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Sexualität : Das heterosexuelle Selbstbild kann sich ändern

Neben Homo-, Bi- und Heterosexualität gibt es viele weitere Abstufungen. Nach dieser Erkenntnis sehen Heterosexuelle ihre eigene Orientierung in neuem Licht und werden offener für gleichgeschlechtliche Erfahrungen.
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Männer finden ausschließlich Frauen anziehend, Frauen ausschließlich Männer – so lautet die althergebrachte Vorstellung von Heterosexualität. Sie ist simpel, und sie ist falsch. Nicht alle Menschen sind zu 100 Prozent heterosexuell oder zu 100 Prozent homosexuell: Es gibt zahlreiche Varianten dazwischen. Kann diese Erkenntnis auch den Blick auf die eigene sexuelle Orientierung verändern? Psychologen von der University of Sydney sind der Frage mit einem einfachen Experiment nachgegangen.

Wie das Team um James Morandini in der Fachzeitschrift »Scientific Reports« berichtet, warb es in Australien eine repräsentative Stichprobe von 460 heterosexuellen Männern und Frauen an. Sie bekamen unterschiedliche Sachtexte zu lesen: Ein Artikel stellte sexuelle Orientierung als veränderliches Merkmal dar, ein anderer als stabile Eigenschaft; ein dritter Text kategorisierte Menschen in Homo-, Bi- und Heterosexuelle, und ein vierter beschrieb sexuelle Orientierung als Kontinuum (»Jemand kann überwiegend heterosexuell sein, aber zugleich auch ein wenig homosexuell«). Eine Kontrollgruppe las einen Text über Bäume. Danach sollten alle Versuchspersonen ihre sexuelle Orientierung auf einer Skala von 1 (ausschließlich heterosexuell) bis 9 (ausschließlich homosexuell) einschätzen und angeben, wie offen sie für gleichgeschlechtliche sexuelle Kontakte waren.

Nachdem sie den Text über sexuelle Orientierung als Kontinuum gelesen hatten, bezeichneten sich um ein Vielfaches mehr Menschen als nicht ausschließlich heterosexuell (36 Prozent) als nach der Lektüre über Bäume (8 Prozent). Auch das Interesse an gleichgeschlechtlichen Kontakten stieg: von rund 30 Prozent in der Kontrollgruppe auf knapp 50 Prozent. Ein solcher Trend, aber weniger stark, zeigte sich auch, wenn der Text von den drei Kategorien oder der Veränderlichkeit handelte. Offenbar lockerte allein schon die Beschäftigung mit anderen Formen von sexueller Orientierung die Kategorien in den Köpfen. Im Licht neuer Informationen rückten die Menschen – zumindest kurzfristig – von ihrem Schubladendenken ab.

»Haben wir die sexuelle Orientierung verändert? Sicher nicht. Ich denke, wir haben verändert, wie die Menschen ihre zu Grunde liegenden sexuellen Gefühle interpretieren«
James Morandini, University of Sydney

Wie lange der Effekt andauert, ist den Autoren zufolge unklar; dazu bedürfe es weiterer Studien. Die sexuelle Orientierung selbst könne man auf diese Weise nicht ändern, und sie wollten derartige Überlegungen auch nicht unterstützen. »Haben wir die sexuelle Orientierung verändert? Sicher nicht. Ich denke, wir haben verändert, wie die Menschen ihre zu Grunde liegenden sexuellen Gefühle interpretieren«, sagt James Morandini. Wie jemand seine sexuelle Orientierung einschätze, hänge eben nicht nur von seinen Gefühlen und sexuellen Erfahrungen ab, sondern auch von deren Bewertung. Zwei Menschen mit identischen Erfahrungen könnten ihre Orientierung ganz unterschiedlich beurteilen.

Die meisten, die sich als nicht ausschließlich heterosexuell beschreiben, neigten überwiegend dem eigenen Geschlecht zu, berichten die Autoren. Ein bestimmtes Maß an gleichgeschlechtlicher Anziehung könnte aber häufiger sein als angenommen – und weiter zunehmen, wenn der kulturelle Mainstream die sexuelle Orientierung als kontinuierliches Merkmal ansehen würde.

Der Trend bei den Jüngeren geht Richtung Offenheit: Jeder zweite junge Erwachsene bezeichnet sich als nicht zu 100 Prozent heterosexuell, so das Ergebnis einer YouGov-Umfrage in Großbritannien. In der US-Bevölkerung denken weiterhin 42 Prozent in Kategorien: Man sei entweder hetero- oder homosexuell. Den Psychologen um Morandini zufolge steigt damit das Risiko von Vorurteilen gegen Homosexuelle und einer Stigmatisierung von Bisexuellen. Lassen sich Menschen nicht eindeutig in Schubladen stecken, verlieren die mit den Kategorien verbundenen Vorurteile an Bedeutung.

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