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Quantentheorie: Hat die Quantenwelt ein Größenlimit?

Fundamentaler Test der Quantentheorie mit Distanzrekord: Mit Hilfe von Neutrino-Oszillationen können Forscher den möglichen Spielraum makrorealistischer Theorien weiter einschränken.
Schrödingers Katze

Von unseren Katzen wissen wir es: Sie sind entweder tot oder lebendig. Die Quantenwelt kennt jedoch eigenartige Überlagerungszustände: Ein Atom kann sich etwa an mehreren Orten zugleich befinden. Erst bei einer Ortsmessung legt es sich auf einen der beiden Orte fest. Erwin Schrödinger, einer der Begründer der Quantentheorie, hat dieses seltsame Verhalten mit seinem später "Schrödingers Katze" genannten Gedankenexperiment illustriert. Das in einer hermetisch abgeriegelten Box eingesperrte Tier könnte zugleich sowohl tot als auch lebendig sein, solange niemand misst, sprich nachsieht.

Diese Diskrepanz zwischen Quantenwelt und unserer makroskopischen Alltagsrealität hat seit den Anfangstagen der Quantenphysik für Kontroversen gesorgt. Denn es ist nicht immer klar, wo die Quantenwelt anfängt und wo sie aufhört. Alle Materie besteht aus Atomen. Einzelne Atome können Überlagerungszustände annehmen, ein Tisch hingegen nicht. Einige Theoretiker suchen – in Anlehnung an Einsteins Kritik an der Quantentheorie – nach möglichen Alternativen und führten in den letzten Jahrzehnten auch zahlreiche Experimente durch. Am Ende haben sie jedoch stets die Quantentheorie bestätigt und den Spielraum für alternative Theorien deutlich eingeschränkt.

Aber: Diese Experimente geschahen meist auf Grundlage der so genannten bellschen Ungleichung und behandelten Korrelationen zwischen zwei räumlich getrennten Systemen zur gleichen Zeit. Eine andere Möglichkeit, die Natur auf ihren Quantencharakter zu prüfen, haben die Theoretiker Anthony James Leggett und Anupam Garg im Jahr 1985 mit ihrer Leggett-Garg-Ungleichung entwickelt.

"Die Leggett-Garg-Ungleichung ist formal ähnlich wie die bellsche Ungleichung aufgebaut", sagt Joseph Formaggio vom Massachusetts Institute of Technology. "Die bellsche Ungleichung behandelt aber üblicherweise zwei Teilchen, während die Leggett-Garg-Ungleichung die zeitliche Entwicklung eines einzelnen Systems beinhaltet."

"Das wohl erste Experiment, das Neutrino-Oszillationen einem Leggett-Garg-Test unterzieht"George Knee

Joseph Formaggio und seine Kollegen haben sich nun Neutrino-Oszillationen zu Nutze gemacht, um diese Ungleichung über eine neue Rekorddistanz zu testen. Die Neutrinos stammen aus Kernreaktionen, die die Forscher im Teilchenbeschleuniger des Fermilab in Chicago auslösen, indem sie hochenergetische Protonen auf Graphit schießen. Zwei Detektoren dienen dann dem Nachweis der Neutrinos: Der erste steht einen knappen Kilometer hinter dem Erzeugungsort der Teilchen, der zweite in 735 Kilometer Entfernung. Diese Strecke durchwandern die Neutrinos, die kaum eine Wechselwirkung mit Materie eingehen, schnurgerade durch den Fels der Erdkruste.

Das Experiment am Fermilab mit Namen MINOS (Main injector neutrino oscillation search) dient eigentlich der Untersuchung von Neutrino-Oszillationen, eignet sich aber auch sehr gut zur Überprüfung der Leggett-Garg-Ungleichung. Denn es gibt drei Arten von Neutrinos, die sich während ihres Flugs ineinander umwandeln können: Aus einem Myon-Neutrino kann ein Elektron- oder ein Tau-Neutrino werden. Das ist ein typisches Quantenverhalten: Neutrinos befinden sich immer in einem Überlagerungszustand ihrer drei Typen und oszillieren ständig zwischen diesen hin und her.

"Dieses Experiment ist wohl das erste, das solche Neutrino-Oszillationen einem Leggett-Garg-Test unterzieht", sagt George Knee von der University of Warwick, der an der Studie nicht beteiligt war. Wie die ausgeklügelte Analyse ergibt, verletzen die Neutrinos die Ungleichung. Das steht im Einklang mit der Quantentheorie und widerspricht so genannten makrorealistischen Ansätzen, die derartiges Überlagerungsverhalten ausschließen. Nach den Annahmen von Leggett und Garg darf ein makrorealistisches System sich nämlich grundsätzlich nur in einem einzigen Zustand befinden – die Katze ist entweder lebendig oder tot und nicht beides zugleich; zudem muss sich sein Zustand störungsfrei bestimmen lassen – eine tote Katze wird also nicht einfach wieder lebendig, weil wir einen Blick in ihre Kiste werfen.

Bisher waren derartige Tests auf Atome in optischen Fallen und ähnliche Systeme im Labormaßstab beschränkt. Mit der neuen Studie konnten die Forscher erstmals nicht nur Neutrinos nutzen. "Dank der durchdringenden Natur der Neutrinos können wir die Quantentheorie auch über eine sehr große Distanz testen und bestimmen, ob ihre Voraussetzungen richtig sind", so Formaggio.

Nun dürften diese Ergebnisse für all diejenigen nicht weiter überraschend sein, die ohnehin von der Richtigkeit der Quantentheorie ausgehen. Dabei darf man aber nicht vergessen, dass auch die Gründerväter der Quantenmechanik, insbesondere Niels Bohr und Werner Heisenberg, immer wieder darauf hingewiesen haben, dass unsere makroskopische Realität diejenige ist, in der wir nicht nur leben, sondern in der wir auch all unsere Messungen durchführen. Der Quantenkosmos ist in dieser Sichtweise – kurz "Kopenhagener Interpretation der Quantenphysik", benannt nach dem Ort von Bohrs Institut, wo die entscheidenden Diskussionen stattfanden – dann so etwas wie eine "erschlossene" Realität. Und die mathematischen Symbole der Quantenphysik sind demnach nicht das direkte Ebenbild einer mikroskopischen Realität, sondern nichts weiter als abstrakte Rechenhilfen zur Verknüpfung von Messungen und Beobachtungen in unserer makroskopischen Realität.

Mit Hilfe von fundamentalen Tests, wie sie die Bell- und die Leggett-Garg-Ungleichung ermöglichen, lässt sich also einerseits prüfen, welche Grenzen die Natur der zukünftigen Theoriebildung in der Physik setzt; und andererseits, wie sich vielleicht die Eigenheiten beim Übergang von der Quanten- zu unserer makroskopischen Alltagswelt besser verstehen lassen und wie wir sie sowohl technologisch als auch philosophisch besser in den Griff bekommen. Man hat insbesondere Niels Bohr seinerzeit häufig vorgeworfen, er habe diese Punkte nie konkret genug ausgedrückt. Aus heutiger Sicht muss man hingegen seine Intuition bewundern, wie er genau das gesagt hat, was er nach damaligem Wissen behaupten konnte und musste. Mit dem, was er damals nicht sagen konnte, hat er den Physikern für weit mehr als 100 Jahre ein riesiges, spannendes Feld zur Bearbeitung hinterlassen.

"Ein Teil des Problems liegt darin, dass wir nicht im Detail wissen, was ein Objekt zu einem makroskopischen Objekt macht", so Knee. Mit Tests wie diesem geht es also auch um eine Begriffsbestimmung. In der Form, in der die Forscher die Leggett-Garg-Ungleichung nun benutzt haben, sind allerdings noch kleine logische Schlupflöcher enthalten, weshalb nicht alle Arten makroskopischer Theorien ausgeschlossen werden können. Weitere Studien werden diesen Spielraum aber wohl zunehmend einschränken.

Mit den Neutrino-Oszillationen haben die Forscher nun einen klaren Distanzrekord für derartige Tests aufgestellt. In Zukunft werden jedoch wohl vor allem Tests an größeren Systemen von Interesse sein. Neutrinos sind die flüchtigsten und leichtesten Materieteilchen. Noch dazu gehen sie keine Bindung mit anderen Teilchen ein. Wenn man den Übergang zu makroskopischen Objekten studieren will, wird man also genau in die andere Richtung gehen: "Es gibt bereits Experimente zu Atomen, Molekülen, Quantenbits und so weiter", so Knee. Bis zu Katzen ist es noch ein weiter Weg.

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