Heinrich Schliemann: Archäologe, Visionär und Influencer
Alles beginnt mit einem Traum. Am Weihnachtsabend anno 1829 bekommt ein siebenjähriger Knabe im mecklenburgischen Neubukow ein Buch geschenkt, das ihn auf Anhieb fasziniert. Beim Blättern in Georg Ludwig Jerrers »Weltgeschichte für Kinder« hat es dem jungen Heinrich Schliemann, so der Name des aufgeweckten Jungen, eine Seite besonders angetan. Wie gebannt schaut er auf eine Abbildung des brennenden Trojas – ein Anblick, der ihn zeitlebens nicht mehr loslassen sollte. Fast trotzig äußert der junge Heinrich seinem Vater gegenüber, dass er einst die Mauern der sagenumwobenen Stadt Homers ausgraben werde – so jedenfalls wird es der Beschenkte ein halbes Jahrhundert später der Weltöffentlichkeit erzählen.
44 Jahre später ist der Kindheitstraum wahr geworden. Heinrich Schliemann sieht sich auf dem Gipfel des Ruhms. Ein seltenes Gefühl wandelt ihn an. Dass es jetzt genug sei. Hat er nicht alles erreicht, was er sich je erträumt hat? Aus seiner Sicht schon. Heinrich Schliemann notiert am 17. Juni 1873 in sein Tagebuch: »Heute Abend habe ich die Arbeiten für dieses Leben eingestellt und ließ die Ausgrabungen durch den Priester (…) segnen.«
Vor ihm liegt das sagenumwobene Troja, die Stadt, um die in Homers Ilias zehn Jahre lang gekämpft wurde – glaubt Schliemann. Er hat einen Schatz aus den Ruinen gezogen, das behauptet er jedenfalls bis an sein Lebensende. Es ist ein großes Konvolut an Prunkgefäßen, Schmuck und Waffen, insgesamt fast 9000 Objekte aus Gold, Silber und Kupfer. Darunter auch das Goldgeschmeide, welches Schliemann seiner Frau Sophia später mit dem ihm eigenen Sinn für Publicity anlegt und das Foto in alle Welt verschickt. Es ist jener Fund, den man als den »Schatz des Priamos« kennt.
Schliemann, der Schwärmer
Für Schliemann ist in Troja Feierabend. Und, zumindest empfindet er das wohl so, als er in sein Tagebuch schreibt, mit der Archäologie insgesamt. Er kann sich nun anderen Dingen zuwenden. Er kann es sich leisten, denn Archäologie betreibt dieser kuriose Ausgräber eigentlich nur als Hobby. Seine Reichtümer lagern in Banktresoren. Die Reichtümer der Vergangenheit zu finden und sie zu verscherbeln, das hat er wahrlich nicht nötig.
Heute wissen wir: Dem sagenhaften König Priamos von Troja hat Schliemanns Schatz mit ziemlicher Sicherheit nicht gehört. So wenig wie die von Schliemann ausgegrabenen Ruinen das homerische Troja sind. Es handelt sich vielmehr um eine Stadt, die lange vorher an dieser Stelle stand. Schliemann ist ein Schwärmer, den nicht wissenschaftliche Hinweise dazu brachten, ausgerechnet hier am Hügel Hisarlık an den Dardanellen nach der sagenhaften Stadt zu graben, sondern die griechische Heldensage. Sie nimmt der knallharte Kaufmann – man weiß nicht recht warum – für bare Münze. Das Hohnlachen der Geschichtsgelehrten seiner Zeit muss ihm in den Ohren geklungen haben, als er in den frühen 1870er Jahren den Hisarlık inspiziert.
Das erfolgreiche Leben als Geschäftsmann
Dabei ist Schliemann kein naiver Tropf. Er hat sich hochgearbeitet, vom Pfarrerssohn aus dem mecklenburgischen Neubukow, wo er am 6. Januar 1822 das Licht der Welt erblickte, zum Geschäftsmann in St. Petersburg. In der Stadt an der Newa, wo er 1847, im Alter von 25 Jahren, russischer Staatsbürger wird, macht Schliemann das große Geld. »Schon im ersten Jahre meines Aufenthalts war ich bei meinen Geschäften so vom Glück begünstigt gewesen, dass ich bereits zu Anfang des Jahres 1847 in die Gilde als Großhändler mich einschreiben ließ«, berichtete Schliemann später. Der erfolgreiche Geschäftsmann heiratet die Kaufmannstochter Jekaterina Petrowna Lyshina, die ihm drei Kinder schenkt, knüpft Kontakte in die USA, wo er eine erfolgreiche Goldgräberbank in Sacramento gründet und in amerikanische Eisenbahnprojekte investiert. Dann kommt er als Händler von Munitionsrohstoffen während des Krimkriegs zu großem Reichtum, ist 1855 der erfolgreichste Händler an der Börse St. Petersburg.
Doch irgendwann scheint der erfolgreiche Geschäftsmann am Geldscheffeln keinen Gefallen mehr zu finden, merkt, dass Geld allein nicht glücklich macht. Dem Vater schreibt er: »Ich glaube, man kann auch ohne Geschäfte leben.« Schliemann schmiedet neue Pläne, sucht sich ein Betätigungsfeld, dem er schon von klein auf zugeneigt war. Der Selfmade-Millionär will sich seinen Kindheitstraum erfüllen, er will das Troja Homers entdecken.
Ab 1856 beginnt er, seinen Ausstieg vorzubereiten. Er lernt Latein und Altgriechisch – die Sprachen sechs und sieben auf seiner Liste, nach Niederländisch, Italienisch, Spanisch, Portugiesisch und Russisch. Wissenschaften und Sprachstudium werden ihm laut eigener Aussage fortan eine Leidenschaft, »eine unversiegbare Quelle des Glücks«. 1864 ist es dann so weit. Schliemann verkauft seine Unternehmen in Russland und transferiert sein Vermögen nach Westeuropa. Er siedelt nach Paris über, studiert an der Sorbonne Altertumswissenschaften.
»Auf die Angaben der Ilias vertrauend, an deren Genauigkeit ich wie ans Evangelium glaubte«Heinrich Schliemann in »Trojanische Alterthümer«, 1874
Im April 1868 unternimmt der Quereinsteiger seine erste Forschungsreise nach Griechenland. Über Rom und Neapel reist er nach Korfu. Dort begibt er sich auf die Spuren der Phäaken, jenem von Homer beschriebenen Sagenvolk, bei dem Odysseus strandete und deren Insel Scheria mitunter als Korfu identifiziert wurde. Doch die antiken Inselbewohner sucht Schliemann ebenso vergebens wie den gleichfalls in der Ilias beschriebenen Palast des »weit gereisten« Odysseus auf der Insel Ithaka, der Heimat des trojanischen Helden. Erstmals besucht er dann die Troas, jene Gegend im nordwestlichen Teil Kleinasiens, in der das antike Troja lag.
Den über seine erste Expedition verfassten Reisebericht, der 1869 zuerst auf Französisch und dann auf Deutsch unter dem Titel »Ithaka, der Peloponnes und Troja. Archäologische Forschungen« erschien, reicht er an der Universität Rostock als Doktorarbeit ein, wo er wenige Monate später in Abwesenheit promoviert wird.
Auf den Spuren Homers
Aus dem vormals erfolgreichen Businessman war nun endgültig ein Hobbyarchäologe geworden, der fortan mit Homers »Ilias« und »Odyssee« unterm Arm den Spuren der antiken Helden folgt. Seine Begeisterung für die alte Kultur geht so weit, dass er ihre Nachfahren in seine Familie eingliedern will: 1869 erwirkt er die Scheidung von Jekaterina und beauftragt einen griechischen Freund, ihm eine neue Frau zu suchen. Einzige Bedingung: Sie muss eine Griechin sein, »griechisch aussehen« und die »Ilias« in der Ursprache lesen können. Der Freund ist erfolgreich. Schliemann entscheidet sich für die ihm offerierte Sophia Engastroménou, nachdem er eine Fotografie von ihr gesehen hat. Das Mädchen ist 17, er 47. Dass eine arrangierte Ehe mit 30 Jahren Altersunterschied funktionieren kann, ist schwer zu glauben. Aber sie funktioniert: Sophia bekommt zwei Kinder, Andromache und Agamemnon, begleitet ihn bei seinen Ausgrabungen und hält lange über seinen Tod hinaus Vorträge über seine Arbeit.
Nun muss er nur noch Troja finden. Zeitgenössische Altphilologen halten Homers Geschichten für erfunden und den Namen des Autors für einen Begriff, mit dem Dichter und Sänger ganz allgemein bezeichnet wurden. Troja gehöre ins Reich der Sagen, glauben viele namhafte Gelehrte. Und jetzt, so mokiert sich die akademische Elite, meint so ein dahergelaufener dilettierender Privatier, das Rätsel um das legendäre Troja mit sentimentalen Mythologisierungen lösen zu können.
Schliemann interessiert die Gelehrtenschelte nicht. Er ist davon überzeugt, dass Homer wirklich existiert und in der »Ilias« ein wahres Ereignis seiner Zeit geschildert wird. So unerschütterlich ist Schliemanns Vertrauen in die Angaben des blinden Dichters, dass er 1874 in seiner Abhandlung über »Trojanische Alterthümer« schreibt: »Auf die Angaben der Ilias vertrauend, an deren Genauigkeit ich wie ans Evangelium glaubte.«
Schliemann schlägt eine Schneise durch den Ruinenhügel
Den entscheidenden Tipp, auf dem Hügel Hisarlık zu graben, erhält Schliemann – wie er später selbst enthüllt – von einem gewissen Frank Calvert (1828–1908). Der britische Konsularagent aus Istanbul hat bereits am Hisarlık gegraben, allerdings vergebens. Letztlich orientierten sich beide an einem Buch des schottischen Journalisten und Geologen Charles Maclaren (1782–1866). Dieser hatte Homer sowie andere Quellen ausgewertet und war zu dem Entschluss gekommen, dass Troja auf dem Hügel Hisarlık in der Provinz Çanakkale im Nordwesten der Türkei liegt. Homer beschreibt Troja als zwischen zwei Flüssen liegend, nah am Meer, umgeben von einer weiten Ebene, in der die Armeen der Griechen und Trojaner aufeinandertreffen.
Schliemann macht dort weiter, wo Calvert aufgehört hat, gräbt zielstrebiger, aber auch rücksichtsloser. 1870 lässt er, zunächst ohne Erlaubnis, einen 40 Meter breiten und mehr als 15 Meter tiefen Graben mitten durch den Hügel treiben, ohne Rücksicht auf jüngere Siedlungsschichten. Als seine 250 Arbeiter unter vielen Schichten die Grundmauern einer Stadt frei legen, die durch Brand zerstört worden sein muss, steht für den Hobbyarchäologen fest: Das muss das von Homer beschriebene Troja sein. Alles stimmt mit den Angaben des antiken Dichters überein – weil Schliemann will, dass es so ist. Als man auf die Mauern eines Gebäudes stößt, nennt Schliemann die Reste »Palast des Priamos« – obgleich das Ganze eher an die »Größe eines Schweinestalls« erinnert, wie einer seiner vielen Kritiker schreibt. Doch den rastlosen Hobbyarchäologen ficht das nicht an. 1872 glaubt Schliemann, den »Großen Turm« entdeckt zu haben, von dem es im 6. Gesang der Ilias (Zeile 386–387) heißt: »Den Turm erstieg sie (Andromache) von Ilios, weil sie gehört, dass der Achäer Macht siegreich die Troer bestürme.« Die Relikte werden sich später als der Rest von zwei parallel verlaufenden Mauern aus einer späteren Phase Trojas erweisen.
Die eigentliche Tragik dieses großen Amateurarchäologen ist: Bei seiner ungestümen Suche nach Homers Troja hat er zwar genau an der richtigen Stelle gegraben, aber viel zu tief. Gut 1000 Jahre zu weit ist Schliemann in die Vergangenheit vorgedrungen, zu einer Schicht, die man heute Troja II nennt. Dabei hat er die Reste der homerischen Stadt – nach heutiger Auffassung wohl Troja VI oder VIIa – zerstört. Die Wissenschaft wirft Schliemann deshalb vor, er habe alle Fundstücke, die nicht zu seinem Troja passten, einfach mit dem Schutt wegkippen lassen. Doch eine solche Pauschalkritik ist unangemessen. Denn sie lässt außer Acht, dass zu Schliemanns Zeit Feldarbeit, also Grabungsarbeit nach archäologischen Gesichtspunkten, so gut wie unbekannt war.
Kunstraub im Gemüsekorb
Und was ist nun mit dem Schatz des Priamos? Der hat von dem Moment an, an dem er wieder das Tageslicht erblickte, einen wechselvollen Weg vor sich. Schliemann schafft ihn erst einmal aus dem Osmanischen Reich heraus, wohl wissend, dass die Türken zu Recht Anspruch auf das Geschmeide erheben werden. Dafür näht Sophia den Fund in sechs Gemüsekörbe ein. So schmuggelt man ihn nach Athen. Ein solventer Käufer wird nicht gefunden. Denn es gibt Zweifel an der Echtheit, die bis heute nicht ganz verstummt sind. Noch 1984 behauptet der schottische Archäologe David A. Traill in der angesehenen britischen Fachzeitschrift »Antiquity«: »Der Schatz des Priamos hat nie existiert.« Vielmehr habe Schliemann die einzelnen Stücke gekauft. Für diese Behauptung spricht, dass es keine Zeugen gibt, die der Entdeckung beigewohnt haben – außer Herrn und Frau Schliemann.
Echt oder nicht – Schliemann ist ein ausgesprochenes Marketingtalent, das sich trefflich darauf versteht, seine Entdeckungen öffentlichkeitswirksam zu verkaufen. Zu dem Pressetermin, auf dem er seine Schätze präsentiert, trägt Sophia »die Juwelen der Helena«. Wortreich erzählt der Ausgräber dazu seine Geschichte über den Moment, in dem er Gold in der Erde habe glänzen sehen, alle Arbeiter und den sehr wachsamen türkischen Beobachter nach Hause geschickt und allein mit Sophia den Schatz ausgegraben habe. Später muss der Archäologiepionier eingestehen, dass seine Frau überhaupt nicht dabei war. Doch was schert dies im Nachhinein. Zu schmälern vermag diese kleine Flunkerei seine Leistung allerdings nicht.
Schliemann hat sein Ziel erreicht: Das Interesse der Öffentlichkeit an den antiken Funden war geweckt und er mit einem Schlag berühmt geworden. »Schliemann verstand es wie kein anderer zuvor, seine Ausgrabungen und Entdeckungen medial zu inszenieren«, sagt die Heidelberger Archäologin und Medienwissenschaftlerin Stefanie Samida, die Schliemanns PR-Arbeit in ihrer Abhandlung »Die archäologische Entdeckung als Medienereignis« rekonstruiert hat. Allein seine Gleichsetzung von Hisarlık mit dem von Homer in der Ilias beschriebenen Troja entfaltete eine enorme wissenschaftliche Wirkung, die ihn, den Autodidakten und Quereinsteiger, mit einem Schlag berühmt machte.
Trojanischer Federkrieg
Für die breite Öffentlichkeit war Schliemanns »Entdeckung« eine Sensation, für die akademische Elite aber eine ungeheuerliche Provokation. »Vor allem den deutschen Altertumswissenschaftlern«, erklärt Samida, »galt der Selfmademan aus Mecklenburg als archäologischer Laie, ja als Emporkömmling und Dilettant in negativem Sinne.« Dies bestätigt ein Brief des Klassischen Archäologen Adolf Furtwängler (1853–1907) aus dem Jahr 1881, in dem er Schliemann vorwirft, dieser habe von der »eigentlichen Bedeutung seiner Ausgrabungen keine Ahnung« und handle »nur aus dem niederen Interesse, daß die Sachen so und so alt sind und gerade aus Troja und Mykene stammen«.
»Vor allem den deutschen Altertumswissenschaftlern galt der Selfmademan aus Mecklenburg als archäologischer Laie, ja als Emporkömmling und Dilettant in negativem Sinne«Stefanie Samida, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg
Was die Fachgelehrten in ihrem akademischen Elfenbeinturm besonders wurmt, ist der Umstand, dass die Öffentlichkeit einem Autodidakten huldigt. Auch geht ihnen Schliemanns exzentrische, nach Aufmerksamkeit und fachlicher Anerkennung strebende Art mächtig gegen den Strich. Vor allem aber echauffieren sich die akademischen Fachvertreter über Schliemanns Tendenz zur Überhöhung seiner Forschungsergebnisse bei zugleich mangelnder sachlicher Distanz. Etwa wenn dieser schreibt, »Geheimnisse der Geschichte« gelöst zu haben, oder vom »Schatz des Priamos« spricht, ohne die Schmuckstücke zuvor einer genauen stratigrafischen oder typologischen Einordnung unterzogen zu haben.
Doch es hagelt nicht nur Kritik aus Wissenschaftskreisen. Auch die Medien, die Schliemann für seine Zwecke einzuspannen weiß, mokieren sich über die effekthascherische Art des archäologischen Laien. Mit beißendem Spott reagiert der »Kladderadatsch«. In seiner Ausgabe vom 24. August 1873 schreibt das Berliner Satiremagazin bitterböse, Schliemann habe eine »Schachtel ägyptische Streichhölzer« gefunden, »mit denen Achilles den Scheiterhaufen des Patroclus anzündete«.
Bei aller Kritik, wirklich geschadet hat sie Schliemanns Ruhm nicht – im Gegenteil. Verhilft doch gerade das akademische Schliemann-Bashing dem Gescholtenen zu jener medialen Aufmerksamkeit, die er sucht. Vor allem aber ist er ein begnadeter Selbstdarsteller, der Wissenschaft zu inszenieren und sich selbst bestens zu vermarkten versteht. Durch ihn wird die Archäologie zum Medienereignis.
Imagebildung mit alternativen Fakten
Schliemann wirkt an seiner Bekanntheit und seinem Ruhm tatkräftig mit. Sein Auftreten, das er stets auch mit einem antiakademischen, sich gegen die etablierte Wissenschaft der Stubengelehrten richtenden Impuls verbindet, erzielt beim breiten Publikum große Wirkung. Dass er dabei auch manches stark idealisiert und bisweilen Geschichten komplett erfindet, ist Teil seiner persönlichen Imagebildung.
Hierzu gehört etwa der in der autobiografischen Vorrede seines Werks »Ilios« (1881) beschriebene Kindheitstraum, den Schliemann zu einem frühen Schlüsselerlebnis für seine Ausgrabungen in Troja stilisiert. Mit derart »biographischen Nachinszenierungen«, schreibt der Berliner Klassische Archäologe Wolfgang Schindler (1929–1991), verschafft sich Schliemann ein ganz persönliches Image. Das von ihm selbst verbreitete Narrativ vom bürgerlichen Autodidakten, der es mit Fleiß und Willenskraft zum großen Entdecker bringt, wirkt über seinen Tod hinaus.
Ein weiterer Verbündeter für Schliemanns mediale Selbstinszenierung ist der Zeitgeist. Der ambitionierte Quereinsteiger trifft den Nerv seiner Epoche, in der die populärwissenschaftliche Vermittlung von Forschungserkenntnissen hoch im Kurs steht. Dieser Trend zur Amateurwissenschaft, der sich jenseits der akademischen Wissenschaft abzeichnet, geht zurück auf eine im 19. Jahrhundert vermehrt einsetzende Gründung von Geschichts- und Altertumsvereinen, die mit einer wachsenden und verklärenden romantischen Begeisterung der bürgerlichen Eliten für Ruinen, antike Stätten und »vaterländische Altertümer« verbunden war. In dieser Blütezeit der historischen Autodidakten, Vereine und Bürgerforscher findet Schliemann einen idealen Resonanzboden für sein archäologisches Laientum, was ihn zu einer Art Indiana Jones seiner Zeit macht.
Der Entdecker bekommt prominente Schützenhilfe
Einen gewichtigen Fürsprecher an der Heimatfront findet Schliemann in dem angesehenen Berliner Mediziner, Pathologen und Politiker Rudolf Virchow (1821–1902). Als weithin anerkannte Autorität ist Virchow für Schliemanns Akzeptanz in der bildungsbürgerlichen Öffentlichkeit und dessen Bedeutung als Wissenschaftler von entscheidender Bedeutung.
Immer wieder versucht Virchow den Autodidakten Schliemann bei den skeptischen deutschen Gelehrten salonfähig zu machen, indem er dessen Grabungs- und Reiseberichte in verschiedenen Gesellschaften und Vereinen vorstellt. Nachdem sich bei einer der Sitzungen der Berliner Akademie der Wissenschaften die Begeisterung der akademischen Elite für Schliemanns Ausgrabungen in Grenzen gehalten hatte, schreibt der Mentor Virchow an seinen Mentee Schliemann, er könne darauf zählen, dass er, Virchow, »die Herren schon noch aus ihrer Lethargie herausbringen werde«.
Virchow ist es schließlich auch, dem es gelingt, seinen Freund dazu zu bewegen, den Schatz des Priamos seiner alten Heimat zu überlassen. Das Berliner Museum für Vor- und Frühgeschichte soll ihn bekommen – nicht ohne daran Bedingungen zu knüpfen. Schliemann will den Orden »Pour le mérite« und die Ehrenbürgerschaft der Stadt Berlin. Bevor der Schmuck in die Hauptstadt des Reiches gebracht werden kann, muss Schliemann sich erst einmal vor einem Gericht in Athen gegen eine Klage wehren, die die türkische Regierung angestrengt hat. Der Prozess endet mit einem Kompromiss. Schliemann darf den Schatz behalten, muss aber 10 000 Franken an die türkische Regierung zahlen. Schliemann zeigte sich großzügig und überweist 100 000 Franken. Heute befindet sich der Schatz des Priamos übrigens in Moskau. 1945 wurde er von sowjetischen Truppen dorthin gebracht, erst 1993 räumt man das auch offiziell ein. Immerhin gibt es in Deutschland mittlerweile eine Kopie.
Auf den Spuren Agamemnons
Schliemann, der 1873 seinem Grabungstagebuch geschworen hat, die Archäologie sein zu lassen, kann es natürlich nicht lassen. 1874 beginnt der umtriebige Forscher eine Kampagne in Mykene auf der Suche nach den Gräbern weiterer homerischer Helden. Die dortige Burg des Agamemnon ist lange frei gelegt, bemerkenswerte Funde gab es nicht. Schliemann aber findet fünf Gräber, weil er – typisch für ihn – an einer Stelle außerhalb der Burgmauern schaufeln lässt, die man für uninteressant hielt. Die homerischen Helden sind hier zwar nicht bestattet, aber er findet die Überreste von 19 Menschen, Männern, Frauen und Kindern. Sie sind mit Schmuck und kostbaren Waffen beigesetzt worden. Die Gesichter der Männer bedeckten Masken, jede aus Goldblech gefertigt. Eine davon erregt weltweit Aufsehen: die so genannte Maske des Agamemnon.
Man ahnt es schon: Es ist gar nicht die Maske des Agamemnon. Es ist nur mal wieder ein echter Schliemann. Diesmal verhaut sich der Ausgräber um ein halbes Jahrtausend. Und trifft so auf eine bis dahin unbekannte, prähistorische Epoche, die ägäische Kultur der frühen Bronzezeit.
Der inzwischen 55-jährige Schliemann widmet sich 1877 erst einmal einer Präsentation seines Priamos-Schatzes im Londoner South Kensington Museum. Jetzt findet der Mann aus Mecklenburg auch in seinem eigenen Land Anerkennung, könnte sich eigentlich auf seinen archäologischen Lorbeeren ausruhen. Doch das entspricht nicht seinem Naturell. Da er das Graben nicht lassen kann, ist der Hobbyarchäologe schon bald wieder mit der Schaufel unterwegs: in der Stadt Orchomenos in Böotien, in Tiryns, nur knapp 20 Kilometer von Mykene entfernt – beides antike Stätten in Griechenland, die in den Epen Homers erwähnt werden –, und in Alexandria, wo er nach der Ruhestätte Alexanders des Großen sucht.
Auch wenn es Schliemann nicht so recht wahrhaben will, er ist gesundheitlich angeschlagen. Die Strapazen der letzten Jahre sind an dem inzwischen 68-Jährigen nicht spurlos vorübergegangen. Mitte November 1890 unterzieht sich Schliemann in Halle an der Saale einer längst überfälligen Ohrenoperation. Die Ärzte entfernen eine Geschwulst und mahnen den Patienten zu Ruhe. Doch der zeigt sich uneinsichtig und tingelte dessen ungeachtet munter weiter durch Europa.
Mitte Dezember reist er nach Neapel, wo er noch kurz die Ausgrabungen in Pompeji inspizieren will, bevor er Weihnachten mit seiner Familie in Athen zu verbringen gedenkt. Standesgemäß steigt Schliemann im »Grand Hotel« ab. Bei einem Spaziergang durch die Straßen der kampanischen Metropole bricht er auf einer Piazza zusammen und wird ins Krankenhaus gebracht. Dort stirbt der rastlose Kosmopolit am 2. Weihnachtsfeiertag 1890 an den Folgen des nicht auskurierten operativen Eingriffs.
Verehrt wie ein Held
Beigesetzt wird Heinrich Schliemann am 4. Januar 1891 in einem prachtvollen, weißen Mausoleum in Form eines Tempelchens auf dem Ersten Friedhof in Athen. Ort und Form des acht Meter hohen Grabmals hat Schliemann 1888 testamentarisch verfügt, und auch die dekorative Ausstattung, die er mit seinem befreundeten Architekten Ernst Ziller (1837–1923) bis ins kleinste Detail bespricht. Dem letzten Willen Schliemanns folgend, zieren die umlaufenden Friese Szenen aus der »Ilias« und archäologische Funde des Ausgräbers. Der Nordfries war Schliemann selbst gewidmet, er zeigt Szenen der Geschichte seiner Ausgrabungen und das Ehepaar Schliemann. Zwischen den Säulen steht auf der Schauseite des Mausoleums eine Büste des Archäologen, die in Richtung Akropolis blickt.
Schliemann, der schon zu Lebzeiten an seiner Legende als heldenhafter Archäologe strickte, findet über den Tod hinaus in seiner letzten Ruhestätte eine monumentale Würdigung. Wer diese Botschaft nicht versteht, der begreift spätestens bei einem Blick auf die griechische Inschrift an der Frontseite des Grabmonuments, was der zeitlebens mit einem überbordenden Selbstbewusstsein ausgestattete Mann der Nachwelt sagen wollte; sie lautet: »ΗΡΩΙ ΣΧΛΙΜΑΝΝΩΙ« – »dem Heros Schliemann«.
Anspruch auf den »modernen Heros« erheben nun neben Deutschland und Russland auch die USA. Schon 1869 ist Schliemann nämlich US-Staatsbürger geworden. Prompt würdigt ihn der amerikanische Botschafter in Athen bei seiner Beerdigung als beispiellosen Pionier aus den Vereinigten Staaten.
Dass Schliemann seither immer wieder als Scharlatan angegriffen wurde, ist sicherlich genauso übertrieben, wie ihn zum Nationalhelden hochzustilisieren, was vor allem die wilhelminischen Schulbücher getan haben. Tatsache bleibt, dass sein schwärmerischer Antrieb erst dazu geführt hat, dass Troja entdeckt wurde – egal wie suspekt der Wissenschaft seine Grundannahmen waren. Dass Heinrich Schliemann »mit den gefundenen Alterthümern eine neue Welt für die Archäologie aufgedeckt« hat, wie er 1873 in der »Allgemeinen Zeitung« geschrieben hat, stimmt also. Schade, dass er nicht warten konnte, bis jemand anderes ihn mit diesem Satz lobte.
Anm. der Red.: Gekürzte Versionen dieses Artikels sind zuvor bei der »Stuttgarter Zeitung« und den »Stuttgarter Nachrichten« erschienen.
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