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News: Hat der Flächentarifvertrag eine Zukunft?

Während Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände noch um den Flächentarifvertrag ringen, sind in der betrieblichen Praxis längst neue Modelle entstanden: Betriebsvereinbarungen, Firmentarife oder lokale Bündnisse für Arbeit zwischen Geschäftsleitung und Betriebsräten verändern das bisherige System der Arbeitsregulation. Einer neuen Studie zufolge steht das System der Tarifpartnerschaft dennoch nicht vor dem Abgrund.
Während sich vor allem in Baden-Württemberg der Anteil klassischer Industriebranchen an der Gesamtwirtschaft verringert (1995 hatten nur noch 19 Prozent der Arbeitnehmer überwiegend herstellende Tätigkeiten; 1982: 28 Prozent), entstehen in neuen Wirtschaftszweigen – etwa im boomenden Multimedia-Bereich – neue Jobs. Sie werden vom Flächentarifvertrag oft nicht erfaßt – die jungen Unternehmer treten erst gar nicht in die Arbeitgeberverbände, die (oft hochqualifizierten) Angestellten nicht in die Gewerkschaften ein. Sie regeln ihre Arbeitsbeziehungen zunehmend individuell. Ist das oft als "Modell Deutschland" beschworene System der Tarifpartnerschaft am Ende?

Der Zwischenbericht einer Studie der Akademie für Technikfolgenabschätzung in Baden-Württemberg (Stuttgart) stellt einen gegenteiligen Trend fest: Die meisten Unternehmen der Kernbranchen des Landes (Fahrzeugbau, Maschinenbau, Elektroindustrie) setzen mit den Gewerkschaften auch zukünftig darauf, etwa Arbeitszeit, Qualifizierung und Entgelt weiter kollektiv – also tarifvertraglich – zu regeln. Dieses "Kollektivmodell" rüttelt grundsätzlich nicht am herkömmlichen Flächentarifvertrag, verlangt aber seine Flexibilisierung.

Danach soll der Tarifvertrag nur noch wenige Eckwerte als Rahmen für betriebsindividuelle Regelungen festlegen. Bereits jetzt haben die Tarifparteien Regelungskompetenz auf die betriebliche Ebene verlagert: So wurde zum Beispiel im Tarifvertrag zur Beschäftigungssicherung vereinbart, daß Betriebsräte und Geschäftsleitungen vor Ort die Absenkung der Arbeitszeit ohne Lohnausgleich beschließen können, wenn die wirtschaftliche Lage des Unternehmens dies erfordert. Diese Entwicklung und veränderte Organisationsformen (Gruppenarbeit, Zielvereinbarungen) stellen auch neue Anforderungen an die Betriebsratsarbeit. Zunehmend sind Betriebsräte nicht mehr nur bei der betrieblichen Konfliktregulierung, sondern im Co-Management gefordert. Wie die Betriebsräte baden-württembergischer Unternehmen ihre Interessenvertretung auf die veränderte Situation einstellen, dokumentiert ein gesonderter Bericht der Akademie.

Die Untersuchung für Baden- Württemberg beruht auf Expertengesprächen mit Repräsentanten von Arbeitgeberverbänden, Gewerkschaften und Unternehmen (darunter Automobilindustrie und Zulieferer, Maschinenbau und Elektrotechnik, Multimedia, Softwareentwicklung, Informations- und Kommunikationstechnik). Dabei lassen sich drei idealtypische Beziehungsmuster zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern feststellen: Neben dem "Kollektivmodell" hat sich eine von den Wissenschaftlern als "Unternehmensmodell" bezeichnete Variante etabliert: Es steht für Betriebe, die ganz oder teilweise aus dem Flächentarifvertrag ausscheiden. Dazu zählen Firmen im Fertigungs- und Montagebereich, die viele ungelernte Kräfte beschäftigen und unter hohem Wettbewerbsdruck durch ausländische Konkurrenten stehen. Sie kritisieren am Flächentarifvertrag zu hohe Lohn- und Lohnnebenkosten und zu geringe Arbeitszeiten. Eine andere Gruppe von Betrieben, die den Flächentarifvertrag verläßt, sind Anbieter hochqualifizierter Dienstleistungen. Bei IBM etwa verlagerte sich der Tätigkeitsschwerpunkt von der Produktion zu Forschung und Entwicklung, Beratung, Management und Ausbildung – neue Aufgaben, deren Voraussetzungen (flexiblere Arbeitszeiten, an individueller Leistung und Unternehmenserfolg beteiligte Bezahlung) mit dem traditionellen Flächentarifvertrag schwer zu regeln sind. Bei den Beschäftigten, so die Studie der Akademie, stößt die Aufgabe der Tarifbindung nicht auf Widerspruch, sondern eher auf Zustimmung: Viele hochqualifizierte Angestellte sind an gewerkschaftlicher Interessenvertretung nicht interessiert und unterlaufen gültige Arbeitszeitregelungen, indem sie Überstunden nicht aufschreiben etc.

In neu gegründeten Unternehmen der Wachstumsbranchen (Software, Hardware, Meßtechnik, Telekommunikation, Biotechnologie) schließlich wird die Arbeit meist nur noch durch individuelle Verträge geregelt – der Flächentarifvertrag spielt nicht einmal als Rahmen für betriebliche Regelungen eine Rolle. Die Unternehmen dieses "Individualmodells" gehören nicht den Arbeitgeberverbänden an.

Auch den Gewerkschaften ist es bisher nur ausnahmsweise gelungen, in diesen Unternehmen Fuß zu fassen. Der Akademikeranteil in solchen Firmen liegt über 50 Prozent, zuweilen sogar bei 90 Prozent. Die hochqualifizierten Angestellten vertreten ihre Interessen selbst, sind nicht gewerkschaftlich organisiert und verzichten meistens auf die Wahl eines Betriebsrates. Kreative Prozesse stehen im Vordergrund der Arbeit, die vielfach projektartig organisiert ist. Den Bedürfnissen dieses neuen Angestellten-Typs ("self-developer") trägt das Management Rechnung, indem es Freiräume gewährt, Kontrollen (etwa die Erfassung der Arbeitszeit) abbaut und mit Zielvereinbarungen führt.

Die Zukunft des Flächentarifvertrags, so das Ergebnis der Untersuchung, ist dennoch offen. Solange Branchen wie Multimedia oder Softwareentwicklung wirtschaftlich prosperieren, werden sie zwar kaum unter dem schützenden Dach des Flächentarifvertrags Zuflucht suchen. Andererseits gewähren Flächentarifverträge, sofern sie flexible Elemente enthalten, nach wie vor für einen bestimmten Zeitraum Planungssicherheit – und sparen den Unternehmen kostenintensive Verhandlungen auf Betriebsebene. Fazit der Stuttgarter Wissenschaftler: Auch wenn sich Inhalte und Regelungstiefe ändern – die konsensorientierte Verhandlung zwischen Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften wird Bestand haben. Das Modell Deutschland steht zwar auf dem Prüfstand, aber die Chancen stehen gut, daß es die Prüfung besteht, so das Resumee der Studie.

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