Ernährung: Heraus aus dem immunologischen Kokon
Es kann eine Weile dauern, bis sich neues Wissen auch in der Praxis durchsetzt. Imke Reese geht es in diesem Fall aber entschieden zu langsam. Die Münchner Ernährungswissenschaftlerin hat vor zwei Jahren zusammen mit Kinderärzten, Allergie- und Ernährungsexperten die medizinische Leitlinie der Gesellschaft für Pädiatrische Allergologie und Umweltmedizin mit Maßnahmen zu Allergieprävention bei Kindern überarbeitet. Doch Reese trifft immer wieder auf Mütter und Kinderärzte, die noch die alten Empfehlungen im Kopf haben.
So wurde bis vor Kurzem geraten, zunächst einmal all das an Umwelt- und Nahrungsstoffen zu meiden, was das unreife Immunsystem irritieren könnte. Nach dem Motto: Wo kein Allergen ist, ist auch keine Allergie. Daher sollten Hühnerei, Fisch, Weizen, Nüsse oder Erdnüsse erst ab dem zweiten oder gar dritten Lebensjahr auf dem Kinderteller landen. Und schwangeren oder stillenden Frauen wurde mitunter empfohlen, auf diese Nahrungsmittel zu verzichten, um der kindlichen Abwehr nicht zu viel zuzumuten. Das Baby wurde zum Schutz vielmehr in eine Art "immunologischen Kokon" eingewickelt, wie es der britische Kinderallergologe Gideon Lack vom Kings's College in London ausdrückt [1].
"Doch der Weg hat in eine Sackgasse geführt und die Allergiebereitschaft wahrscheinlich sogar noch gefördert", sagt Imke Reese. Verdacht regte sich etwa durch Beobachtungen, wie sie Allergologen vom King's College in London im Jahr 2008 an rund 5000 Kindern machten: Unter den in Großbritannien lebenden Kindern mit jüdischen Wurzeln gab es zehnmal so viele Erdnussallergiker (1,85 Prozent der Kinder) wie bei den Jungen und Mädchen, die in Israel zu Hause waren [2]. "Nun erhielten aber die israelischen Kinder spätestens zwischen dem 8. und 12. Lebensmonat regelmäßig erdnusshaltige 'Snacks', während man in England mit der Gabe von Erdnuss bis zum zweiten Lebensjahr gewartet hatte", erklärt Katharina Blümchen vom Allergie-Centrum-Charité in Berlin.
Der falsche Weg
Bereits wegen dieser Beobachtung habe man sich gefragt, ob die klassische Devise "Vermeiden" womöglich falsch sei, so Blümchen weiter. Und es gab noch mehr solcher Hinweise: Forscher von der schwedischen Karolinska-Universität etwa hatten herausgefunden, dass nur sehr wenige Kinder in Schweden gegenüber Fisch sensibilisiert waren (18 von 2614), auch wenn sie bereits im ersten Lebensjahr regelmäßig Fisch verzehrt hatten. Bis ins Kindergartenalter hinein waren diese Kinder zusätzlich insgesamt deutlich weniger von anderen Allergien betroffen als Sprösslinge, deren Eltern keinen Fisch in den Brei gerührt hatten [3].
"Der bisherige Weg hat in eine Sackgasse geführt und die Allergiebereitschaft wahrscheinlich sogar noch gefördert"Imke Reese
In einer wissenschaftlichen Übersichtsarbeit stellte die Cochrane Collaboration im Jahr 2006 außerdem deutlich heraus, dass es keine Beweise für den Nutzen mütterlicher "Auslassdiäten" in der Schwangerschaft gebe [4]. Solche Diäten brächten eher ein erhöhtes Risiko für ein niedriges Geburtsgewicht oder gar Fehlgeburten mit sich. "Schließlich wurden die Mütter durch die Empfehlungen nicht etwa aufgefordert, irgendwelche exotischen Früchte vom Speiseplan zu streichen, sondern Grundnahrungsmittel wie Fisch, Weizen und Hühnerei", betont Ernährungsexpertin Reese.
Nicht nur in Deutschland, auch in den USA und Großbritannien bewirkten diese und andere Studien einen entscheidenden Wechsel, führt sie weiter aus: "Die Blickrichtung geht nun weg von der ängstlichen Meidung bestimmter Nahrungsmittel hin zur aktiven Stimulation des kindlichen Immunsystems, um die Toleranzentwicklung zu fördern."
Fordern statt schonen
Nach den neuen Leitlinien gibt es etwa keine Gründe dafür, warum Schwangere oder Stillende im Sinne des Allergieschutzes auf bestimmte Nahrungsmittel verzichten müssten. "Mütter sollten bis zum vierten Lebensmonat voll stillen und danach langsam auf Flaschenmilch umsteigen", sagt Blümchen. "Und es ist sogar gut, wenn das Kind bereits im ersten Lebensjahr Fisch und auch Weizen zugefüttert bekommt."
Recht wenige eindeutige Fakten hat man darüber, wann dem Kind, ohne das Immunsystem "aufzuregen", zum ersten Mal Hühnerei oder Erdnuss angeboten werden sollten. Doch für die Erdnuss soll sich die Lage im Jahr 2013 klären: Dann werden die Ergebnisse der so genannten LEAP-Studie (von "Learning early about peanut") veröffentlicht, die vor fünf Jahren unter der Leitung des britischen Allergologen Gideon Lack mit 640 Säuglingen gestartet war.
Die zufällig ausgewählte eine Hälfte der Kinder erhielt dabei bereits ab dem vierten Lebensmonat dreimal pro Woche ein erdnusshaltiges Getränk, während die andere Gruppe Erdnüsse nicht vor dem dritten Lebensjahr bekam. Wenn die Kinder fünf Jahre alt sind, also 2011/2012, wird ermittelt, in welcher Gruppe es mehr Erdnussallergiker gibt. Sollten deutliche Unterschiede dabei herauskommen, lassen sich Empfehlungen für oder gegen einen frühen Erdnusskonsum ableiten.
Die Sache mit dem Hühnerei
Für das Hühnerei laufen ähnliche Projekte, deren Ergebnisse ebenfalls in den nächsten Jahren erwartet werden. Eines wisse man auch ohne die noch ausstehenden Studienergebnisse schon: "Eine Mutter braucht keine Panik zu bekommen, wenn das Krabbelkind aus Versehen am Eis des großen Bruders schleckt", beruhigt Imke Reese. Das sei nach jetzigem Wissen eher unbedenklich und erhöhe das Risiko, eine Hühnereiallergie zu bekommen, vermutlich nicht.
Die Sorgen der Eltern sind verständlich. Denn hat sich erst einmal eine allergische Reaktion auf ein oder mehrere Nahrungsmittel eingestellt, lebt es sich nicht mehr unbeschwert. Das Allergen muss strikt gemieden werden. Jeder Kindergeburtstag, jeder Schulausflug wird kompliziert. Sind doch einmal geringe Mengen von Erdnuss oder anderem versteckt, treten Symptome auf, die von leichtem Kribbeln im Mund bis hin zum gefürchteten anaphylaktischen Schock reichen können.
Und offenbar haben immer mehr Familien mit dem Problem zu tun. Nach einer aktuellen Erhebung in den USA reagieren dort acht Prozent der Kinder allergisch auf ein Nahrungsmittel [1]. Andere Angaben schwanken zwischen Anteilen von einem bis sechs Prozent, je nach Land und Alter des Kindes. Für Deutschland sind bisher erstaunlicherweise keine genauen Zahlen bekannt, diese werden derzeit im Rahmen der EuroPrevall-Studie erhoben und sollen demnächst veröffentlicht werden.
Langsame Gewöhnung
Eine ursächliche Korrektur des fehlgesteuerten Immunsystems ist bisher nicht möglich. Doch versucht man gerade in klinischen Tests, die Körperabwehr mit Hilfe einer "Oralen Immuntherapie" (OIT) Stück für Stück an das Allergen zu gewöhnen, damit es dieses im besten Fall ohne großes Aufsehen erduldet. Auch auf Katharina Blümchens Station im Allergie-Centrum-Charité laufen zurzeit solche Studien. "Jeden Tag müssen die Kinder einen Hauch des Allergens über den Mund zu sich nehmen", erzählt die Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin. Nach einer solchen bereits abgeschlossenen Erdnussstudie an 23 Kindern konnten 14 von ihnen nach mehrmonatiger Therapie täglich eine Erdnuss ohne Beschwerden essen [5]. Vier Kinder mussten die Behandlung wegen Nebenwirkungen abbrechen.
Glücklicherweise ist die Toleranz gegenüber Nahrung und harmlosen Umweltmolekülen immer noch eher die Regel als die Ausnahme. Und ein Großteil der Kinder, die früh im Leben allergisch auf Hühnerei oder Kuhmilch reagieren, wird im Lauf des ersten Lebensjahrs ganz ohne Therapie von allein wieder tolerant. Dennoch wird es eine ursächliche Behandlung von (Nahrungsmittel-)Allergien in Zukunft nur geben können, wenn man versteht, wie es überhaupt zu den Turbulenzen kommt: Warum lernt die Körperabwehr bei zunehmend mehr Kindern nicht mehr, gewisse Nahrungsbestandteile zu dulden?
"Die Blickrichtung geht nun weg von der ängstlichen Meidung bestimmter Nahrungsmittel hin zur aktiven Stimulation des kindlichen Immunsystems, um die Toleranzentwicklung zu fördern"Imke ReeseEine Frage, die die Forschung trotz großer Fortschritte in den letzten Jahren noch nicht wirklich beantworten kann. Bestimmte Genkonstellationen spielen eine Rolle, da ist man sich sicher. Kinder von Allergikern etwa haben wesentlich häufiger ebenfalls Allergien als Söhne und Töchter von Nichtallergikern. Ohne Zweifel haben auch die Lebensgewohnheiten einen wichtigen Einfluss auf die Allergieentstehung. Die besondere deutsche Geschichte zeigt das anschaulich: Während Allergietests in Leipzig direkt nach der Maueröffnung lediglich bei jedem fünften Kind positiv ausfielen, war es nur wenige Jahre später bei jedem dritten Sprössling in der ostdeutschen Stadt der Fall [6]. Die Lebens- und Ernährungsgewohnheiten hatten sich geändert und mit ihnen die Allergiebereitschaft. Doch eine Ursache allein, darauf beschränken sich Allergieforscher nicht: Ein bisschen Fast Food, ein bisschen Stress – es gibt viele Faktoren, die für sich allein und in Kombination die Abwehr verwirren können.
Der Bauernhofeffekt
Eine interessante Erklärung für das vermehrte Auftreten von Allergien hat Erika von Mutius von der Ludwig-Maximilians-Universität in München zusammen mit Kollegen aus der Schweiz und Österreich schon vor einigen Jahren in den Ring geworfen – und die Hinweise verdichten sich, dass etwas dran ist an diesem "Bauernhofeffekt" [7]. "Kinder, die auf einem Bauernhof aufwachsen, haben weniger Allergien als andere Land- oder Stadtkinder", sagt von Mutius. Kleine Kinder, aber auch schwangere Frauen sind auf einem Hof das ganze Jahr über einer reichen Mikrobenwelt ausgesetzt, von immunologischem Schutzkokon keine Spur. Auch die Ernährung sei anders als in der Stadt, erzählt von Mutius. Häufig werde etwa Rohmilch vom eigenen Hof getrunken, deren Keim- und Fettgehalt höher liege als derjenige in der Milchpackung vom Discounter.
Gerade die vielfältigen Anregungen, die daher schon das kindliche Immunsystem erhält, dirigieren es nun offenbar weg von einer Allergiebereitschaft. Die Mikrobenfülle stimuliert die erste Abwehrfront, die angeborene Immunabwehr. Ist das Kind zur gleichen Zeit möglichen Allergenen zum ersten Mal ausgesetzt, reagiert die Abwehr ihnen gegenüber verträglich. "Es kommt darauf an, in welchem Zusammenhang ein Allergen der Körperabwehr begegnet", erklärt von Mutius. "Ist es in eine Fülle von Mikroben aus dem Kuhstall eingebunden, schaltet das Immunsystem auf Toleranz" – ein Effekt, der auch noch anhält, wenn die Kinder herangewachsen sind und nicht mehr auf dem Land leben.
Diese Ergebnisse nun für eine Großstadtmama umzusetzen, ist nicht leicht. Imke Reese rät schwangeren und stillenden Frauen, sich vielseitig, mediterran, gemüsebetont zu ernähren und auch auf vollfette Milchprodukte nicht zu verzichten: "Frisch zubereitete Speisen sind für das kindliche Immunsystem, das gerade Toleranz lernt, viel interessanter als Speisen aus der Dose, die zwar hygienisch einwandfrei sind, aber womöglich schon zwei Jahre im Regal gestanden haben." Außerdem müsse jede Mutter der Tatsache ins Auge sehen, dass trotz aller Bemühungen eine Allergie immer entstehen könne. Hilfreich und für ein fröhliches Familienleben in jedem Fall sinnvoll: Bauchgefühl statt unzähliger Ratgeberbücher, Essgenuss statt ängstlichen Verzichts.
Schreiben Sie uns!
1 Beitrag anzeigen