Hangrutsche in den Alpen: Wie man einen Berg aufhält
Das Dörfchen Brienz ist der Katastrophe noch einmal entkommen: 1,2 Millionen Tonnen herabstürzendes Gestein stoppten kurz vor den ersten Häusern. Die Medien hatten das sich anbahnende Unglück im Mai und Juni 2023 teils minuziös verfolgt. Doch was in ihren Berichten oft unterging: Der eigentliche Brienzer Erdrutsch ist weit größer, der ganze Hang, auf dem der Ort steht, bewegt sich mit ein bis zwei Metern pro Jahr Richtung Tal. Doch noch ist Brienz nicht verloren. 100 Kilometer südlich schützt ein ebenso einfaches wie radikales Verfahren ein anderes Alpendorf vor dem Abgleiten.
An einem heißen Sommertag im Valle di Campo, einem Seitental des Maggiatals im Schweizer Kanton Tessin, öffnet Thomas Schiesser eine Blechtür zur Unterwelt. Draußen zirpen Heuschrecken, Schmetterlinge flattern, drinnen ist es dunkel, muffig und es gluckert. Die Tür führt in einen Stollen. Es ist kühl, um die 15 Grad Celsius. Der Kreisoberförster dreht an einem Schalter, es klingt, als ob sich der Rotor eines Hubschraubers in Bewegung setzt. »Die Ventilationsanlage«, sagt Schiesser. »Wir müssen erst Luft reinlassen, bevor wir reingehen, es kann sonst gefährlich werden.«
Schiesser zeigt heute mit Stefano Daverio, dem zuständigen Geologen des Kantons, mit welchen Maßnahmen oberhalb von hier ein Erdrutsch, größer als in Brienz, gestoppt wurde – allem voran mit einem Entwässerungsstollen. In den 1980ern wurde das Problem für die Weiler Campo und Cimalmotto evident. Damals rutschte der Berg, auf dem sie gebaut sind, mit bis zu einem Meter pro Jahr talwärts.
Wie in Brienz wussten die Bewohner in Campo und Cimalmotto wohl schon seit Jahrhunderten, dass sie auf unruhiger Erde gebaut hatten. Nur warum sie sich bewegte, das war lange unklar. Man vermutete, dass der Rutsch etwas mit dem Bergbach Rovana zu tun hat, der unterhalb des steilen Abhangs fließt und sich nach der Schneeschmelze und nach Starkregen in ein durchaus reißendes Gewässer verwandelt. Es war Albert Heim, einer der Väter der Schweizer Geologie, der 1897 die Theorie aufstellte, dass Wasser im Inneren des Hangs den Rutsch verursache. Heute gilt diese Hypothese als gesichert – sowohl für die großen Hangbewegungen im Tessiner Valle di Campo als auch in Brienz.
Auch Brienz bekommt seinen Tunnel
Gerade hat die Bevölkerung der Bündner Berggemeinde Albula, zu der Brienz gehört, dafür gestimmt, dass ein Tunnel wie im Valle di Campo auch hier gebaut werden soll. Eine Zustimmung von Kanton und Bund steht noch aus, ist aber wahrscheinlich. Denn Schlagzeilen machte im Bündner Bergdorf zwar zuletzt der schnelle Schuttrutsch von oberhalb des Orts. Die Schäden im Dorf – Risse in den Häusern, schiefe Wände – rühren jedoch bislang vor allem daher, dass es weiterhin auf einer großen Scholle Richtung Albula-Tal rutscht. Und die Hoffnung besteht, dass mit dem Stollen nicht nur der Teil der Rutschung, auf der sich das Dorf befindet, abgebremst werden kann, sondern auch künftige große Stürze von oberhalb in Richtung Brienz. Denn im Untergrund hängen die Rutschungen von unter- und oberhalb des Dorfs zusammen.
Inzwischen haben die Ventilatoren eine Viertelstunde lang Frischluft in den Stollen geblasen. Thomas Schiesser und Stefano Daverio setzen ihre Schutzhelme auf und treten ein. Alle 20 Meter beleuchtet eine Neonröhre den dunklen Stollen, durch dessen Querschnitt ein Kleinwagen passen würde. Der Stollen wurde 1,8 Kilometer weit in den Berg gesprengt und gebohrt, um das Wasser im Hang abfließen zu lassen. An der rechten Seite verläuft eine etwa 30 Zentimeter breite Rinne, in der das dem Berg entzogene Wasser, 20 Liter pro Sekunde, nach draußen strömt. Es ist das Gleitmittel, das 800 Millionen Kubikmeter des Berghangs ins Rutschen bringen könnte, wenn es hier nicht abgeleitet würde.
Auf den ersten Blick unterscheiden sich die Rutschhänge im Tessiner Maggiatal und in Brienz deutlich. Im Valle di Campo verläuft die abrutschende Talflanke relativ flach, in Brienz hingegen im oberen Teil zunächst steil, um dann beim Dorf abrupt zu verflachen. Dieser Geländeknick spiegelt sich auch in der unterirdischen Gleitfläche. »In dieser Knickzone wird in Brienz Kalk- und Dolomitgestein stark zerbrochen«, erklärt Simon Löw, emeritierter Professor für Ingenieurgeologie an der ETH Zürich, der beide Rutschungen untersucht hat. In den entstehenden großen Poren bildet sich ein Wasserreservoir. »Dieses Wasser drückt nach unten«, erklärt Löw. »Es staut sich aber im Untergrund, weil die Schichten darunter weitgehend wasserundurchlässig sind.« In einer lehmigen Sedimentschicht bildet sich deshalb eine Gleitschicht, der so genannte Rutschhorizont. Er selbst ist bereits kaum wasserdurchlässig, wird aber zusätzlich von einer noch weniger durchlässigen Schieferschicht nach unten abgedichtet.
Geologisch ist die Situation in Campo ganz anders. Hier besteht die Rutschung selbst aus Schiefer- und Gneisplatten. Bereits am Straßenrand kann man sehen, dass diese schief aufgeschichtet sind – und zwar in einem Winkel, der recht exakt dem der Hangneigung entspricht. Wie in Brienz gibt es auch hier tief im Untergrund eine Schicht aus zerriebenem Gestein, die kaum wasserdurchlässig ist. Unter hohem Druck staut sich das Wasser und lässt die Schiefer- und Gneisplatten gen Tal gleiten.
Der Druck muss weg
Stefano Daverio führt weiter durch den Stollen. Von der Decke hängen jetzt kleine Tropfsteine, die aus Beton tropfendes Wasser hinterlassen hat. »Entscheidend, um den Rutsch zu stoppen, ist nicht die Menge des abgelassenen Wassers, sondern die Verringerung des Wasserdrucks«, erklärt Stefano Daverio. Je niedriger der Druck in den Gesteinsporen, desto größer die Reibung in der Gleitfläche – und desto niedriger die Geschwindigkeit, mit der sich der Berg bewegt.
Wo genau sich die rutschige Schicht im Berghang befindet, untersuchten Geologen in den 1980er Jahren mit senkrechten Tiefbohrungen von der Oberfläche aus. Fotos von damals zeigen, dass das Wasser aus den Löchern hervorsprudelte, so sehr stand es unter Druck. »Zuerst hoffte man, dass ein Stollen schon ausreichen werde, um genügend Wasser aus dem Berg zu holen und den Rutsch zu stoppen«, sagt Stefano Daverio, »aber das war nicht der Fall.« Es brauchte zusätzliche Drainagebohrungen, wie sich noch zeigen sollte. Es geht weiter, immer tiefer in den Berg hinein. An Wänden und Decken des Stollens liegt der gebrochene Fels größtenteils blank, nur selten wurde er mit Beton überzogen. An einer Stelle sind zwei dicke Metallstifte, Gebirgsanker, mittlerweile verrostet, ins Gestein getrieben, um dieses zu halten. Die Sicherheitsmaßnahmen erfüllen nur den Mindeststandard: Normalerweise gibt es hier unten keine Menschen.
Der Stollen wurde unterhalb des Rutschhorizonts in den Hang getrieben, in das feste Gestein. Keinesfalls durfte dabei die instabile Schicht angegraben werden. »Nicht zu nah zum Rutschhorizont, um die Sicherheit zu gewährleisten, und nicht zu weit weg, um den Berg effizient entwässern zu können«, sagt Daverio. Im Schnitt rund 30 Meter Abstand hält der Stollen zum Rutschhorizont.
Dann bleibt Daverio stehen, zeigt auf einen Schlauch, der aus der Decke kommt. »Hier wurde die Gleitmasse von unten angebohrt.« Aus dem armdicken Schlauch strömt etwa so viel Wasser wie aus einem geöffneten Wasserhahn und fließt in die Rinne am Boden. »An 23 solcher Stellen wurde nach oben gebohrt, um Wasser abzulassen und den Druck zu verringern.«
Lehm erschwert die Entwässerung
In Brienz ist die Situation ähnlich. Dort haben Arbeiter zunächst einen Sondierstollen in den Hang getrieben. Er ist 635 Meter lang und befindet sich ebenfalls 30 Meter unter dem Rutschhorizont. Auch hier erreichte man mit dem Stollen allein keine ausreichende Entwässerung, auch hier entschied man sich deshalb, zusätzliche Drainagebohrungen nach oben zu machen. »Dies ist in Brienz allerdings besonders schwierig«, sagt Andreas Huwiler, Geologe vom Amt für Wald und Naturgefahren des Kantons Graubünden in Chur. »Die Gleitfläche befindet sich in einem 10 bis 15 Meter mächtigen Rutschhorizont aus sehr zähem Lehm, der die Tendenz hat, das Bohrloch immer wieder zu verschließen.« Zudem bewegt sich der Rutschhorizont noch mit anderthalb Metern pro Jahr, dadurch können Bohrlöcher auseinandergerissen und somit verschlossen werden.
Momentan gebe es deshalb nur zwei Bohrlöcher in die Rutschmasse, aber weitere seien in Planung. Doch auch Löcher, die nicht bis in die Rutschmasse gehen, sondern bloß in den Fels darunter, helfen bereits. »Dieses Gestein enthält fast kein Wasser«, sagt Huwiler. »Wenn wir also nur wenig Wasser herausholen, senkt das den Druck bereits enorm.« Denn dann bieten die einzigen Poren, die von Wasser gefüllt werden können, wieder Platz. Der Druck sei im Gestein durch die Bohrungen bereits um fünf Bar reduziert worden – das entspricht dem einer 50 Meter hohen Wassersäule. »Wir sind sehr zuversichtlich, dass wir das Rutschen damit im Lauf des Sommers bremsen können«, sagt Huwiler.
Um zu erkennen, dass die Bohrungen Wirkung zeigen, hilft den Geologen und Ingenieuren, dass sich Druckveränderungen im Gestein sehr langsam ausbreiten. Bis ein neues Gleichgewicht hergestellt ist, dauert es Monate. »In den vergangenen beiden Jahren hat sich die Geschwindigkeit des Rutsches halbiert – aber nur im Westen, wo wir den Sondierstollen gebaut haben«, sagt Huwiler. »Im Osten hat sich die Geschwindigkeit des Rutsches nicht verändert – und in der Vergangenheit hat sich die gesamte Rutschfläche immer gleich schnell bewegt.« Das spricht dafür, dass die Bohrungen die Rutschung bereits verlangsamen.
Im Valle di Campo führt Stefano Daverio weiter durch den Stollen. Aus dem Fels vor ihm ragt ein Metallrohr, an dessen Ende eine kreisrunde Anzeige eingeschraubt ist, ein Druckmesser. »Neben der Durchflussmenge der Abflüsse messen wir ständig den Wasserdruck im Gestein, um zu prüfen, ob es Schwankungen gibt«, erklärt Stefano Daverio. »Wenn der Druck ansteigt, zum Beispiel weil ein Loch verstopft ist, können wir neue Löcher bohren.« Bislang aber, so zeigte gerade erst wieder die jährliche Überprüfung, funktioniert der Stollen einwandfrei. Die Betriebskosten sind gering, etwa 100 000 Euro pro Jahr, inklusive aller Überprüfungen. Es wirkt, als habe sich die Investition gelohnt, 13 Millionen kostete der Drainagestollen Anfang der 1990er Jahre. In Brienz wurden bereits 13 Millionen nur für den Sondierstollen ausgegeben, weitere 40 Millionen sind notwendig, um daraus einen funktionierenden Entwässerungsbau zu machen.
Ein Hangrutsch könnte zur Katastrophe führen
Das Ziel der Millionenausgabe Anfang der 1990er Jahre war es nicht allein, eine Bedrohung für die lokale Bevölkerung abzuwenden. Die Hangrutschung rund um Campo und Cimalmotto stellte eine Gefahr für das gesamte darunter liegende Maggiatal dar.
Das Horrorszenario von damals: ein massiver Erdrutsch, während die unterhalb des Hangs verlaufende Rovana besonders viel Wasser führt. Dann hätte das abrutschende Gestein schlimmstenfalls eine Art Talsperre gebildet – bis der Damm durch den Druck des Stausees gebrochen wäre und eine Welle der Verwüstung Richtung Locarno am Lago Maggiore geschickt hätte.
Die unterirdische Hangentwässerung ist aber nicht die einzige Maßnahme, mit der die Schweizer Behörden ein solches Desaster abwenden wollen. Blickt man vom Ausgang des Drainagestollens nach oben in Richtung der gegenüberliegenden Talseite, sieht man etwa 200 Meter oberhalb eine Öffnung in der Felswand. Hier endet ein weiterer Tunnel, der als eine Art Bypass für die Rovana wirkt.
Im Moment fällt nur wenig Wasser die Felswand hinab, weil es seit Wochen trocken ist. Doch nach einem Starkregen oder während der Schneeschmelze donnern hier regelrechte Wassermassen herunter. Bei Hochwasser fließt mehr Wasser durch den Tunnel als durch das eigentlich Flussbett, bis zu 2000 Liter pro Sekunde. Der Durchmesser seiner Röhre ist viermal so groß wie der des Drainagestollens.
Dasselbe Szenario droht auch anderswo
Durch den Bau dieser beiden Tunnels ist es fast unmöglich geworden, dass sich im Valle di Campo ein künstlicher See bilden und die darunter gelegenen Gebiete bedrohen könnte. Solche Baumaßnahmen könnten in Zukunft noch häufiger gefragt sein. Denn der Klimawandel verursacht neue Rutschungen, etwa in vergletscherten Gebieten. So zieht sich zum Beispiel der Große Aletschgletscher jedes Jahr infolge der Erderwärmung um etwa 50 Meter zurück. Dadurch reduziert sich auch der Druck des Eises auf die angrenzende Bergflanke der Moosfluh, und diese rutscht immer stärker ab. Ein ähnlicher Prozess, wie er wohl auch in Brienz und Campo vor 13 000 bis 14 000 Jahren stattgefunden hat, als zum Ende der letzten Eiszeit die Gletscher schmolzen. »Im Jahr 2016 haben sich bei der Moosfluh mehrere Gleitschichten entwickelt«, sagt Löw. »Die Moosfluh stellt heute ein Anfangsstadium einer Rutschung dar, die noch keine mächtige Gleitschicht besitzt.« Brienz und Campo Vallemaggia seien dagegen ein spätes Entwicklungsstadium einer alten Rutschung – mit mächtiger Gleitschicht, da sich die Rutschungen schon viele hundert Meter talabwärts bewegt haben.
Das Schmelzwasser des großen Aletschgletschers fließt über den Fluss Massa ab, der ein paar Kilometer später zur Energiegewinnung zum Gibidum-See aufgestaut wird. »Man kann sich ein Extremszenario vorstellen, bei dem ein Felssturz von der Moosfluh die Massa aufstaut, ein solcher Damm bricht, der Stausee unterhalb aber zu klein ist, um die Wassermassen aufzuhalten«, sagt Simon Löw. So könnten auch Siedlungen unterhalb gefährdet sein. Tunnelsysteme wie im Vallemaggia könnten vorbeugen, falls die Gefahr als real erkannt würde.
Im Valle di Campo fährt Stefano Daverio nun seinen Dienstwagen das Tal aufwärts, riesige Baumkronen, mächtige Stämme, alle Schattierungen von Grün – man fühlt sich an Bergregenwälder in den Tropen erinnert. Dann wird das Gelände offener, er hält den Wagen an. In wenigen Kilometern Entfernung ist der steile Abhang zu sehen, wo sich durch den Rutsch früher oft Gestein löste und ins Tal donnerte. »Als ich vor 24 Jahren hierherkam, war der Hang kahl und grau, nur Schutt«, sagt Kreisoberförster Thomas Schiesser. Seitdem sich der Hang oberhalb kaum noch bewegt, hat der Bewuchs stark zugenommen. Nur drei graue Zungen aus Fels und Geröll sind zwischen dem Grün noch zu sehen.
Eine Viertelstunde Fahrt weiter talaufwärts, im Weiler Cimalmotto, steht ein Ferienhaus nur 20 Meter entfernt von der einstigen Abbruchkante. Die Häuschen im Ort sind hübsch hergerichtet, Risse oder schiefe Wände, wie sie in Brienz häufig zu sehen sind, kann man kaum entdecken. Nur in den Wänden der Kirche finden sich ein paar zugegipste Wunden des einstigen Rutsches – zwischen 1892 und 1995 bewegte sie sich 30 Meter Richtung Tal. Doch seitdem der Stollen in den Berg getrieben wurde, sind es nur noch wenige Millimeter pro Jahr. Die Straße hinunter hört man Jauchzen und Schreien – Kinder beschießen sich mit Wasserpistolen. Dieses kleine Dorf scheint gerettet. Ein weiteres in Graubünden könnte folgen.
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