Traumata: »Zuhören ist nach Amoktaten am wichtigsten«
Am 24. Januar 2022 schoss an der Universität Heidelberg ein Student während einer Vorlesung um sich, tötete eine Kommilitonin und verletzte drei weitere Menschen. Anschließend erschoss er sich vor dem Gebäude selbst. Solche und ähnliche Amoktaten sind in Deutschland selten – doch diejenigen, die sie aus nächster Nähe miterleben, brauchen oft lange, um sie zu verarbeiten. Die Kriminologin Britta Bannenberg vom Beratungsnetzwerk Amokprävention erklärt, was den Betroffenen hilft und wieso Angehörige sich mit gut gemeinten Ratschlägen lieber zurückhalten sollten.
»Spektrum.de«: In Heidelberg hat ein Amokläufer nach aktuellen Erkenntnissen drei Menschen verletzt und einen getötet. Traumatisiert sind von dem Ereignis aber sicher einige mehr.
Britta Bannenberg: Davon können Sie ausgehen. Diejenigen, die das erlebt haben und in dem Hörsaal in der Falle saßen, kann man in den Tagen danach erst einmal nicht zu den Ereignissen befragen. Die Betroffenen machen etwas durch, was man sonst nur aus einem Roman kennt: Ein Ereignis tritt ein, und das Leben ist nicht mehr, wie es vorher war. Solche furchtbaren Erlebnisse prägen oft langfristig, das ist nicht in ein paar Wochen oder Monaten vorbei.
Was ist mit den Studierenden und Dozenten, die im Gebäude, aber nicht im Hörsaal selbst waren?
Die können ebenfalls traumatisiert sein. Hier lässt sich keine Hierarchie festlegen nach dem Motto: Wer näher dran war am Geschehen, leidet schlimmer darunter. Viele, die nicht im Hörsaal waren, aber irgendwo in der Nähe, werden schlimme Ängste haben. Sie werden sich in drei Wochen, wenn bei ihnen zu Hause ein Besenstiel umfällt und auf die Fliesen knallt, an einen Schuss erinnert fühlen. Sie werden keinen Blutspritzer mehr sehen können, ohne sofort an diesen Tag und das Ereignis denken zu müssen.
Was hilft Menschen, die einen Amoklauf miterlebt haben?
Für sie da zu sein und keine blöden Sprüche zu machen. Jeder, der so etwas erlebt, reagiert anders. Wie genau, das lässt sich nicht vorhersagen. Viele wollen wochenlang nichts mit dem Thema zu tun haben, nichts davon hören, nicht darüber reden. Nach ein paar Monaten ändert sich das vielleicht. Doch auch dann darf man nicht so etwas sagen wie: »Jetzt ist es ja schon eine Weile her, jetzt solltest du wirklich mal wieder …« Niemand weiß, wie er selbst reagieren würde, wenn er sich einmal in Lebensgefahr befunden hat. Also sollten wir Verständnis haben, offen sein für das, was unser Angehöriger oder Freund jetzt braucht. Und vor allem: zuhören.
Wenn der- oder diejenige denn überhaupt reden möchte.
Das wollen die meisten, die Frage ist nur, wann. Und dann sollten wir da sein. Geduldig zuhören, auch wenn es fünf-, sechs-, achtmal die gleiche Geschichte ist. Idealerweise passiert das in einem privaten Rahmen und nicht in größeren Gruppen. Es wäre schön, wenn sich die Gesellschaft hier ein bisschen zurücknehmen würde. Für den einzelnen Gesprächspartner gilt es eine gute Balance zu finden, nicht zu neugierig zu sein und nicht tausende Ratschläge zu geben, was wem wie geholfen hat und was man unbedingt mal ausprobieren sollte. Das ist eine Herausforderung: Wirklich zuhören, das ertragen die meisten Menschen kaum. Sie wollen nicht hören, wie es im Detail gewesen ist und wie sich das Opfer fühlte, als ihm klar wurde, dass das, was gerade passiert, bitterer Ernst ist.
Warum fällt uns das so schwer?
Wir wollen das Unheil nicht in unser Leben lassen. Wenn wir uns genau schildern lassen, was passiert ist, wie der Mensch neben unserem Freund oder unserer Freundin von einer Kugel getroffen wurde, wie alle in Panik geschrien haben, gerät unser eigenes Leben ins Wanken. Deshalb missachten wir häufig die emotionalen Grundbedürfnisse der Betroffenen, gehen darüber hinweg mit scheinbar klugen Ratschlägen und hören nach wenigen Wochen auf, Angebote zum Reden zu machen.
»Wenn wir uns genau schildern lassen, was passiert ist, gerät unser eigenes Leben ins Wanken«
Wie gut können professionelle Gesprächsangebote und Therapeuten helfen?
Auch das ist eine Frage des Zeitpunkts. Zum Glück gibt es zahlreiche Angebote, die man den Betroffenen vorsichtig unterbreiten kann und sollte. Wenn sich nach einem Trauma eine Posttraumatische Belastungsstörung entwickelt – wenn Betroffene das Erfahrene also immer wieder erleben, Schlafstörungen entwickeln, schreckhaft werden –, kommen vor allem psychologische Angebote der kognitiv-behavioralen Traumatherapie in Frage. Sie können den Betroffenen helfen, mit den belastenden Erinnerungen besser umzugehen und den Alltag wieder zu bewältigen.
Akute und anhaltende Belastungsreaktionen
Jede außergewöhnliche Gefahr für Leib und Leben kann tiefe Spuren in der Psyche hinterlassen – auch bei Menchen, die Zeugen eines solchen Traumas werden. Oft erleben die Betroffenen unmittelbar danach eine akute Belastungsreaktion: Typisch sind Gereiztheit, Angst, Verzweiflung, Desorientierung und das Gefühl, wie betäubt zu sein. Meist klingen diese Symptome nach kurzer Zeit von selbst wieder ab.
Halten sie länger an oder tauchen sie erst Wochen oder Monate später auf, kann das ein Zeichen für eine Traumafolgestörung sein, etwa für eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS). Dabei erleben die Betroffenen das Trauma vor dem inneren Auge unfreiwillig immer wieder aufs Neue, zum Beispiel in Form von Albträumen oder Flashbacks – obwohl sie eigentlich versuchen, Erinnerungen an das Geschehen zu vermeiden. Dazu kommen Symptome wie emotionale Taubheit, Reizbarkeit, Schreckhaftigkeit, Schlafstörungen und Konzentrationsschwierigkeiten. Auch Depressionen, Angst- oder Essstörungen können als Spätfolgen auftreten.
Wer unter solchen anhaltenden Beschwerden leidet, sollte sich Hilfe suchen. Erste Ansprechpartner sind Hausärzte, niedergelassene Psychotherapeuten und Psychiater sowie Notdienste von Kliniken.
Gleichzeitig kann man auch bei einem noch so gut gemachten Angebot nicht erwarten, dass es zu jedem passt. Manche wollen das, was ihnen passiert ist, nicht mit einem unbeteiligten Fremden erörtern. Andere suchen nach jemandem, der Ähnliches erlebt hat wie sie selbst. Doch solche Personen sind oft schwer zu finden: Es gibt Dinge, die kann kein noch so professioneller Therapeut verstehen. Manche Betroffene finden in Gesprächen kurz nach dem Amoklauf einen Seelenverwandten, wo sie ihn nie vermutet hätten. Andere können erst nach einem Jahr überhaupt daran denken, mit jemandem über das Erlebte zu reden. Egal, ob man selbst verletzt worden ist oder es »nur« miterlebt hat: Solche Erlebnisse sind oft tief traumatisch. Und sie verstören umso mehr, weil sie hier zu Lande so selten vorkommen. Wir leben auf einer Insel der Seligen. Hier sprengt sich nicht jede Woche ein Selbstmordattentäter in die Luft, und wir verlieren auch keine Familienangehörigen bei Luftangriffen.
Zum Glück nicht.
Natürlich. Aber das hat zur Folge, dass wir als Gesellschaft keine Opfererfahrung haben. Die meisten Menschen wissen glücklicherweise nicht, was Todesangst bedeutet. Doch für diejenigen, die so etwas Furchtbares erleben mussten, ist es enorm wichtig, dass die Gesellschaft versteht, dass Menschen, die Todesnähe gespürt haben, lange leiden.
»Meistens kündigen sich solche Taten an«
Was sagen Sie Menschen, die jetzt Angst haben, morgen oder nächste Woche in den Hörsaal an ihrer Uni zu gehen? Es könnte ja etwas Ähnliches passieren.
Dass diese Angst in aller Regel unbegründet ist. Erstens sind solche Ereignisse derart selten, dass die Wahrscheinlichkeit, selbst betroffen zu sein, extrem gering ist. Zweitens kündigen sich solche Taten meistens an, es gibt Vorzeichen. Aus unserer Erfahrung im Beratungsnetzwerk Amokprävention wissen wir, dass Amokläufer psychisch gestörte Charaktere sind. Sie sind meist sehr einzelgängerisch, geben aber trotzdem Hinweise darauf, was sie vorhaben. Natürlich kann es immer sein, dass solche Hinweise nicht wahr- oder ernst genommen werden. In solchen Fällen hat auch niemand Schuld, das ist einfach die Tragik des Lebens. Wenn man jedoch das Gefühl hat, dass jemand eine solche Tat begehen und für andere gefährlich werden könnte, kann man sich jederzeit an die Polizei oder das Beratungsnetzwerk Amokprävention wenden. Wir erhalten derzeit zwei bis drei solcher Anrufe pro Woche, und wir nehmen sie alle sehr ernst.
Wege aus der Not
Denken Sie manchmal daran, sich das Leben zu nehmen? Erscheint Ihnen das Leben sinnlos oder Ihre Situation ausweglos? Haben Sie keine Hoffnung mehr? Dann wenden Sie sich bitte an Anlaufstellen, die Menschen in Krisensituationen helfen können: an den Hausarzt, niedergelassene Psychotherapeuten oder Psychiater oder die Notdienste von Kliniken. Kontakte vermittelt der ärztliche Bereitschaftsdienst unter der Telefonnummer 116117.
Die Telefonseelsorge berät rund um die Uhr, anonym und kostenfrei: per Telefon unter den bundesweit gültigen Nummern 0800 1110111 und 0800 1110222 sowie per E-Mail und im Chat auf der Seite www.telefonseelsorge.de. Kinder und Jugendliche finden auch Hilfe unter der Nummer 0800 1110333 und können sich auf der Seite www.u25-deutschland.de per Mail von einem Peer beraten lassen.
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