Hammerschmiede: In einem Allgäu vor unserer Zeit
Um Marilyn steht es gar nicht gut. Diagnose: Schädelbruch. Geschickt schmieren die beiden Männer eine weiße Pampe um Kopf und Schnauze des Tiers. Sonderlich beeilen müssen sie sich allerdings nicht: Das Hirschferkel hat seinen letzten Atemzug bereits vor 11,4 Millionen Jahren getan. Trotzdem ist es bei den beiden in guten, weiß verschmierten Händen. Sie werden das Fossil ohne weitere Zwischenfälle aus dem Erdreich bergen. Noch kennen sie das Geschlecht des Tieres nicht. Daher auch der Name »Marilyn«: Ob nach der Sängerin Marilyn Monroe oder dem Sänger Marilyn Manson zeigt sich vielleicht später im Labor.
Spitznamen sind den beiden Paläontologen ohnehin nicht so wichtig. Aber ganz ohne solche Kürzel – das würde die Kommunikation doch sehr erschweren. Und das wäre schade. Denn in der Tongrube Hammerschmiede bei Kaufbeuren im Allgäu kamen schon so viele Fossilien zum Vorschein, über die es sich zu unterhalten lohnt. Und keineswegs nur jenes mit Namen Udo.
Wenn der Gips fest ist, wird Panagiotis Kampouridis das Hirschferkel aus der Erde holen. Am anderen Ende der Tongrube röhren die Bagger, schaufeln den Ton kubikmeterweise weg, doch Kampouridis greift zu Filigranwerkzeug. Der erfahrene Paläontologe von der Universität Tübingen und der Bayerischen Staatssammlung für Paläontologie und Geologie in München hat das Fossil selbst entdeckt und kümmert sich nun um die Bergung.
Der andere der beiden Gipser heißt Thomas Lechner, er ist der Grabungsleiter in der Hammerschmiede. Mit seiner Kollegin Madelaine Böhme führt er das Team von Fachleuten und Freiwilligen, das sich hier seit mehr als einem Jahrzehnt durch eine der reichsten Fundstellen von Wirbeltierfossilien der Welt gräbt.
Ihr wissenschaftliches Hauptquartier liegt im 130 Kilometer entfernten Tübingen. Am dortigen Senckenberg-Zentrum für Humanevolution und Paläoökologie entstand auch jene Veröffentlichung, die das Allgäuer Naturdenkmal mit einem Schlag bekannt machte. Und mit ihm eben jenes Tier, das wissenschaftlich korrekt Danuvius guggenmosi heißt. Eben jener Udo, an dem hier keiner vorbeikommt.
Auch das Gespräch mit Lechner landet schnell beim elfeinhalb Millionen Jahre alten Menschenaffen. Er ist der Star unter den 15 000 Fossilien der Hammerschmiede, denn der Primat lief bereits auf zwei Beinen. Davon sind die Experten des Teams jedenfalls fest überzeugt. Bislang dachte man, der aufrechte Gang sei in Afrika entstanden und das Jahrmillionen später. Warum die Tübinger Gruppe bereits in Udo einen Zweibeiner erkennt, schilderte sie in einer Fachveröffentlichung im Magazin »Nature«. Die Studie vom November 2019 wurde weltweit aufgegriffen, auch wenn längst nicht alle Fachleute die Interpretation des Tübinger Teams teilen.
Nashörner, Affen und immer wieder Schildkröten
Wie aber ist dieser Menschenaffe überhaupt in die Allgäuer Tongrube gekommen? Und wie passen das Hirschferkel Marilyn, wie passen die vielen Schnappschildkröten und Waldantilopen dazu?
Die graue Tonlandschaft, in der ihre Fossilien auftauchen, lässt kaum noch erahnen, wie hier einst das Leben gebrummt haben muss. In der Zeit vor 11,67 bis 11,42 Millionen Jahren durchzogen die verzweigten Arme eines Flusses die Gegend. Beiderseits erstreckten sich Feuchtbiotope, Nashörner und Ur-Elefanten weideten an seinem Ufer.
Das Wasser änderte fortwährend seinen Lauf, warf immer neue Schleifen und grub dabei die Ufer ab. Anders als andere Flüsse, die vom Alpenraum kommen, transportierte seine Strömung aber kein Geröll, sondern feinen Schlick. Vielleicht entsprang das Gewässer gar nicht in den Bergen, sondern noch im Alpenvorland. Dem feinen Material verdankt die Fossillagerstätte jedenfalls ihre Existenz: Die Knochen von Tieren, die hier lebten oder die ins Wasser gestürzt waren, sanken in der trägen Strömung in die Tiefe und wurden bald vom Schlick bedeckt.
Wenn Panagiotis Kampouridis heutzutage die grazile Elle eines jungen Hirschferkels findet, weiß er, dass die Chance gut ist, auch noch den Rest des Kadavers zu finden – ein Stück weit flussaufwärts. Nur weiß wegen der gewundenen Geschichte eines solchen Gewässers niemand, wo flussaufwärts eigentlich liegt. »Wir müssen die ganze Fläche abgraben, in der sich das Gewässer einst bewegt hat«, sagt Grabungsleiter Lechner.
Dass die Hammerschmiede ein lohnendes Revier für Fossiliensucher ist, zeigte sich schon in den frühen 1970er Jahren. Helmut Mayr von der Bayerischen Staatssammlung für Paläontologie und Geologie in München stieß damals auf einige hundert Zähne von kleinen Säugetieren. Der in der Nachbarschaft lebende Hobbyforscher Sigulf Guggenmos fand sogar einen Stoßzahn und vier Backenzähne eines Ur-Elefanten. Danach schwand für Jahrzehnte das Interesse der Fachwelt.
Die Hammerschmiede wird wiederentdeckt
Bis ins Jahr 2011. Damals entdeckte die Senckenberg-Forscherin Böhme per Zufall einen Nashornzahn und bald auch die Gesteinsschicht, aus der er stammte. Darin: noch viel mehr Fossilien aus der Zeit vor rund elfeinhalb Millionen Jahren.
Seither kommt sie jedes Jahr wieder in die Grube. Anfangs waren sie als drei- oder vierköpfiges Team unterwegs, inzwischen sind in den Sommerwochen meist 10 bis 25 Personen vor Ort. Und weil es bei Weitem nicht genug Forschungspersonal gibt, hilft inzwischen ein Stamm von mehr als 80 Freiwilligen mit. Nach einer kurzen Einführung und Ausbildung packen sie eine oder zwei Wochen im Jahr mit an, altgediente Hobbyausgräber auch mal vier oder fünf.
Wer den Forschungsteams nur einmal über die Schulter schauen will, kann das in Zukunft zumindest aus der Ferne von einer Besucherplattform aus tun. Schaukästen sollen über die Welt vor elfeinhalb Millionen Jahren informieren. Name des Projekts, mit dem die Gemeinde Pforzen die touristische Verwertung auf den Weg bringen will: »Urzeit-Diorama-Ostallgäu«, kurz »UDO« – natürlich.
Dort erfahren die Menschen dann auch, dass der unter der Erde begrabene Fluss von einst heute immer noch Wasser führt. Es fließt in der Tiefe durch die Poren im Sand. Anfangs saß das Ausgrabungsteam daher regelmäßig im Wasser. Inzwischen haben die Bagger das unterirdische Flussbett durchtrennt, sein Wasser sickert jetzt aus der Wand der Grube. Immerhin kann die Tübinger Forschungsgruppe jetzt flussabwärts im Trockenen arbeiten. Es sei denn, über Pforzen schüttet es wieder einmal wie aus Kübeln. Dann verwandelt sich der staubige und trockene Ton in eine grundlos wirkende Schlammlandschaft. Wer nur einen Schritt von den ausgetretenen Pfaden abweicht, sinkt leicht bis zu den Knien oder gar bis zur Hüfte ein. Aus eigener Kraft kann man sich kaum aus dieser Pampe befreien. Gefährliche Forschung gibt es also auch im Allgäu.
An vielen Sommertagen kann man diese Brisanz hier allenfalls erahnen. Frisch gestärkt von einem ausgedehnten Frühstück trifft sich das Team auf dem Parkplatz des Hotels, in dem es seit Jahren übernachtet. Die meisten noch erkennbar in den Klamotten vom Vortag. Der Staub, die Hitze und, bei Regen, der Matsch – das sind die Prüfungen, die bestehen muss, wer in der Hammerschmiede Fossilien finden will. Im Kleinbus der Uni sind Sitze und Fußräume mit groben Decken behängt. Die kann man wenigstens waschen.
Auf der kurzen und staubigen Schotterstraße zur Tongrube haben die LKW Vorfahrt. Von den lautstarken Baggern und Kettenfahrzeugen hält ohnehin jeder Abstand. Sie graben die bald 20 Meter nach oben führenden Wände der Grube direkt an der Basis an. Bis die Abbruchkanten unter ihrem eigenen Gewicht abreißen. Ein Spektakel – aber eines, das man besser aus der Ferne betrachtet.
Feingefühl in der Spatenspitze
Die jetzt mit Warnweste und Sicherheitsschuhen ausstaffierten Teammitglieder treffen sich im Bürozelt und schnappen sich ihre Ausgrabungswerkzeuge: ein kurioses Best-of von Baustelle, Arztpraxis und Schlachthof. Spachtel, Skalpell, Ausbeinmesser und vieles mehr. Was sich bewährt, wird genutzt.
Vier weiße Partyzelte spenden an den Sommertagen Schatten. In der Grube kann es brutal heiß werden. 39 Grad Celsius habe »der Andy« letztens gemessen, heißt es. Das war im Hitzesommer 2022.
Der »Andy«, das ist Andreas Matzke. Er oder seine Kollegin Melanie Lex sind auch gefragt, wenn die obersten Schichten eines neuen Grabungsareals abgetragen werden müssen. Dann müssen die erfahrenen Paläontologinnen und Paläontologen des Teams ran. Denn diese Schichten sind meist recht fundarm, sie mit Bürste und Skalpell zu durchforsten, wäre Zeitverschwendung. Es braucht Menschen mit feinfühligem Spatenstich. Sie können das Fossil in der Tiefe mit dem Stahl erspüren. So wie Lechner, der vor Kurzem auf diese Weise einen Schildkrötenpanzer entdeckte. Erst wenn die Deckschicht abgeräumt ist, nimmt das Heer der Freiwilligen seinen Dienst auf.
Sie knien, hocken oder liegen vor einer niedrigen Wand der Schichten, die von den Baggerschaufeln übrig gelassen wurden, und schaben Tonstücke von Scheckkartengröße ab. Stoßen ihre Messer auf einen Widerstand, ist wahrscheinlich eine der zahllosen Muscheln schuld, sie werden meist verworfen. Bei Knochen beginnt hingegen eine feine Ziselierarbeit. Sorgfältig wird der anhängende Ton vom Knochen geschabt. Bei den interessantesten Funden unter Mithilfe der Profis, am Tag vielleicht ein Dutzend Mal, einmal waren es sogar mehr als 150 Fossilien. Die Hammerschmiede ist eben eine sehr ergiebige Lagerstätte. Jeder Fund wird begutachtet, im Gelände markiert und katalogisiert. Lechner musste sich ein zeitsparendes System ausdenken.
Neigt sich der Grabungstag dem Ende entgegen, schrauben Melanie Lex und ihre Kollegin Janina Francke den Tachymeter auf sein stabiles Dreibein. Das Messgerät erfasst die Lage aller Funde in drei Dimensionen und verknüpft die Daten mit der Fundnummer. Wo sich welches Fossil befand, könnte den Fachleuten später bei der Auswertung entscheidende Informationen liefern.
Das Grübeln über den Funden verlegen Lechner und Kampouridis, die beide fast ein wenig nebenher noch mit ihrer Doktorarbeit beschäftigt sind, auf die kühlere Jahreszeit: Spätestens ab Ende September verwandelt Niederschlag die Hammerschmiede in eine Schlammlandschaft. Erst ab Mai schafft es die Sonne wieder, den Ton auszutrocknen.
Mit Säure gegen sechs Tonnen Siebmaterial
Einen Wechsel zwischen trockenen und nassen Jahreszeiten gab es offensichtlich auch, als in der Zeit vor 11,42 bis 11,67 Millionen Jahren der Fluss die Kadaver in sein Schlammbett hüllte. In den feuchten Zeiten bildeten sich Auenlandschaften mit weitläufigen Sümpfen und Überschwemmungsbereichen – eine Schildkrötenwelt. Tatsächlich holt ein Freiwilliger schon wieder die Hilfe der Profis, weil er auf einen Schildkrötenpanzer gestoßen ist. Später tauchen die Knochen einer Münchner Waldantilope auf. Ist ein Fossil zu fragil, um es zu bergen, kommt Sekundenkleber zum Einsatz. Er dringt tief in den porösen Knochen ein, klebt aber nicht am feuchten Ton fest.
Alles wird hier abgesucht. Auch die Inhalte der Eimer mit Abraum, deren Füllung – Zähnchen, Schlangenwirbel, Knochensplitter – nachher wichtig für die Statistik ist. Anfangs siebten Lechner und Team noch per Hand, inzwischen haben sie Rosie dafür. Unermüdlich filtert sie durch, was an Material bei ihr landet. Zwei Eimer pro Minute? Kein Problem.
So eine Rosie kann man nicht kaufen, so eine Rosie muss man sich bauen: Als Grabungsleiter Thomas Lechner zwei Wochen Pause hatte, suchte er sich Teile für einen Bauplan zusammen, den er sich bei Goldsuchern in Alaska abgeschaut hatte. Rosies Herzstück ist der Druckausgleichsbehälter einer ausgedienten Heizungsanlage. In die Fenster dieser feuerroten Eisentrommel setzte der Paläontologe Siebgitter mit einer Maschenweite von einem und fünf Millimetern. Hinzu kamen noch eine Autobatterie, ein Scheibenwischermotor und eine Motorradkette. Fertig war die Rotationssiebanlage, kurz Rosie. Im Inneren spritzen Düsen Wasser auf das eingefüllte Material und lassen so Schlamm und Schlick durch die Siebmaschen abfließen.
Rund sechs Tonnen Material fallen in einer Grabungssaison in der ein bis fünf Millimeter großen Siebfraktion an. Das ist für eine gründliche Untersuchung immer noch viel zu viel. Also wird dieses Konzentrat in Säcke verpackt und nach Tübingen gefahren. Dort wird die Masse im Labor mit Essigsäure behandelt, die den Kalk in den Schalen alter Muscheln und anderer Tiere zersetzt. Übrig bleibt rund ein Prozent oder 60 Kilogramm, die aus Quarzkörnchen, Holz und Knochen bestehen. In Handarbeit werden dann unter einem Binokular aus einem einzigen Kilogramm dieser Mischung über 5000 Funde gefischt. Dazu kommen die Fossilien aus der Fraktion mit den mehr als fünf Millimeter großen Teilchen, aus der Madelaine Böhme, Thomas Lechner, Andy Matzke und andere Profis oder auch erfahrene Freiwillige noch in der Hammerschmiede mit bloßem Auge winzige Knochen und Zähne auslesen.
Aufrecht durch das Astgewirr
Wie wichtig diese penible Arbeit ist, demonstrierte Rosie schon an ihren ersten Tagen in der Hammerschmiede, als sie zwei Zähne von Udos Artgenossen aus dem Aushub fischte. Sie ergänzten die bereits bekannten, zum Teil vollständig erhaltenen Arm- und Beinknochen, Wirbel, Finger- und Zehenknochen von mindestens vier verschiedenen Individuen.
Arme, Hände und die abgespreizten großen Zehen verraten einen besonderen Kletterstil der etwa ein Meter großen und vielleicht 20 oder 30 Kilogramm schweren Menschenaffen: Danuvius streckte auf den Ästen offenbar seine Gliedmaßen durch und hielt sie nicht gekrümmt. Gleichzeitig sehen Böhme und ihre Kollegen, darunter auch der Anthropologe David Begin von der University of Toronto, in der Wirbelsäule von Danuvius Hinweise darauf, dass sich die Tiere immer wieder auch in die Senkrechte begaben und auf ihren beiden Hinterbeinen liefen.
Allerdings haben die kleinen Affen aus dem Voralpenraum ihren aufrechten Gang sehr wahrscheinlich nicht direkt an Homo sapiens weitervererbt. Der Fund zeigt stattdessen, dass einige wichtigen Bestandteile der anatomischen Sonderausstattung »Zweibeiner« anscheinend bereits sehr früh unter Menschenaffen kursierten. Deutlich früher jedenfalls, als Fachleute dies bisher annahmen.
Aus wissenschaftlicher Sicht habe die Hammerschmiede aber noch viel mehr zu bieten, findet Madelaine Böhme: »Schließlich ist sie hier in Deutschland eine der bedeutendsten Fundstätten der Paläontologie aus den letzten Jahrzehnten.« Udos mediale Prominenz half natürlich dabei, die Hammerschmiede als Naturdenkmal dauerhaft zu schützen. »Das war ein langer und anstrengender Prozess, der mit der tatkräftigen Unterstützung der Gemeinde und des Landkreises gelang«, sagt Thomas Lechner. Seither hat die Wissenschaft in der Tongrube Vorrang vor kommerziellen Interessen.
»Auf den gerade einmal fünf Hektar der Hammerschmiede können wir eine größere Artenvielfalt nachweisen, als sie heutzutage der Nationalpark Bayerischer Wald hat«, sagt Böhme. Bis Ende 2022 hat das Team die Überreste von 145 Tierarten entdeckt. Welse, Hechte und Karpfen, Riesensalamander, Wasserfrösche, Doppelschleichen und Eidechsen, Nagetiere, Hasen, Elefanten, Nashörner und Waldpferde stehen genauso wie Hirsche, Moschustiere und Säbelzahnkatzen auf der Fundliste der Hammerschmiede.
Und immer wieder Schildkröten. Im Deutschland des 21. Jahrhundert ist mit der Europäischen Sumpfschildkröte nur eine einzige Art heimisch. Allein in der Hammerschmiede kamen neun Arten zum Vorschein.
Zudem bot sie einer außerordentlichen Vielfalt kleiner Räuber eine Heimat. Im Juli 2022 publizierten Böhme und Team im Fachmagazin »PLOS One« eine Studie, in der sie mindestens 20 Arten kleiner Raubtiere nachwiesen, die vor 11,5 Millionen Jahren im heutigen Allgäu zu Hause waren: Unter den vier Arten aus der Verwandtschaft der Marder war mit Circamustela hartmanni ein der Wissenschaft bisher unbekanntes Tier. Zwei Arten gehörten zu den Vielfraßen, vier zu den Ottern, drei zu den Stinktieren, zwei zu den Roten oder Zwerg-Pandas und drei zu den Ginsterkatzen, während einige weitere aus Gruppen von kleinen Raubtieren stammen, von denen heute keine Arten mehr leben.
Baumgänse und Riesenkraniche
Ein anderes langes Skelettteil erwies sich als Teil des Beins einer Gans, die sich mit ihren Krallen offenbar an Ästen festhielt. Über die neue Gattung Allgoviachen tortonica publizierten Böhme, Lechner und ihr Kollege, der Senckenberg-Vogelexperte Gerald Mayr, im Fachmagazin »Historical Biology«. Es war nicht der erste Vogel, mit dem das Dreierteam die Fachwelt überraschte. Bereits im August 2020 hatten sie im »Journal of Ornithology« vom Schädel eines Kranichs berichtet, der mit einer Höhe von etwa 175 Zentimetern von den Krallen bis zum Scheitel vielen heutigen Menschen auf Augenhöhe begegnet wäre.
Nicht nur die großen Einzelfunde erzählen vom Ökosystem der Flusslandschaft. So hat sich Thomas Lechner die Zähne von Bibern genauer angeschaut, die Rosie ausgesiebt hat, und festgestellt, dass sich an den Sitten der Nager nicht viel geändert hat. Damals wie heute vertrieben die Alten ihren etwa dreijährigen Nachwuchs, der dann mit den noch unbesetzten Bächen und Nebenarmen vorliebnehmen musste. Solche kleineren Gewässer sind viel unattraktiver für die Biber, weil sie erst mühsam einen Damm errichten müssen. Entsprechend fanden sich die kaum gebrauchten Beißer der Jungen oft dort, wo ein kleinerer Bach seine Sedimente hinterlassen hat.
Immer wieder aber findet das Team auch deutliche Unterschiede zu heute. Die kaum hasengroßen Hirschferkel leben gegenwärtig im tropischen Asien und Afrika, wo sich die Geschlechter nur wenig voneinander unterscheiden. Vor 11,5 Millionen Jahren aber waren diese Tiere auch im Allgäu zu Hause – und mit der Größe eines Schäferhunds deutlich mächtiger. Funde aus der Hammerschmiede zeigten außerdem, dass die Männchen damals mit einem besonderen Kopfschmuck aufwarteten. Josephina Hartung und Madelaine Böhme entdeckten an den Schädeln der Männchen ausgeprägte Überaugenwülste. Ähnlich wie bei den verwandten heutigen Giraffen, Hirschen und Antilopen könnten sie dazu gedient haben, Weibchen und Nebenbuhler zu beeindrucken.
Ist Marylins Schädel eines Tages vom Gips befreit, werden sich vielleicht auch die bislang unbekannten Wülste präsentieren. Vielleicht war er (oder sie) aber auch noch zu jung dafür.
Wenn bald Feierabend ist in der Hammerschmiede, wenn die Freiwilligen die Messer wieder wegstecken und Rosie das Rotationssieben einstellt, können alle sicher sein: Das letzte Geheimnis ist dem Ton noch nicht entlockt. Und mit jedem neuen Knöchelchen werden sie unser Bild dieser feuchtwarmen Welt in einem fremdartigen Allgäu ein bisschen weiter vervollständigen.
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