganz offiziell im Auftrag des Kurfürsten Albrecht.
"... Und diese hat er öffentlich an der Kirche, die an das Wittenberger Schloss grenzt, am Tag vor dem Allerheiligenfest im Jahr 1517 befestigt"
Philipp Melanchthon
Auf einer der letzten Seiten einer Übersetzung des Neuen Testaments von 1540 vermerkt Rörer: "Am Vorabend des Allerheiligenfestes im Jahre des Herren 1517 sind von Doktor Martin Luther Thesen über den Ablass an die Türen der Wittenberger Kirchen angeschlagen worden." Diese ursprünglich lateinische Notiz ist so unscheinbar, dass sie von der Wissenschaft lange Zeit völlig übersehen wurde. Nun gilt sie als Kronzeuge für den Thesenanschlag. Denn das Buch, in dem sie enthalten ist, diente Rörer, aber auch Luther selbst als Arbeitsexemplar zur Vorbereitung einer Neuauflage, die entweder 1541 oder 1544 erschien. Es liegt also nahe, dass Rörer den Verweis auf den Thesenanschlag noch zu Lebzeiten Luthers vermerkte, da der Reformator 1546 verstarb. Einen Beweis für den Wahrheitsgehalt der Notiz liefert das allerdings nicht. Denn woher Rörer seine Informationen bezog, gibt er hier nicht an. Er selbst jedenfalls war 1517 nicht vor Ort.
Den zweiten Hinweis, der für die ursprüngliche Prominenz des Thesenanschlags verantwortlich war, liefert mit Philipp Melanchthon ein weiterer Protagonist der Reformation. Bis zum Auftauchen der Rörer-Handschrift galt seine Bemerkung als der einzige konkrete Anhaltspunkt. Melanchthon schrieb 1547 im Vorwort des zweiten Bands der von ihm zusammengestellten Werke Luthers: "Luther, vom Eifer der Frömmigkeit brennend, gab die Thesen über den Ablass heraus, die im ersten Band seiner Werke vorliegen. Und diese hat er öffentlich an der Kirche, die an das Wittenberger Schloss grenzt, am Tag vor dem Allerheiligenfest im Jahr 1517 befestigt." Inhaltlich lässt sich daraus nicht viel mehr entnehmen als aus Rörers Notiz, außer dass Melanchthon hier nur eine einzelne Wittenberger Kirche erwähnt. Und auch mit der Glaubwürdigkeit verhält es sich nicht anders. Der 1497 im Kraichgau unter dem Namen Philipp Schwartzerd Geborene tauchte erst im August 1518 in Wittenberg auf – auch er ist also kein Augenzeuge.
Und was sagt eigentlich Luther?
Ein Informant wurde bisher noch nicht herangezogen: nämlich die Hauptperson des Thesenanschlags selbst. In Briefen an Papst Leo X. und an Kurfürst Friedrich den Weisen betont Martin Luther, dass er sich zunächst ausschließlich privat an die Bischöfe gewandt und von ihnen auch eine Antwort erwartet habe. Ein Thesenaushang noch am 31. Oktober wäre somit sehr unwahrscheinlich. Später habe er sich aber durchaus an ein wissenschaftliches Publikum gerichtet: "Daher habe ich ein Disputationszettelchen herausgegeben, in dem ich nur Gelehrte einlud, ob sie vielleicht mit mir debattieren wollten."
Denn genau das bezweckte ein solcher Thesenanschlag. Innerhalb einer Universität war es üblich, Bekanntmachungen an der Kirchentür zu befestigen und sie so den Mitgliedern zukommen zu lassen. Dabei konnte es sich um Organisatorisches handeln, wie etwa die Exmatrikulation eines Studenten, oder eben um wissenschaftliche Thesen, über die man mit den Kollegen diskutieren wollte. Allerdings kam dabei zum einen höchstwahrscheinlich eher der Leimpinsel zum Einsatz als der Hammer, und zum anderen griffen nicht die Aufrufenden zum Werkzeug, sondern Hilfskräfte der Hochschule. Eine solche Vorgehensweise ist umfassend – auch in den Vorschriften der Universität Wittenberg – belegt.
Alles nur Routine
Diese Normalität passt natürlich nicht zum Ereignis, das die Welt vor 500 Jahren auf den Kopf stellte, liefert aber möglicherweise einen Grund dafür, warum so wenige Quellen über den Thesenanschlag berichten: Er war schlicht und einfach zu unspektakulär. Durch diese Routine könnten sogar die wenigen Belege an Beweiskraft verlieren. Der Tübinger Kirchenhistoriker Volker Leppin etwa deutet so die sehr lapidare Aussage des Luther-Sekretärs: "Die Rede von einem Thesenanschlag also entstammt bei Rörer nicht persönlicher Erinnerung an einen Einzelvorgang, sondern der Rekonstruktion des Geschehens auf Grund allgemeiner Regelungen, wie sie den Universitätsstatuten zu entnehmen waren." Der Chronist ging demnach davon aus, dass die Thesen angeschlagen wurden, weil man das eben so machte mit Thesen.
"Daher habe ich ein Disputationszettelchen herausgegeben, in dem ich nur Gelehrte einlud, ob sie vielleicht mit mir debattieren wollten"
Martin Luther
Darüber hinaus legt die Praxis des Thesenanschlags eines nahe: Die einschneidende Wirkung eines revolutionären Akts kann von ihm seinerzeit nicht ausgegangen sein – der Kreis der Leser beschränkte sich fast ausschließlich auf die Universitätsangehörigen. Das einfache Volk war auf eine Übersetzung angewiesen, und selbst die hätten die wenigsten lesen können.
Luthers oben genannter Hinweis, dass er zu einem späteren Zeitpunkt durchaus Gelehrte zu einer Diskussion eingeladen habe, spricht jedoch dafür, dass er seine Thesen tatsächlich in gedruckter Form an die Kirchtüren hat schlagen lassen – nur eben nicht am 31. Oktober, sondern einige Tage oder Wochen später. Sofern er nicht wegen der ungewöhnlichen Umstände auf die Konvention des Anschlags verzichtet und die Einladung zur Debatte auf einem anderen Weg vorgenommen hat. Wie dem auch sei: Eine entsprechende Disputation hat in Wittenberg nie stattgefunden.
So hätte den vielleicht besten Beleg das an die beiden Bischöfe verschickte Thesenpapier selbst geben können – wenn es sich erhalten hätte. Denn sollte es bereits zu diesem Zeitpunkt in gedruckter Form vorgelegen haben, wäre das ein deutliches Indiz dafür, dass der Autor es zur sofortigen Veröffentlichung vorgesehen hatte. Tatsächlich sind sehr frühe Druckfassungen des Plakats bekannt; sie stammen aus dem Jahr 1517, entstanden aber nicht in Wittenberg, sondern in Leipzig, Nürnberg und Basel. Die noch junge Buchdruckerkunst half, die Thesenliste in Windeseile über Europa zu verbreiten. Schon kurze Zeit später lag sogar eine erste Übersetzung vor. Doch auf welchen Tag die Wittenberger Urfassung datierte, die es Wissenschaftlern zufolge ohne Zweifel gegeben haben muss, ist offen. In den Archiven ist nichts davon verzeichnet.
Der "Befreite" wird zum Mythos
Den wütenden Mönch, der mit dem Hammer in der Hand die gesamte Kirche herausfordert, hat es wohl nicht gegeben. Mangelnde Entschlossenheit kann man dem Reformator aber nicht vorwerfen. So unterzeichnet er etwa die Briefe an die Bischöfe zum ersten Mal nicht mit seinem richtigen Namen "Luder", sondern mit "Luther", eine Anspielung auf den griechisch-lateinischen Ausdruck "Eleutherius", der Befreite. Ihm war bewusst, dass er einen Stein ins Rollen brachte, dass seine Kritik die Welt der Christen verändern konnte. Das Verfassen der Thesen und ihr Versand an die Bischöfe sind damit unumwunden ein bedeutendes Ereignis der Geschichte und der Anfangspunkt der Reformation. Um ihre Idee auch über seinen Initiator hinaus am Leben zu halten, musste Luther jedoch zum Mythos werden. Und dafür brauchte es einfache Geschichten, wirkungsvolle Bilder, klare Botschaften. Das zeigt sich schon an winzigen Details. Melanchthon hat möglicherweise nach Luthers Tod nicht aus Nachlässigkeit die "Wittenberger Kirchen", wie es bei Rörer heißt, auf die eine Schlosskirche reduziert. Denn so ließ sich aus einem gewöhnlichen Vorgang ein singuläres Ereignis machen – und schließlich eine Legende.
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