Selbstmedikation: Heilkundige im Tierreich
Früh am Morgen im Regenwald Ugandas: Yogi, ein Schimpansenmännchen, entfernt sich von seiner Gruppe und sucht gezielt einen Strauch auf. Vorsichtig zupft er mit den Lippen eines der haarigen Blätter ab, faltet es mit seiner Zunge und schluckt es, unzerkaut, mit Mühe herunter. Bis zu 30 Blätter würgt Yogi auf diese Weise herunter, einige Stunden später scheidet er sie mitsamt Darmwürmern wieder aus.
Die Tierärztin Sabrina Krief vom staatlichen Naturkundemuseum (MNHN) in Paris hat solche Szenen schon wiederholt beobachtet: Seit 15 Jahren erforscht sie die Heilkünste der Schimpansen im Kibale-Nationalpark im Westen Ugandas. »Es ist die erste wissenschaftliche Beobachtung von Schimpansen, die durchgeführt wird, um Medikamente für den Menschen zu finden«, sagt Krief. Denn dieser, so hoffen die Forscher, kann sich vielleicht vom Verhalten der Tiere noch etwas abschauen und so neue Wirkstoffe für Arzneimittel erschließen.
Tatsächlich betreiben sehr viel mehr Tierarten Selbstmedikation als anfangs angenommen
Die Arbeit ist allerdings nicht einfach. Es braucht viel Erfahrung, um zu unterscheiden, ob ein Schimpanse eine bestimmte Pflanze frisst, weil er hungrig oder weil er krank ist. Krief und ihre Kollegen haben monatelang alle Futterpflanzen fotografiert, gesammelt und in Herbarien angelegt, um die Arten zu bestimmen. Auf diese Weise konnte das Forscherteam 300 Pflanzenteile identifizieren, die zum Nahrungsrepertoire der 50 Schimpansen gehören, die sie beobachten. Die Forscher protokollieren auch das Fressverhalten krank wirkender Tiere, sammeln deren Urin und Kot ein, um die Ausscheidungen auf Parasiten zu testen und gleichen anschließend die Daten ab.
Blattpillen gegen Würmer und Malaria
So leiden Schimpansen, aber auch Bonobos und Gorillas, die wie Yogi haarige »Blattpillen« schlucken, stetig an Würmern. Die rauen, unzerkauten Blätter wirken dagegen mechanisch: Sie regen die Darmtätigkeit stark an, so dass die Parasiten leichter ausgeschieden werden. Auch an Malaria erkrankte Schimpansen wissen sich zu helfen: Sie fressen dann die extrem bitteren Blätter des Baums Trichilia rubescens. »Wir haben die chemische Struktur der Moleküle bestimmt, und sie wirken ähnlich wie Chloroquin – ein gängiges Malariamittel des Menschen«, sagt Krief. Anders als der Mensch verlassen sich Schimpansen aber nicht nur auf eine Substanz: »Sie nutzen acht weitere Pflanzenarten, deren Extrakte alle gegen den Malariaerreger aktiv sind.« Die Substanzen unterscheiden sich in ihrer chemischen Struktur und ihrer Wirkweise. Das macht es den Malariaerregern schwer, Resistenzen zu entwickeln – ein häufiges Problem der Malariabekämpfung beim Menschen.
Einer der Pioniere der Erforschung der tierischen Selbstmedikation, einer noch relativ jungen Wissenschaft, die auch Zoopharmakognosie genannt wird, ist Michael Huffmann von der Universität Kyoto. Schon vor 30 Jahren beobachtete er Schimpansen, die bei Wurmbefall das bittere Mark der Pflanze Vernonia amygdalina aussaugten. Die nachfolgenden Laboruntersuchungen ergaben, dass sie antibakteriell und antiparasitär wirkende Substanzen enthält und quer durch Afrika auch von Menschen bei Darmbeschwerden genutzt wird.
»Wir wissen dabei allerdings nie, ob die Symptome nicht auch ohne die besagte Pflanze verschwunden wären«, sagt Barbara Furth vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig, die Selbstmedikation auch bei Bonobos beobachtet hat. Deshalb hat Huffmann Kriterien erarbeitet, um zu entscheiden, ob es sich bei einem im Freiland beobachteten Verhalten tatsächlich um Selbstmedikation handelt: Das Tier muss Krankheitsanzeichen aufweisen, die sich nach der Einnahme der Pflanze bessern. Die Pflanzenteile dürfen nicht zum üblichen Nahrungsrepertoire gehören, sie dürfen keinen Nährwert besitzen, die anderen zeitgleich anwesenden Mitglieder der Gruppe fressen sie nicht, und es müssen sich pharmakologisch aktive Substanzen im Labor nachweisen lassen.
»Evolutionsbiologisch betrachtet ist die Erhaltung der Gesundheit überlebenswichtig. Es ist zu erwarten, dass alle heute lebenden Tiere Mechanismen entwickelt haben, sich gegen Parasiten zu schützen«, sagt Huffmann. Tatsächlich betreiben sehr viel mehr Tierarten Selbstmedikation als anfangs angenommen: Manche Vögel reiben sich Ameisen ins Gefieder, weil Ameisensäure Läuse und Milben vertreibt. Die gleiche Wirkung hat auch Nikotin, weswegen Spatzen gerne Zigarettenstummel in ihre Nester legen. Auch Hunde und Katzen wissen sich bei Verdauungsproblemen zu helfen und fressen Gras. Und selbst Insekten verteidigen sich – manche beugen sogar vor und schützen so ihre Nachkommen: Bei drohendem Parasitenbefall legt etwa der Monarchfalter seine Eier auf Seidenpflanzen, deren Inhaltsstoffe Parasiten abschrecken. Und Taufliegen verstecken ihre Eier in vergorenen Früchten, deren hoher Alkoholgehalt räuberische Wespen fernhält. So hat die Brut bessere Überlebenschancen.
Bewusste Therapie?
Doch woher wissen die Tiere, welche Pflanzen bei Durchfall helfen, dass Zigarettenstummel Milben vertreiben und Wespen keinen Alkohol mögen? »Ob sich Schimpansen bewusst behandeln, wissen wir nicht«, sagt Krief. Ihr Verhalten – und auch das der Tiere, die mit weniger Intelligenz gesegnet sind – lässt sich ebenfalls anhand der natürlichen Selektion erklären: Durch Zufall hat Yogi eine veränderte Genvariante, die ihn »neugierig« auf neue Nahrung macht. Er frisst die Blätter des Baums X, die von seinen Artgenossen gemieden werden. Er ist dadurch gesünder und lebt länger als die anderen Schimpansen. Entsprechend mehr Nachkommen – mit der gleichen Genvariante – zeugt er, die ebenfalls eine Vorliebe für diese Blätter haben. So lassen sich auch die Zigarettenstummel und die vergorenen Früchte erklären.
Bei Primaten – ebenso wie bei Vögeln – spielt auch das Lernen eine Rolle: Yogi hat Bauchschmerzen und frisst aus unbekannten Gründen die Blätter des Baums X. Bei erneutem Bauchgrummeln erinnert er sich an die wohltuende Wirkung. Da Primaten viel voneinander lernen, vor allem Jungtiere von der Mutter, verbreitet sich das Verhalten in der Gruppe und wird auch von Generation zu Generation weiter.
So oder so: Krief ist überzeugt davon, dass auch der Mensch von den Heilkünsten der Schimpansen lernen kann. Die Tierärztin hat in den vergangenen Jahren in Zusammenarbeit mit einer Universität in Uganda, der Uganda Wildlife Authority (UWA) und dem französischen Centre national de la recherche scientifique (CNRS) über 1000 Pflanzenextrakte analysiert. 20 pharmakologisch wirksame Substanzen konnten sie dabei identifizieren. Ob daraus wirklich Medikamente entstehen, wird sich erst in einigen Jahren zeigen – die Entwicklung ist mit aufwändigen Tests verbunden und entsprechend langwierig.
Tatsächlich werden neue Wirkstoffe dringend benötigt. Gegen viele Volkskrankheiten – Arteriosklerose, bestimmte Krebsformen, rheumatische und allergische Erkrankungen – gibt es nach wie vor keine wirksamen Arzneien. Etwa 60 Prozent aller Medikamente gehen auf Naturstoffe wie Pflanzen, Bakterien und Pilze zurück. »Der Anteil der Pflanzenverbindungen dürfte bei etwa 30 bis 40 Prozent liegen«, schätzt Peter Proksch vom Institut für Pharmazeutische Biologie und Biotechnologie der Universität Düsseldorf. Dabei sind von den weltweit bekannten 300 000 Pflanzenarten gerade einmal 10 bis 20 Prozent biologisch und chemisch vollständig erforscht. Heilpflanzen, mit denen Tiere zum Teil schon seit Jahrmillionen experimentieren, könnten sich hier als eine Art Wegweiser entpuppen – vorausgesetzt, der Mensch lässt die Regenwälder noch lange genug stehen.
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