Heuschrecken: Achillesferse des Schwarms enttarnt
Eine einzelne Heuschrecke kann wenig anrichten. Bei einem Schwarm sieht das ganz anders aus: An nur einem Tag kann ein solcher dieselbe Menge an Nahrung aufnehmen wie etwa 35 000 Menschen, twitterte die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO).
Was bringt die Tiere eigentlich dazu, sich zu Schwärmen zu vereinigen, die Milliarden Tiere umfassen und sich über tausende Quadratkilometer erstrecken können? Eine mögliche Antwort auf diese Frage hat ein Team um die Zoologen Xianhui Wang und Le Kang von der Chinesischen Akademie der Wissenschaften nun gefunden: eine Chemikalie namens 4-Vinylanisol (4VA). Europäische Wanderheuschrecken (Locusta migratoria), die vor allem in Afrika, Vorder- und Ostasien Schäden in Millionenhöhe verursachen, stellen diesen Stoff offenbar her, sobald sich mehrere von ihnen zusammengefunden haben. Das lockt weitere Exemplare an, wie die Forscher beobachteten. Vielleicht, so schreiben sie in der Fachzeitschrift »Nature«, könnten ihre Erkenntnisse dabei helfen, neue Ansätze zur Vorhersage und Kontrolle von Insektenschwärmen zu entwickeln.
#DidYouKnow? A #locust swarm can eat the same amount of food in one day as about 35,000 people!
— FAO Knowledge (@FAOKnowledge) June 25, 2020
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Heuschrecken-Lockstoff entdeckt
Bei einigen der insgesamt über 28 000 bekannten Heuschreckenarten lassen sich zwei Formen unterscheiden: eine solitäre (einzeln lebende) und eine gregäre (schwarmbildende). Sind die Bedingungen günstig, schließen sich die Larven – Nymphen genannt – schon kurz nach dem Schlüpfen zu großen Schwärmen zusammen. Wegen ihres unterschiedlichen Verhaltens wurden die beiden Formen früher oft für jeweils eigenständige Spezies gehalten. Denn sie unterscheiden sich auch äußerlich: Vertreter der wandernden Form sind in der Regel etwas größer, dunkler gefärbt und haben stärkere Flügel. Das ermöglicht es den Tieren, im Schwarm Hunderte von Kilometern zurückzulegen.
Die Europäische Wanderheuschrecke
Wie ihr Name sagt, war die Europäische Wanderheuschrecke Locusta migratoria früher auch in unseren Breiten heimisch und löste Plagen aus. Bis ins 19. Jahrhundert sind in Europa noch Schwärme nachgewiesen worden. Mit der Entwässerung bestimmter Gebiete, insbesondere der Donau-Auen in Rumänien, haben sich die Bestände stark dezimiert; die Art kommt hier heute kaum noch vor. Dass sie sich hier im Zuge des Klimawandels erneut ausbreitet und zum Schädling entwickelt, gilt als unwahrscheinlich, wenn auch nicht ausgeschlossen.
Schon lange vermuten Insektenforscher, dass hinter dem Phänomen der Schwarmbildung bestimmte Botenstoffe, so genannte Pheromone, stecken. Diese Chemikalien sind ein wichtiges Kommunikationsmittel unter Insekten: Sie helfen ihnen zum Beispiel dabei, einen Geschlechtspartner zu finden, die Harmonie in einer Kolonie aufrechtzuerhalten oder geeignete Stellen für die Eiablage und Nahrungsquellen auszumachen. In vorherigen Studien hatte das Team um Wang und Kang im Körper und Kot von Locusta migratoria bereits 35 leichtflüchtige Stoffe identifiziert. Nun untersuchten sie, welche davon vorwiegend von gregären Exemplaren hergestellt werden. Dabei stießen sie auf 4VA, eine süßlich riechende Substanz, die auch in manchen Pflanzen, zum Beispiel in Rosen, enthalten ist. Heuschrecken, die die Forscher einzeln aufgezogen hatten, stellten den Stoff erst dann her, wenn sie mit vier oder fünf Artgenossen zusammen in einen Käfig gesetzt wurden. Je größer die Gruppe, desto mehr davon produzierten die Heuschrecken. 4VA diene Heuschrecken als so genanntes Aggregationspheromon, schreiben die Autoren.
Nun wollten die Insektenforscher aber gern wissen, welchen Rezeptor die Tiere zur Wahrnehmung des Stoffs nutzen. Die Auswahl ist groß: Mehr als 140 solcher Proteine haben Forscher bei Wanderheuschrecken bereits identifiziert. Um herauszufinden, welches davon 4VA erkennt, griff das Team um Wang und Kang zu einer ausgeklügelten Methode. Es spritzte das Erbgut der wahrscheinlichsten Kandidaten in Eier von Fröschen (Xenopus laevis). Froscheier sind ein beliebtes Modellsystem, denn sie stellen das jeweils gewünschte Protein zuverlässig her. Dann gaben die Wissenschaftler das Pheromon dazu und legten eine äußere Spannung an. Bei den Froscheiern, die einen Rezeptor namens OR35 enthielten, ließ sich eine starke Änderung des Signals feststellen. Daraus schlossen die Forscher, dass die Heuschrecken dieses Protein zur Detektion des Lockstoffs nutzen. Der Verdacht ließ sich durch weitere Experimente bestätigen. So reagierten Heuschrecken, deren OR35-Gen die Forscher mit Hilfe der Genschere CRISPR-Cas manipuliert hatten, nicht mehr auf das Pheromon. Diese Tiere dürften also theoretisch nicht mehr dazu in der Lage sein, Schwärme zu bilden.
Alle anderen Heuschrecken – egal in welchem Entwicklungsstadium, ob allein oder in Gesellschaft, männlich oder weiblich – werden offenbar durch diesen Stoff angezogen, wie die Arbeitsgruppe um Wang und Kang anhand von Verhaltensexperimenten feststellte. Um herauszufinden, ob der Stoff die Tiere auch in freier Wildbahn anzieht, begaben sich die Zoologen in ein Naturreservat im Norden Chinas, südöstlich der Stadt Tianjin. Dieses gehört zum natürlichen Verbreitungsgebiet der Europäischen Wanderheuschrecke. Die Forschenden legten dort klebrige Pappstreifen aus, die sie entweder mit 4VA oder dem ebenfalls süßlich riechendem Dichlormethan besprüht hatten. Nach 24 Stunden kontrollierten sie ihre Fallen und stellten fest: An den pheromonbeschichteten klebten etwas mehr Tiere als an den Kontrollfallen.
Heuschrecke ist nicht gleich Heuschrecke
Zwar ist Locusta migratoria ein weltweit verbreiteter und gefürchteter Schädling. Die Plage 2020 in Ostafrika wurde jedoch durch Schwärme der Wüstenheuschrecke (Schistocerca gregaria) verursacht: Dort kämpften die Menschen gegen die schlimmste Heuschrecken- Invasion, die die Region seit mehr als 25 Jahren erlebt hatte. Das noch immer andauernde Problem wird auf der Website »Locust watch« dokumentiert.
Beide Heuschreckenarten gehören zwar zur selben Familie, es handelt sich aber um unterschiedliche Gattungen. Da beide sowohl in solitärer als auch in gregärer Form vorkommen und in ähnlicher Art und Weise auf Duftstoffe reagieren, spekuliert das Team um Wang und Kang, dass 4VA ebenfalls zum Signalportfolio der Wüstenheuschrecke gehört. Es käme darauf an, ob die Sensitivität für das Pheromon in der Evolutionsgeschichte vor oder nach der Absplittung beider Arten entstanden sei, sagt Axel Hochkirch von der Universität Trier. Der Naturschutzbiologe ist designierter Präsident der internationalen Gesellschaft der Heuschreckenforscher.
In jedem Fall müsste das zunächst getestet werden, sagt Andreas Vilcinskas von der Justus-Liebig-Universität Gießen. Dafür liefere die Arbeit der Forschergruppe eine sehr gute Vorlage, sie sei handwerklich gut gemacht. Vilcinskas ist Professor am Institut für Insektenbiotechnologie und leitet das Gießener Fraunhofer-Institut für Molekularbiologie und Angewandte Ökologie. In Fachkreisen sei schon lange über ein solches Aggregationspheromon bei Heuschrecken spekuliert worden, sagt er. Das Team habe einen heißen Kandidaten entdeckt und sauber gezeigt, dass die Insekten den Stoff tatsächlich riechen können. In der Tat deckten die Arbeiten ein bemerkenswert breites Feld ab, das von der Identifizierung des Pheromons bis hin zur Erzeugung einer Insektenmutante reiche, schreibt die Neurogenetikerin Leslie Vosshall von der Rockefeller University in einem begleitenden Artikel in »Nature«.
Gentechnisch veränderte Insekten werden zwar in einigen Fällen bereits eingesetzt, um die Übertragung bestimmter Krankheiten einzudämmen. Ihre Freilassung in die Umwelt unterliegt jedoch strengen Regularien und ist ethisch umstritten. Zumal unklar ist, ob sich eine solche Mutation in einer Population überhaupt durchsetzen würde und welche Auswirkungen das auf die Ökosysteme hätte.
Vilcinskas tut sich schwer damit, aus den Ergebnissen eine konkrete Anwendung abzuleiten. Vielleicht könne man die Schwärme mit Hilfe des Pheromons »umlenken« oder sie in Fallen locken, um sie dort mit Hilfe von Insektiziden oder biologischen Mitteln zu töten. Damit ließe sich vielleicht der großflächige Einsatz von Mitteln vermeiden, die nicht nur Heuschrecken töten, sondern auch zahlreiche andere Insekten, darunter wichtige Bestäuber. Das Pheromon selbst ist – zumindest für die Heuschrecken – nicht schädlich: Sie tolerierten hohe Konzentrationen davon, erklärt Studienautor Kang. Die anziehende Wirkung des Stoffs halte lange an, und er könne relativ günstig hergestellt werden.
»So etwas kann nur funktionieren, wenn eine Population noch nicht zu groß ist«Axel Hochkirch, Naturschutzbiologe
Die Forscher hätten zwar gezeigt, dass sich mit der Chemikalie Heuschrecken anlocken lassen; die Methode sei bislang aber nur mäßig effizient, schreibt Vosshall. Dieser Meinung ist auch Hochkirch: »So etwas kann nur funktionieren, wenn eine Population noch nicht zu groß ist. Wenn die Plage bereits Ausmaße wie in Ostafrika erreicht hat, ist es dafür viel zu spät.«
Viele Optionen, aber kein Geld
Besser als ein Stoff, der die Tiere dazu bringt, sich zusammenzulagern, wäre wohl einer, der die Schwarmbildung verhindert. Die Gruppe um Wang und Kang schlägt vor, ein Mittel gegen 4VA zu entwickeln. Weil man seinen Rezeptor kennt, könnte man diesen nun benutzen, um Verbindungen zu identifizieren, die ihn blockieren. Diese Möglichkeit hält Vosshall für die spannendste. Doch selbst wenn man einen solchen Stoff findet, steht noch viel Forschungsarbeit bevor. Man müsste gründlich testen, ob die Substanz Auswirkungen auf andere Organismen – zum Beispiel den Menschen – hat. Am Ende sei das »auch wieder nichts anderes als ein Pestizid«, sagt Insektenforscher Hochkirch.
Vielleicht könne man das neue Wissen auch nutzen, um zu überwachen, wo die Tiere sich sammeln, indem man die Konzentration des Pheromons in der Luft misst, spekuliert Vilcinskas. Denkbar wäre ebenso, dass man die Tiere durch das Versprühen des Stoffs dazu bringt, sich schon früher zu kleineren Schwärmen zusammenzuschließen, die besser kontrollierbar sind. Bevor man zu solchen Mitteln greife, müsse man aber sehr genau überlegen, was man da tue, sagt der Biotechnologe. Diese Studie sei noch lange kein Durchbruch.
In Deutschland arbeite niemand an Projekten zur Heuschreckenbekämpfung, denn dafür gebe es kaum Fördergelder. Anders sieht das bei Schädlingen wie etwa dem Maiswurzelbohrer aus, der allein in den USA jährlich Ernteeinbußen von mehr als einer Milliarde Dollar verursacht. Seit Beginn der 1990er Jahre ist er auch in Europa heimisch und schädigt Maisanbauflächen in zunehmendem Maß. Vilcinskas' Team arbeitet unter anderem an unterschiedlichen Sprays, die doppelsträngige RNA enthalten. Über einen Prozess, den Fachleute als RNA-Interferenz bezeichnen, schalten die Erbgutschnipsel bestimmte Gene des Käfers ab, die für ihn überlebenswichtig sind. Eine solche Strategie kann sich Vilcinskas auch für Heuschrecken vorstellen. Dafür würde er allerdings weder Gene wählen, die für die Herstellung von 4VA zuständig sind, noch jene, die die Bauanleitung für seinen Rezeptor liefern. »Da gibt es viel bessere Ansatzpunkte«, sagt der Insektenbiotechnologe.
»Die Optionen wären da, aber das Geld fehlt«, ergänzt er. Große Konzerne hätten kein Interesse an solchen Mitteln. Zumindest noch nicht. Der Klimawandel trage sicherlich dazu bei, dass Heuschreckenschwärme in Zukunft noch häufiger werden, sagt Vilcinskas. Dass die Tiere bis nach Europa fliegen, hält er hingegen für eher unwahrscheinlich.
Am schlimmsten trifft es – wie immer – die Entwicklungsländer. Laut der FAO sind derzeit mehr als 25 Millionen Menschen von Nahrungsmittelknappheit betroffen. Und es werden sicher noch mehr. Die Regierungen und verschiedene Hilfsorganisationen haben zwar zahlreiche Programme gestartet, um die Lage in den Griff zu bekommen, doch leider nur mit begrenztem Erfolg. Schwere Regenfälle haben zwischen März und Mai 2020 zu Überschwemmungen geführt und der nächsten Heuschreckengeneration einen idealen Nährboden bereitet.
(Anm. d. Red.: Der Artikel wurde am 01.02.2024 aktualisiert.)
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