Hirnforschung: Strom der Gedanken
An einem strahlenden Sommertag, dem 6. Juli 1924, wurde in Jena das erste Hirnstrommuster an einem menschlichen Gehirn registriert. Damit feiert eine Methode nunmehr ihren 100. Geburtstag, die aus der modernen Psychologie, Neurologie und Hirnforschung nicht mehr wegzudenken ist. Man benutzt sie inzwischen millionenfach, um Epilepsieformen und Anfallsherde zu identifizieren, die Narkosetiefe während Operationen zu kontrollieren oder um die Verarbeitung unterschwelliger (unbewusster) Wahrnehmungsreize nachzuvollziehen. Auch in der Schlaf- und Aufmerksamkeitsforschung ist das Elektroenzephalogramm (EEG) absoluter Standard geworden. Überhaupt gilt die Summenaktivität größerer neuronaler Zellverbände, die sich an der Schädeloberfläche als schwache elektrische Potenzialschwankungen aufzeichnen lassen, den sichersten, weil schnellsten Aufschluss über jegliche neuronale Aktivität, die mit geistigen Prozessen einhergeht.
Das erste EEG der Welt stammte vom Gehirn eines gewissen Carl Seidel, einem 18-jährigen Patienten an der Universitäts-Nervenklinik in Jena, wie Johannes Lemke und Kollegen in einem im Februar erschienenen Artikel rekonstruierten. Die Messung erfolgte, mangels ausreichend sensibler Elektroden, allerdings nicht auf der Kopfhaut, sondern direkt an der Großhirnrinde. Ehe man dem jungen Mann operativ einen Tumor aus dem schmerzunempfindlichen Hirngewebe entfernte, nutzte der Klinikleiter Hans Berger Seidels frei gelegte Hirnoberfläche, um seine bis dato an nur Versuchstieren gemachten Messungen nun auch einmal beim Menschen vorzunehmen.
Berger war nicht der Erste, der elektrische Aktivität des Denkorgans aufzeichnete. Bereits 1875 war dies erstmals dem Briten Richard Caton (1842-1926) bei Kaninchen und Affen gelungen. Was jedoch bis zu Bergers bahnbrechenden Arbeiten in Fachkreisen für Irritationen sorgte, war das unerklärlich scheinende Phänomen, dass das Gehirn nicht bloß auf Stimulation etwa mit Sinnesreizen elektrisch reagierte. Es zeigte vielmehr permanent und mit unterschiedlichen Rhythmen spontane, »intrinsische« Aktivität.
Die erste EEG-Messung erfolgte nicht auf der Kopfhaut, sondern direkt an der Großhirnrinde
Nicht wenige von Bergers Zeitgenossen vermuteten dahinter ein messtechnisches Artefakt, so auch der Neurophysiologe und spätere Nobelpreisträger Edgar Douglas Adrian (1899-1977). Dieser schlug, beeindruckt von Bergers Weitsicht, später vor, die EEG-Muster offiziell als »Berger-Wellen« zu bezeichnen. Doch Berger selbst lehnte dies ab, und man führte Mitte der 1930er Jahre stattdessen die bis heute gebräuchlichen Bezeichnungen nach dem griechischen Alphabet ein – Alpha-, Beta-, Gammawellen und so weiter.
Auch Berger, vom Temperament her ein stiller, akribischer Arbeiter, misstraute zunächst den Ausschlägen seiner EEG-Messapparatur. In seinem Tagebuch notierte er an jenem historischen 6. Juli vor 100 Jahren nüchtern: »Heute Versuche (…) mit Rindenströmen zweifelhaft, bei intellektuellen Leistungen wohl positive Ergebnisse, aber Galvanometer nicht empfindlich genug!« Jahrelang hatte er zunächst versucht, mit diversen anderen Methoden Parameter zu erheben, die verlässlich Auskunft über die geistige Aktivität geben konnten, darunter der Hirndruck, die Durchblutung und Temperaturschwankungen. Alle Versuche jedoch scheiterten mehr oder weniger deutlich an technischen Hürden.
»Schon in meiner späten Gymnasialzeit habe ich mich für den Zusammenhang zwischen körperlichen und geistigen Vorgängen ganz besonders interessiert.« So beginnt Bergers berühmter Fachartikel »Über das Elektrenkephalogramm des menschlichen Gehirns« von 1929, in dem er seine 1924 durchgeführten Messungen endlich zusammenfasste. Sage und schreibe fünf Jahre zögerte er mit der Veröffentlichung.
Der akribische Forscher Berger war von der Realität der Telepathie überzeugt
Der unter seinen Mitarbeitern für seine beinah pathologische Pedanterie gefürchtete Berger war einerseits ein notorischer Zweifler, andererseits aber auch ein Mann mit Hang zum Übersinnlichen. 19-Jährig überlebte er nur knapp einen schweren Reitunfall, als seine Schwester viele Kilometer entfernt die Eltern beunruhigt verständigte, sie habe das Gefühl, dem Bruder sei irgendetwas zugestoßen. Seit dieser erstaunlichen Koinzidenz war Berger von der Realität der Telepathie überzeugt.
Nachdem er im Oktober 1938 emeritiert worden war und an einem Privatsanatorium im Thüringer Wald praktizierte, plante er, den physischen Grundlagen der Gedankenwanderung auf den Grund zu gehen – mittels EEG. In einem Aufsatz von 1940 schrieb er: »Zu den immer noch umstrittenen parapsychologischen Erscheinungen gehört die echte Gedankenübertragung und doch muss sie meiner Meinung nach auch von der Wissenschaft als Tatsache anerkannt werden.« Aber weil die Industrie längst auf die von den Nazis forcierte Waffenproduktion umgestellt hatte, gelang es Berger nicht mehr, die für seine Versuche erforderlichen, hochsensiblen Geräte zu bekommen.
Zu den dunklen Seiten seiner Laufbahn zählt Bergers Engagement am so genannten Erbgesundheitsgericht. Nachdem die NS-Regierung im Sommer 1933, weniger Monate nach der so genannten Machtergreifung, ein Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses erlassen hatten, war Berger als Gutachter daran beteiligt, Beschwerden gegen die vielfach verordneten Zwangssterilisierungen von Patienten abzuweisen. Die Zahl solcher Gewaltmaßnahmen ging allein in Jena schnell in die Tausende. Bis zu seinem Ruhestand, als Berger auf eigenen Wunsch auch aus dem gerichtlichen Gutachteramt entlassen wurde, war der Neurologe tatkräftig an der Umsetzung der nationalsozialistischen Eugenik beteiligt.
Erst in jüngerer Zeit nahm man Bergers Verstrickungen in die NS-Medizin zum Anlass, seinen Namen von öffentlichen Einrichtungen zu entfernen. Die Hans Berger-Klinik, wie die Jenaer Neurologie seit 1956 zu seinen Ehren hieß, wurde im Mai 2022 umbenannt. Auch der einstige Hans Berger-Preis der Deutschen Gesellschaft für klinische Neurophysiologie (DGKN) heißt seit 2021 schlicht DGKN-Verdienstmedaille. Berger trat zwar nie in die NSDAP ein, war allerdings »förderndes Mitglied« der SS sowie in der Deutschnationalen Volkspartei aktiv.
Bergers Gemütszustand verdüsterte sich mit Kriegsausbruch zusehends. Er klagte über Schlafstörungen und Erschöpfung, erlitt im Frühjahr 1941 einen Herzinfarkt. Am 1. Juni 1941 verübte er, vermutlich schwer depressiv, in seinem Krankenzimmer in der Jenaer Klinik Suizid, indem er sich erhängte. Hätte er den Krieg überlebt, wäre Berger nach Ansicht viele Fachkollegen wohl ein sicherer Anwärter auf den Nobelpreis für Medizin oder Physiologie gewesen.
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