Hans Egede: Der irrige Weg des Missionars auf Grönland
Das nun war der Moment, dem er jahrelang entgegengefiebert hatte. Hochstimmung mochte dennoch nicht aufkommen. Eher schon eine Art Seelenzustand in Moll. Fast zwei Monate war der Dreimaster »Haabet« (zu Deutsch: Hoffnung) auf See gewesen, hatte sich in den letzten vier Wochen durch Treibeis, Sturm und Graupelschauer gekämpft. Jetzt, auf der letzten Strecke vor der Küste, tauchten plötzlich »Boote mit wilden Männern« auf, die das Schiff bis zum Abend begleiteten. »Ihr erster Anblick kam mir sehr miserabel vor. Möge Gott sich ihrer gnädig erbarmen.« So begann Hans Egedes Bekanntschaft mit seinem künftigen Wirkungskreis.
Es war der 3. Juli 1721. Egede war 35 Jahre alt, hatte eine Frau, zwei Söhne und zwei Töchter. Er hätte das beschauliche Dasein eines norwegischen Landpfarrers führen können. Dass es ihn stattdessen mit Familie nach Grönland verschlug, war die späte Folge einer Jahrzehnte zurückliegenden Lektüre, genauer gesagt, der Erinnerung daran.
Egede selbst hat die Episode geschildert, die sich im Oktober 1708 zutrug. Er hatte gerade eine Pfarrstelle auf den Lofoten angetreten, einer kargen und windigen Inselgruppe vor der norwegischen Nordküste. Während eines Abendspaziergangs im Stockdunkel, so Egede, habe er sich erinnert, vor langer Zeit gelesen zu haben, dass es in Grönland »Christen samt Kirchen und Klöstern gibt, von denen ich aber von jenen, die dorthin auf Walfang fuhren, nichts habe erfahren können«. Die Frage war: Wie ging es diesen Christen jetzt? Waren sie mittlerweile vom Glauben abgefallen? Hielten sie am überkommenen Katholizismus fest? Sollte man sie nicht darüber aufklären, dass in Europa eine Reformation stattgefunden hatte? Und war das nicht eine Aufgabe für ihn selbst, den Pfarrer Egede? Sein Entschluss stand fest: »Ich meinte, besonders dazu verpflichtet zu sein, weil sie sowohl Christen wie auch norwegischer Herkunft sind und ihr Land unter Norwegens Krone liegt.«
Als Erik der Rote nach Grönland kam
Die skandinavische Besiedlung Grönlands im frühen Mittelalter überliefern isländische Sagas, spätere nordeuropäische Chronisten und archäologische Funde. Die Saga nennt als Koloniegründer den Isländer Erik, nach seiner Bartfarbe »der Rote« genannt (um 950–1003). Im späten 10. Jahrhundert musste er Island wegen Totschlags verlassen. Nach Wikingerart sammelte er eine Hand voll Männer und Schiffe, stach in See und erreichte eine Küste im Süden des heutigen Grönland, wo er sich mit seinen Gefährten festsetzte. Drei Jahre lang erkundete Erik die Gegend. Dann durfte er seine Zeit im Exil beenden. Er kehrte nach Island zurück, um weitere Kolonisten zu werben.
Zustatten kam ihm ein Phänomen, das heute als mittelalterliche Klimaanomalie bekannt ist. Zwischen dem 10. und dem 14. Jahrhundert lagen zumindest in Teilen des nordatlantischen Raums die durchschnittlichen Jahrestemperaturen um ein bis zwei Grad höher als zuvor und auch in der Zeit danach. Erik und seine Reisegesellschaft fanden in Grönland einen eisfreien Küstensaum, breit genug, um dort Weidewirtschaft zu betreiben. Der Name, den er der Insel gab, »grünes Land«, zeugte dennoch mehr vom PR-Talent Eriks des Roten als von der Realität vor Ort. »Er meinte, die Leute würden eher Lust bekommen, sich dort niederzulassen, wenn es einen so schönen Namen habe«, heißt es in der Saga.
So setzten sich isländische Kolonisten an zwei Stellen der südwestlichen Küste Grönlands fest. Unweit der Inselsüdspitze entstand die Ostsiedlung, altnordisch »Eystribyggd«, etwa 500 Kilometer weiter nördlich an der Stelle der heutigen grönländischen Hauptstadt Nuuk die Westsiedlung, »Vestribyggd«. Das Christentum erreichte die »Grænlendingar«, wie sie im damaligen skandinavischen Sprachgebrauch hießen, um das Jahr 1000. Seit dem frühen 12. Jahrhundert residierten in der Ostsiedlung die Bischöfe von Gardar. Mit Norwegen bestand eine regelmäßige Verbindung über See. Um 1300 erreichten die skandinavischen Kolonien den Gipfel ihrer Entwicklung. Die Ostsiedlung zählte 190 bis 220 Hofstellen, zwölf Kirchen und zwei Klöster. Die Westsiedlung 80 bis 90 Hofstellen und vier Kirchen. Bis zu 6000 Menschen sollen damals in beiden Siedlungskernen gelebt haben.
Egedes Informationen waren jahrhundertealt
Vermutlich in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts sind die »Grænlendingar« dann unter ungeklärten Umständen aus der Geschichte verschwunden. Der Klimawandel mag dazu beigetragen haben, der die Temperaturen sinken und den Eisschild wieder anwachsen ließ, sowie auch das Vordringen der Inuit aus dem Landesinneren. Egede hatte seine Kenntnisse aus einem 1632 posthum erschienenen Werk des Historikers und Geistlichen Peder Claussøn Friis (1545–1614) unter dem Titel »Beschreibung Norwegens«. Zu diesem Zeitpunkt gab es auf Grönland längst keine Nachfahren der Wikinger mehr. Friis selbst war auch nie dort gewesen, sondern zitierte aus dem »Königsspiegel«, dem Werk eines anonymen norwegischen Autors aus der Mitte des 13. Jahrhunderts. Was diesem zu Ohren gekommen war, war damals immerhin noch aktuell gewesen.
Das Thema ließ Egede jedenfalls seit 1708 nicht mehr los. Er zog Erkundigungen bei seinem Schwager in Bergen ein, der Grönland aus eigener Anschauung kannte, erfuhr aber von diesem auch nicht mehr, als dass dort zwischen dem 64. und 74. Grad nördlicher Breite wilde Völker und Menschen zu finden seien. Im Juli 1710 richtete er eine Eingabe an den König in Kopenhagen, der damals in Personalunion auch über Norwegen herrschte. Aus dem Schriftsatz geht hervor, dass er nicht nur ein Missionierungs-, sondern von Anfang an auch ein Kolonisierungsprojekt im Sinn hatte. Er wies Frederik IV. auf den machtpolitischen Gewinn hin, der von der wirtschaftlichen Erschließung Grönlands zu erhoffen sei. Andere europäische Staaten seien dort schon am Start, warnte Egede. Als Träger der Kolonie dachte er sich eine Handelsgesellschaft, vergleichbar der britischen Hudson Bay Company in Nordamerika oder der Vereinigten Ostindien-Kompanie der Niederlande.
Egede quittierte 1718 seine Pfarrstelle auf den Lofoten und zog nach Kopenhagen, um sein Anliegen persönlich zu betreiben. Als sich 1721 nach zwei Jahrzehnten ein Ende des Nordischen Kriegs abzeichnete, in dem Dänemark an der Seite Polens und Russlands gegen Schweden gestanden hatte, war es endlich so weit. Auf Geheiß des Königs gründete sich in Norwegen die Bergen-Kompanie, die sich dem Grönland-Handel widmen sollte. Sie erwarb die »Haabet«, die am 12. Mai 1721 mit mehr als 40 Menschen an Bord auf die Reise ging.
Statt Nachfahren der Wikinger nur Ruinen
Egede und seine Begleiter landeten in der Gegend, wo einst die Westsiedlung gestanden hatte. Dass er dort nur Inuit und keine stammverwandten Skandinavier traf, verwunderte ihn zunächst nicht. Er hatte ohnehin angenommen, dass die Westsiedlung untergegangen war, meinte indes, dass die Ostsiedlung noch bestand. Allerdings äußerten Einheimische auf seine Fragen nach dem Verbleib der alten Wikingernachfahren nur Mutmaßungen und meinten, hier und da seien noch Ruinen ihrer Behausungen zu sehen.
Am 9. August 1723 brach Egede zu einer Seereise entlang der Küste auf, um nach der alten Ostsiedlung zu suchen, und erreichte am 28. August, nachdem er unterwegs mehrfach auf Reste verfallener Häuser gestoßen war, einen Fjord, an dessen Ende eine stattliche Kirchenruine stand. Die anderthalb Meter dicken Mauern ragten stellenweise bis in die ursprüngliche Traufhöhe von sechs Metern empor. Egede hatte die um 1300 errichtete Kirche von Hvalsey entdeckt. Es ist bis heute das am besten erhaltene Bauwerk der alten Skandinavier auf Grönland. Eine Hochzeit, die hier 1408 stattfand, zählt zu den letzten dokumentierten Ereignissen ihrer Geschichte.
Zusehends indes gewann die Sorge um das Seelenheil der Inuit für Egede die Oberhand über den Traum der Wiederentdeckung einer altnordischen Siedlerkultur. Was in erster Linie die Herausforderung mit sich brachte, die christliche Botschaft in die Vorstellungswelt der Zielgruppe zu integrieren. Wie etwa übersetzt man das Vaterunser für Menschen, die kein Getreide, mithin auch kein Brot kennen? Egede entschied sich für die Formulierung: »Unseren täglichen Seehund gib uns heute.« Sein 1741 erschienener grönländischer Katechismus stand am Anfang der Tradition einer Schrift- und Bildungskultur in der Inuit-Sprache. Dabei gab es manches an der Lebensführung der Einheimischen, was den frommen Protestanten irritierte. Bei einem Besuch in einem von der Wärme der Tranlichter völlig überheizten Haus traf er auf 45 Bewohner, die allesamt, »auch die Frauensleute«, oben ohne herumliefen: »Als ich sie aber bat, sich anzuziehen, waren sie sofort dazu bereit.«
Der Pfarrer sah Schläge und Strafe als probate Mittel für die Missionierung
Überhaupt machten die Inuit keinen ungünstigen Eindruck auf Egede: »Diese Menschen sind nicht von heftiger oder böser Natur, so dass sie sich nicht leicht zu etwas Bösem reizen lassen. (…) Der Umgang von Männern und Frauen ist gleichermaßen höflich und züchtig. (…) Aber so erfreulich es ist, ihren Umgang zu beobachten, so unleidlich ist doch der Dreck und Gestank, der in ihren Häusern von Tran und ähnlichem kommt.« Auf Augenhöhe mit den Adressaten seines Bekehrungseifers sah sich Egede also keineswegs. Er inszenierte sich ihnen gegenüber als Träger besonderer spiritueller Vollmachten, in Konkurrenz zu den einheimischen Schamanen. Er verstand sich als eine Art Erzieher. »Nichts kann sie besser zur Vernunft bringen als Schläge und Strafe« – auch das war eine seiner Missionsmaximen.
Seit 1922 erhebt sich sein Denkmal auf einer Anhöhe oberhalb von Nuuk, wo Egede auch eine erste Siedlung gründete. Seine historische Rolle, der Geschichte Grönlands eine neue Richtung gegeben und dem Land den Weg in die Moderne gewiesen zu haben, ist unstrittig. Auch dass die autonome Insel bis heute mit Dänemark staatsrechtlich verbunden ist, zählt zu den Folgen seines Wirkens. Zweifelhaft erscheint freilich, wie solche Leistungen zu bewerten sind. So fand sich im Sommer 2020 Egedes Standbild mit roter Farbe beschmiert. Samt der Parole: »Decolonize!« – zu Deutsch »Entkolonisiert!«. Gemeint ist damit: Löst Grönland aus seiner Abhängigkeit zum kolonialen Mutterland.
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